Auch wenn er ihn bei seiner Abreise kaum eines Blickes würdigte, empfand er es bei seiner Rückkehr jedes Mal als sehr angenehm, den Titan von Braavos vor sich aufragen zu sehen. In seinem recht turbulenten Leben lieferten die Monate, die er in Braavos verbrachte, eine gewisse Ruhe, um sich auf den nächsten Auftrag vorzubereiten.
Diesmal war das Bedürfnis nach etwas Ruhe ganz besonders stark, denn auf dem Rückweg war kein Tag vergangen, an dem er nicht über Quaithes Worte nachgedacht hatte. Sie liessen sich einfach nicht aus seinem Kopf vertreiben. Wie auch, auf einem Schiff, auf dem es für ihn kaum etwas zu tun gab?
Er betrat den Tempel und da es draussen bereits dämmrig war, brauchten seine Augen nicht lange, um sich an die Dunkelheit hier drin zu gewöhnen. Er erwischte sich auch gleich dabei, wie er nach einer ganz bestimmten Person Ausschau hielt. Doch Arya war nicht zu sehen, einzig die Priesterin, die gerade einige heruntergebrannte Kerzen austauschte. „Wir hätten dich nicht so früh zurück erwartet.“
„Es gab nicht mehr viel zu tun, als ein Mann ihn fand, war Tychyllo Vorsay schon fast tot.“ Tatsächlich hatte er gerade noch beobachten können, wie eine Messerstecherei ihm einen Grossteil der Arbeit abnahm. Sein Gegner hatte Tychyllo halb tot liegen gelassen, er hatte sein Ableben lediglich noch etwas vorangetrieben.
„Ein Mann hatte noch keine Zeit, sich umzuhören. Welche Neuigkeiten gibt es?“ Dadurch, dass manchmal Wochen vergingen, bis man wieder an Land kam, waren die Neuigkeiten auf einem Schiff oft sehr begrenzt. Und hörte man tatsächlich welche, stimmte oft nur die Hälfte von dem, was die Leute von sich gaben.
„In Braavos ist nichts Nennenswertes passiert, aber in Westeros hat sich vieles getan.“ Nachdem sie die letzte Kerze ausgetauscht und angezündet hatte, gingen sie gemeinsam zum Becken hinüber. „Im Moment sitzt Cersei Lannister auf dem Thron. Sie hat die Septe von Baelor mit dem hohen Spatz und ihrer Schwiegertochter dem Seefeuer übergeben.“ Er hatte bereits gehört, dass Robert Baratheons Witwe skrupellos war, doch das hätte er nicht erwartet. Ausserdem glaubte er nicht, dass dies endgültig war, es gab zu viele Leute, die diesen Thron wollten.
„Und was ist mit Daenerys Targaryen?“
„Sie hat sich mit den Dothraki und ihren Drachen auf den Weg nach Westeros gemacht. Mehr wissen wir zurzeit noch nicht.“ Es hatte eine Zeit gegeben, in der der Krieg mit seinen verhärteten Fronten sich kaum verändert hatte und nun schien sich in dem einen Jahr, in dem er kaum Nachrichten erhalten hatte, alles geändert zu haben.
„Auch der Norden macht sich wieder für den Kampf bereit.“ Von allen Neuigkeiten überraschte diese ihn am meisten. Der Norden gehörte zu jenen Königsländern, welche im Krieg die grössten Verluste hatte hinnehmen müssen. Er hätte nicht geglaubt, dass es nach der roten Hochzeit noch jemanden gab, der genug Mut fand um sich zu erheben.
„Roose Bolton?“ Obwohl er eigentlich keinen Grund dazu hatte. Durch seinen Verrat hatte er es geschafft den Norden in seine Gewalt zu bringen, der eiserne Thron schien nie wirklich sein Ziel gewesen zu sein. Zumindest nicht, wenn man ihren Informationen glauben konnte.
„Nein, Bolton wurde von seinem Bastard ermordet. Jon Schnee ist nun der neue König des Nordens. Es gibt viele Gerüchte, wie er die Nachtwache verlassen hat. Das Einzige was wir mit Sicherheit wissen ist, dass er mit Wildlingen gegen Ramsay Bolton gekämpft hat.“ Es mochte in Westeros viele Jons geben, doch ihm war sofort klar, um wen es hier ging. Und er näherte er sich auch der Frage, die ihm eigentlich schon seit seiner Rückkehr auf der Zunge brannte.
„Und seine Schwester?“
„Nun, eine ist bei ihm in Winterfell, die andere zerstört wohl den grössten Teil unserer Vorräte bei dem Versuch, ein einfaches Gift zu mischen.“ Alleine, dass sie Arya überhaupt an die Kräuter heran liess, bewies, dass es nicht allzu schlimm sein konnte. Dennoch machte er sich auf den Weg in die Gewölbe, um sich selbst ein Bild davon zu machen.
Eines musste man ihr lassen, sie war bei ihrer Arbeit sehr konzentriert. Mit Handschuhen und Mundschutz vermischte sie Wunderbaum-Pulver mit Wasser zu einer Paste. Auch er blieb noch auf Sicherheitsabstand, denn dieses Pulver, welches jeweils noch mit einigen anderen Pflanzen verstärkt wurde, war bereits beim Einatmen tödlich. Die Paste selbst war allerdings nutzlos, das verriet ihm das leichte Blubbern unter dem kleinen Topf, denn die Paste wurde während dem Mischen immer leicht erhitzt. Erhitzt, nicht gekocht.
„Das ist keine Suppe. Die Kräuter schmecken viel zu stark, wenn man sie aufkocht.“ Sie wandte sich um, offensichtlich überrascht, aber nicht erschreckt durch sein plötzliches Auftauchen. Er war nicht minder überrascht, sie hatte sich im letzten Jahr sehr verändert. Erwachsen war sie vielleicht noch nicht ganz, aber auf dem besten Weg dazu. Und sie war immer noch da, worüber er sich alles andere als sicher gewesen war.
Mit einem Seufzen legte sie die Zutaten beiseite und sah ihn fragend an. „Sind sie immer noch brauchbar oder muss ich von vorne beginnen?“ Er nahm sich einen Mundschutz und trat neben sie, um sich die Paste etwas genauer zu besehen. Die Kräuter waren zwar zu heiss geworden, aber nicht verbrannt. Dadurch hatten sie ihre Wirkung zwar nicht verloren, schmeckten aber stärker, wodurch sich der Geruch weniger gut verdecken liess. „In sehr starken Gerichten und in geringer Menge sollte es sich noch verwenden lassen, besonders gut ist die Arbeit aber nicht.“ Seine Stimme war nicht sonderlich tadelnd, gelegentlich passierten solche Missgeschicke nämlich sogar einem von ihnen. Ausserdem hatte er nicht das Gefühl, dass es ihm nach seinem Fehler bei ihrer letzten Begegnung zustand, wegen solch einer Bagatelle Ärger zu machen.
Während sie gesprochen hatte, hatte er sie beobachtet. Ihrem Kiefer war nichts mehr anzusehen, also war er wohl wirklich nur ausgerenkt gewesen.
„Wer bist du?“
„Niemand.“ Sie sah ihm direkt in die Augen, dort konnte er die Lüge nicht erkennen. In ihrer Körperspannung hingegen schon. Sie selbst merkte wohl gar nicht, dass sie sich leicht verkrampft hatte. „Lüge.“ Ja, sie log immer noch nicht besonders gut, aber wenn er sie mit damals verglich, als sie hierhergekommen war, war doch ein Fortschritt zu erkennen.
„Weiss ein Mädchen, dass der Norden wieder in der Hand ihrer Familie ist?“ Sie schwieg, nun war ihr Blick nicht mehr so ausdruckslos, jetzt konnte er wieder fast alles darin sehen. Dass sie es sehr wohl wusste, dass sie wohl auch Sehnsucht nach ihrer Familie hatte… Was er nicht sehen konnte war, warum sie dennoch blieb. Gejagt oder nicht, hätte Arya wirklich zurückkehren wollen, hätte sie dies auch getan. Für ihn war es auch nicht weiter wichtig, warum sie blieb, an ihm lag es nun, ihre Ausbildung weiter voranzutreiben.
Ohne eine Antwort von ihr zu erwarten - diese hatte er bereits – ging er zu einem der Schränke und nahm eine kleine Ampulle aus einem Fach. Dann verliess er das Kellergewölbe und folgte dem Geruch nach gebratenem Fisch, bis er die Küche erreichte.
Umma warf ihm einen kurzen Blick zu und hob fragend eine Augenbraue. Er holte das kleine Gefäss hervor und reichte es ihr. Sie entkorkte die Ampulle geschickt, roch kurz daran und nickte verstehend. Neben der Heimatlosen hatte Umma das wohl grösste Wissen über Pflanzen, zumindest hatte es gereicht, um ihren früheren Ehemann loszuwerden, mit dem sie als junge Frau gegen ihren Willen verheiratet worden war.
„Da du es mir gibst, nehme ich nicht an, dass sie weiss, was sie erwartet?“
„Nein.“ Diesmal war es nicht so, dass er sie als Strafe nicht informierte, er wollte nur sehen, ob sie das Gift aus dem Essen herausschmeckte. Denn bis am folgenden Tag würde sie sowohl ihr Gehör, als auch ihre Stimme eingebüsst haben.
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Zuerst war sie sich nicht sicher gewesen, ob es Einbildung war, oder ob Umma irgendein neues Gewürz ausprobiert hatte. Doch ihr Gefühl und die beiden Jahre hier, liessen sie etwas Schlimmeres erahnen.
Mit einem unguten Gefühl fegte sie den Boden, aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie Jaqen, der sich mit einem jungen Mann unterhielt. Im Gegensatz zu den meisten anderen die den Tempel betraten, verliess er ihn wieder, ohne das Geschenk entgegen genommen zu haben, womit Jaqen sehr zufrieden zu sein schien. Denn dass er gegangen war hiess, dass er sich seiner Entscheidung sein Leben zu beenden nicht sicher gewesen war und war das Gift erstmal genommen, liess es sich nicht mehr rückgängig machen. Dennoch waren ihre Gedanken gerade eher bei einer anderen Angelegenheit.
„Was war da im Abendessen?“, fragte sie ohne Umschweife. Angst um ihr Leben hatte sie nicht, aber ein reges Interesse daran zu wissen, womit man sie nun wieder vergiftet hatte.
„Ambrosie. Sie löst eine Entzündung der Höhrgänge aus, für den Hals gilt dasselbe. Birkenblätter verhindern das Fieber, das im Normalfall auftritt.“ Sie hatte gewusst, dass das kommen würde. Er hatte ihr ja bereits ausführlich erklärt, dass man ihr mit der Zeit alles nehmen würde, was sie als Arya Stark ausmachte. Somit schien dies nun ein weiterer Teil ihrer Ausbildung zu sein, sie wusste aber noch nicht wirklich, ob sie sich darauf freuen sollte oder nicht. Aber diesmal wusste sie wenigstens, was sie erwartete und nun war ihr auch klar, dass das Kratzen in ihrem Hals und die leichten Kopfschmerzen keine Erkältung ankündigten.
„Hat sich ein Mädchen an unsere Abmachung gehalten?“ Ihr war klar, wovon er sprach.
„Ja. Aber die Wolfsträume kann ich nicht verhindern.“ Manchmal gelang es ihr zwar, sich loszureissen, aber meistens wollte sie das gar nicht. Sie mochte es, den Schnee unter ihren Pfoten zu fühlen, zu rennen, zu jagen.
„Ist es immer nur die Wölfin?“ Arya nickte. Ausser wenn sie sich auf ein bestimmtes Tier konzentrierte, landete sie immer in Nymerias Körper. Mehr schien Jaqen nicht wissen zu wollen. Also beendete sie ihre Arbeit und legte sich dann früher als gewöhnlich hin, besonders wohl fühlte sie sich nicht.
Als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wurde sie von dem leichten Pochen in ihrem Schädel an den weiteren Teil ihrer Ausbildung erinnert. Sie erhob sich langsam, als sie ihre Robe über ihr Gesicht zog, drang kein Geräusch an ihre Ohren und sie seufzte- sehr wahrscheinlich lautlos.
Das Frühstück war seltsam. Zuerst hatte sie geglaubt, taub zu sein wäre weniger schlimm als blind zu sein, aber wenn sie auf ihre Schüssel hinabblickte, konnte sie nicht mal erahnen, was die anderen am Tisch taten. Und den Gesprächen konnte sie nicht folgen, auch dann nicht, wenn sie sich auf die Bewegungen der Lippen konzentrierte. Besonders irritierend war es bei Mojo, der sein übliches schelmisches Grinsen auf dem Gesicht trug und es hätte Arya nicht im Mindesten gewundert, wenn er irgendeinen Mist erzählt hätte, um sich einen Spass daraus zu machen, dass Arya ihn nicht verstand. Allerdings empfand sie Mojos Gegenwart ohnehin als verwirrend, sie war mehr als überrascht gewesen, als sie herausgefunden hatte, dass es sich bei dem Rekruten der Stadtwache um einen Akolythen handelte, mit dem sie seit mehr als zwei Jahren unter demselben Dach gelebt hatte. Er trug war nicht mehr dasselbe Gesicht, aber nun da sie wusste, wer er war- oder zumindest eine seiner Identitäten kennengelernt hatte- versuchte sie sich oft, mit seinen Fähigkeiten zu messen, nur um festzustellen, dass eineinhalb Jahre Training mehr einen verdammt grossen Unterschied machten.
Nach dem Frühstück reichte Jaqen ihr ein Buch und wies sie mit ein paar Zeichen an, einige Seiten daraus zu lesen. Wie sie feststellen sollte, ging es ums Kämpfen. Besser gesagt, an welchen Punkten man einen Gegner besonders schnell ausser Gefecht setzen konnte.
Zu Beginn gab es aber dutzende Seiten, in denen nur der Körper und die Wirkung der Schläge beschrieben wurde, das meiste davon überflog sie nachlässig, bis sie zu einem Schlag kam, der ihr sehr interessant erschien. Wenn man mit dem Handballen jemanden richtig an der Nase traf, konnte man dem Gegner unter Umständen Knochensplitter ins Hirn jagen und ihn damit umbringen. Weiter kam sie jedoch nicht, denn Jaqen zog ihr das Buch bereits wieder weg.
Er deutete auf seine Schulter und sie sah ihn skeptisch an. Der erste Schlag im Buch beschrieb, wie man einen Arm taub machte, in dem man einen bestimmten Nerv an der Schulter abklemmte. Auf dem Bild war aufgezeichnet gewesen, wie die Blutbahnen, Muskeln und eben auch Nerven unter der Haut verliefen, viel damit anfangen konnte sie trotzdem nicht. Vieles davon hatte sie sowieso übersprungen. Aber offensichtlich wurde von ihr erwartet, dass sie es versuchte und so presste sie die Fingerkuppen ihres Zeige- und Mittelfingers an den Punkt, von dem sie glaubte, dass er im Buch beschrieben war. Jaqen zuckte nicht mal zusammen. Unbeeindruckt hob er den Arm, der nun eigentlich taub sein sollte und tat dasselbe mit ihrer Schulter, doch im Gegensatz zu ihm konnte sie ihren Arm nun tatsächlich nicht mehr heben, er fühlte sich so an wie eingeschlafene Füsse, wenn man zu lange gekniet war. Danach warteten sie, nach einigen Minuten begann ihr Arm dann zu kribbeln und schien langsam wieder aufzuwachen. Sie schluckte leer und dachte an einige der anderen Schläge, von denen sie an diesem Morgen gelesen hatte und hoffte, nicht alle davon auf diese Weise üben zu müssen.
Wie sich herausstellen sollte, blieben sie an diesem Tag bei diesem einen Schlag, noch vier Mal versuchte sie es bei Jaqen und noch viermal wurde ihr Arm betäubt. Ab dem dritten Mal hatte sie versucht zu sehen, wo seine Finger sie trafen und wie sich das anfühlte, damit sie abschätzen konnte, wo sie bei Jaqen das nächste Mal hinzielen musste. Irgendwann hörte er dann auf und versuchte ihr zu erklären, worin ihr Fehler bestanden hatte. Sie verstand kaum ein Wort, glaubte aber der Erklärung zu entnehmen, dass sie zu lasch zuschlug. Als sie es dann nochmal mit mehr Kraft versuchte, verstauchte sie sich den Zeigefinger.
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Es gab Nächte, in denen sie versuchte, Nymerias Schritte in eine bestimmte Richtung zu lenken. Diese hier gehörte nicht dazu. Sie liess der Wölfin freien Lauf und damit auch ihren Gedanken.
Wie fast immer befand sich der Grossteil ihres Rudels in dem Gebiet, dass die Menschen Flusslande nannten. Wölfe kannten keine Namen, doch die Leitwölfin wusste, dass sie sich weiter südlich befanden, als ihre eigentliche Heimat lag.
Irgendwann mussten sie aber weiter ziehen, ihre Beute wurde immer weniger und ihr Rudel wuchs schnell. Obwohl die Menschen vieles taten um sie zu verjagen, hielte sie sich oft in der Nähe von Dörfern auf. Heute allerdings jagte die Leitwölfin einmal mehr im Wald. Sicher, auch die Tiere waren vorsichtiger geworden, doch ihr Hunger führte sie zuverlässig und als sie die Witterung eines Rehes aufnahm, gab es für sie kein Halten mehr.
Die Bäume verschwammen in ihrem Blickfeld, als sie an ihnen vorüberschoss. Der Mond war dünn und hinter Wolken versteckt, doch ihre Nase wies ihr den Weg besser als ihre Augen es je gekonnt hätten und als sie das Jungtier erreicht hatte, reichte ein einziger Biss in den Hals um es zu erlegen. Offensichtlich waren auch die anderen Tiere von der Kälte überrascht worden, denn das Reh war mager.
Sie liess dennoch einen Teil des Fleisches übrig, damit auch die Jungtiere ihres Rudels zu etwas Nahrung kamen. Ohne die Jungtiere konnte ihr Rudel nicht fortbestehen.
Sie hatte sich gerade umgewandt um zu sehen, ob sich andere Wölfe in der Nähe befanden, als ihr ein neuer Geruch in die Nase stieg. Feuer. Menschen. Es waren nicht viele, das konnte sie riechen. Wenn sie ein paar der anderen aus ihrem Rudel herbeirief, wäre es sicherlich ein Leichtes, sich Nahrung zu beschaffen. Während sie sich jedoch umwandte um ein Heulen auszustossen, nahm sie plötzlich einen weiteren Geruch wahr, der sie irritierte. Es roch nach einem toten Menschen. War jemand aus dem Rudel ihr zuvorgekommen? Langsam setzte sie sich in Bewegung und es dauerte nicht lange, bis ein Feuerschimmer sichtbar wurde. Sie duckte sich und machte noch ein paar Schritte. Dann sah sie etwas, dass sie noch nie zuvor gesehen hatte. Denn die Frau, von der der Geruch nach totem Menschen kam, lebte noch.
Der lautlose Schrei, den sie um ein Haar ausgestossen hätte, blieb ihr im Hals stecken. Derweil versuchte ihr Herz wieder einen langsameren Rhythmus anzuschlagen - erfolglos. Sie setzte sich aufrecht hin und versuchte sich während sie den Schweiss von ihrer Stirn wischte einzureden, dass sie sich täuschte. Versuchte sich klar zu machen, dass dieses Ding am Lagerfeuer nicht ihre Mutter gewesen war.
Aber schon nach kurzer Zeit hielt sie es nicht mehr aus. Ohne zu zögern schlug sie die Decke zurück, tauschte ihr Schlafgewand gegen die Robe und schlich sich aus dem Tempel. Es war ihr egal ob sie wieder für etwas beschuldigt wurde, sie brauchte einfach frische Luft. Die Gemäuer, die Stille, die Dunkelheit... Das alles schien sie auf einmal zu erdrücken.
Sie nahm tiefe Atemzüge, dennoch hatte sich der Mond um ein gutes Stück verschoben, bis sie es schaffte, ihre Gedanken etwas zu ordnen. Dieses Ding hatte ausgesehen wie eine Leiche. So gerochen wie eine Leiche. Und dennoch war es ihre Mutter gewesen, eine tiefe Furche in der Kehle, die mit Thoros von Myr, Beric Dondarion und Anguy am Feuer gesessen hatte. Irgendwie konnte sie nicht glauben, dass Thoros das getan hatte, aber wer sollte es sonst gewesen sein? Und wenn es denn so war, so stand auch er ab diesem Abend auf ihrer Liste. Sie hatte ihre Mutter über alles geliebt, doch das Ding war nicht ihre Mutter. Die Priester hatten ihr so oft beizubringen versucht, dass der Tod auch eine Gnade war, doch so wirklich begriffen hatte sie diese Worte nicht, jedenfalls nicht bis zu jener Nacht.
Es dauerte noch eine geraume Zeit, bis sie wieder in ihre Zelle ging, sich auf ihr Bett setzte und den Morgen abwartete. Ihr war von vorne herein klar, dass jegliche Chance auf Schlaf in dieser Nacht vertan war und in Nymerias Körper landen wollte sie auf keinen Fall nochmal. Selbst das Fegen des Bodens wäre ihr in jenem Moment wie eine willkommene Abwechslung erschienen, denn nun blieb ihr nichts anderes übrig, als sich den Rest der Nacht mit ihren düsteren Gedanken und den noch viel düstereren Bildern die darauf folgte herumzuschlagen.
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Wie immer, wenn sie nicht ausserhalb des Tempels etwas zu tun hatte, fand sie sich nach dem Frühstück im Übungsraum ein. Heute sogar etwas früher, als sie es im Normalfall getan hätte. Allerdings schwieg Jaqen und gab ihr auch keine Anweisungen mit Zeichen. Er wartete. Und sie war erst nicht gewillt ihm auf seine unausgesprochene Frage zu antworten, aber vielleicht konnte er ihr ja einige ihrer Sorgen nehmen, ihr sagen, dass es so etwas nicht gab. Sie formulierte die Worte langsam und hoffte, dass er verstand, was sie meinte, denn da kein Laut ihre Lippen verliess, konnte er bei ihr auch nicht mehr tun als Lippen lesen.
„In Westeros hat Thoros von Myr Beric Dondarion sechsmal wieder zum Leben erweckt. Er hat aber gesagt, das gehe nur, wenn die Person noch nicht lange tot ist.“ Sie wusste nicht recht, wie sie fortfahren sollte, denn die Frage, die sie gleich stellen würde, gehörte zu Arya Stark.
„Was hat ein Mädchen gesehen?“ Diesmal war sie sich ziemlich sicher dabei, was die Bewegungen seiner Lippen bedeuteten, denn er wusste ja nun schon längere Zeit über ihre Wolfsträume Bescheid und es gab keine anderen Worte, die ähnlich ausgesehen hätten.
„Meine Mutter.“ Zum ersten Mal seit zwei Wochen war sie froh, keine Stimme mehr zu haben, denn diese hätte zweifelsohne gezittert. Jahrelang hatte sie sich gewünscht, ihre Familie zurück zu haben, aber nicht auf diese Weise.
Zuerst wirkte er nachdenklich, doch dann erschien ein Ausdruck in seinem Blick, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Sorge. Sie hatte zwar geahnt, dass es nicht nur ein Traum gewesen war, aber der Funken an Hoffnung war geblieben. Jetzt bist du schon wie Sansa, höhnte ihre innere Stimme. Obwohl ihr deren Fähigkeit, alles in einem positiven Licht zu sehen, im Moment sicher nicht geschadet hätte.
„Normalerweise gehen die Diener R'hllors sorgsam mit dieser Gabe um.“ Danach schwieg er wieder und Arya war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, doch dann sah er sie auf einmal wieder direkt an. Er sprach langsam, schien sicher gehen zu wollen, dass sie alles begriff.
„Ein Mädchen versteht hoffentlich, dass es keine Gnade ist so zurückzukehren.“ Sie nickte schnell und alleine beim Gedanken an den Anblick ihrer Mutter breitete sich wieder eine Gänsehaut auf ihren Armen aus. Nein, das was sie in der letzten Nacht gesehen hatte, hatte gar nichts mit Gnade zu tun. Allerdings wäre es auch nie so weit gekommen, wenn die Rote Hochzeit nicht stattgefunden hätte. Und dieser Gedanke führte sie unweigerlich wieder zu Walder Frey.
Das war auch der Moment in dem Jaqen wieder mit dem Training begann, als würde er ahnen, dass ihre Gedanken in eine unerwünschte Richtung abzudriften drohten.
Nach diesem Gespräch war sie zwar nicht wirklich erleichtert, dennoch war sie froh, ihren Sorgen Ausdruck verliehen- und dafür keinen Ärger bekommen zu haben. Dennoch schien es, als hätte es Einfluss auf ihre Ausbildung, denn von nun an kam sie kaum noch zum Schlafen.
Nicht nur, dass sie wie gewohnt ihre Übungen im Nahkampf fortsetzte, sie arbeitete manchmal auch bis tief in die Nacht, wusch Tote, kontrollierte Gifte und Kräuter, von denen sie wusste, dass sie schon von der Heimatlosen kontrolliert worden waren. Manchmal gab es auch Tage, in denen sie erschöpft einschlief, nur um wenig später wieder geweckt zu werden um wieder das Lügen zu üben – oder ein nächtliches Nahkampftraining. Dabei war es längst nicht immer Jaqen, der sie trainierte. Die Heimatlose trug ebenfalls ihren Teil dazu bei und auch wenn Arya am Ende jedes Tages fast alle Muskeln und Knochen, die sie gelernt hatte, an ihrem Körper einzeln hätte abzählen können, so hatte sie doch das Gefühl, Fortschritte zu machen und zwar nicht nur im Kämpfen oder Lügen.
Ihre Augen schienen sich tatsächlich leicht geschärft zu haben, jedenfalls wenn es um das dämmrige Innere des Tempels ging. Und auch das Lippenlesen fiel ihr mit der Zeit immer leichter. Ihr gesamter Körper war von grünen und blauen Flecken überzogen, doch diese bemerkte sie in der Zwischenzeit kaum noch.
Zu Beginn dachte sie sich noch nicht wirklich viel dabei, wenn sie wieder mit Arbeiten überschüttet wurde. Doch nach einigen Wochen beschlich sie der leise Verdacht, dass Jaqen so versuchte, sie vom Träumen abzuhalten. Sie beklagte sich aber nicht. Vielleicht war sie ihm sogar ein wenig dankbar dafür, denn sie war tatsächlich so erschöpft, dass sie gar keine Gelegenheit hatte zu träumen.
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In langsamen Bewegungen liess sie den nassen Wischmobb über den Steinboden gleiten und achtete darauf, nicht in die Urinpfütze zu treten. Das Gift – auch wenn sie bis heute nicht wusste, welches das es war – wirkte bei jedem etwas anders. In diesem Fall hatte sich die Blase sogar etwas vor dem Tod entleert. Vielleicht war es auch die Angst gewesen.
Ein leichter Windhauch in ihrem Gesicht verriet ihr, dass das Tor zum Tempel aufgestossen wurde. Zuerst sah sie nur flüchtig zum Neuankömmling, doch dann blieb ihr Blick an ihr hängen, denn die Frau wirkte keinesfalls als hätte sie vor, das Geschenk zu erbitten. Ebenso wenig wirkte sie, als wäre sie eine von ihnen – zumal sie neben der Heimatlosen bisher erst eine Frau ohne Gesicht gesehen hatte, bei einem der Treffen, einige Monate zuvor.
Sie konnte gerade so erkennen, was die Frau sagte. Ihrer Körpersprache nach zu urteilen war sie eindeutig wütend, sprach sehr schnell und offensichtlich mit starkem Akzent. Es schien um ihren toten Ehemann zu gehen, was Arya erst verwirrte, da sie davon ausging, dass die Frau wohl froh darüber sein sollte, ihn los zu sein. Erst nach ein paar weiteren Minuten – es war eine ziemlich lange Schimpftirade – wurde ihr klar, dass sie Frau den Tod ihres Mannes wohl nicht gewollt hatte.
Der gütige Mann, der erst gestern von seinem Auftrag zurückgekehrt war, schien sie beschwichtigen zu wollen. Er hatte Arya den Rücken zugewandt, doch seine Körpersprache vermittelte die gewohnte Ruhe. Die Frau liess sich davon aber nicht im geringsten anstecken zu lassen, als sie alles gesagt hatte, was sie wohl hatte loswerden wollen, machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus.
Schnell machte Arya mit ihrer Arbeit weiter und versuchte sich einen Reim aus dem Ganzen zu machen. Ein paar dunkle Haarsträhnen hatten das Gesicht der Frau etwas verdeckt, was es noch schwieriger gemacht hatte, alles zu erkennen, aber aus irgendeinem Grund schien sie überzeugt davon gewesen zu sein, dass jemand von hier hinter dem Mord steckte. Vielleicht hatte ja jemand anderes den Auftrag gegeben, aber da fragte sie sich doch, wie sie hinter den wahren Mörder gekommen war. Die Männer ohne Gesicht waren für ihre Diskretion bekannt.
Der Fleck war nun beseitigt und das Abendessen schon lange her, bevor sie aber überhaupt daran denken konnte schlafen zu gehen, musste sie noch alle Waffen zählen und die Qualität der Klingen kontrollieren. Eine schlechte Klinge führt zu einem schlechten Ergebnis. Diese Lektion hatte sie nicht hier, sondern von Izembaro gelernt, denn wenn es etwas gab, auf das der Wachmeister geachtet hatte, war es die Qualität seiner Waffen.
Von den über dreissig Waffen, die sie in der Zwischenzeit kontrolliert hatte, wirkten gerademal zwei genug abgenutzt, um sie vorerst auszurangieren.
Da ihre Glieder ohnehin schon schmerzten, musste sie nach einer Weile aufstehen und den Rücken durchstrecken. Dabei fiel ihr Mojo auf - diesmal trug er ein anderes Gesicht, aber sie hatte gelernt, ihn an seinen langen Schritten zu erkennen - der soeben ein Kurzschwert an seinen Platz zurücklegte. Zuerst dachte sie sich nichts weiter dabei, denn als sich ihre Blicke kreuzten, zeigte er ihr sein typisches schelmisches Grinsen, doch dieses wirkte etwas nervöser als sonst. Etwas in ihrem Unterbewusstsein regte sich, doch konnte sie nicht genau sagen, was es war.
Dann wandte sie sich aber doch wieder ihrer Arbeit zu. Träume hin oder her, auch sie brauchte hin und wieder etwas Schlaf und je eher sie hiermit fertig war, desto schneller bekam sie ihn.
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Das Tor zum Tempel war gerade erst hinter Arya zugefallen, als der andere Priester auf ihn zukam. Seit seinem letzten Auftrag humpelte er etwas und sein Gesicht wirkte besorgt. Er hatte ihm von dem Zwischenfall am gestrigen Abend erzählt. Der Mord an dem Kaufmann war keiner ihrer Aufträge, das hatte er überprüft. Dennoch beharrte die Frau darauf gesehen zu haben, dass der Mörder sein Aussehen gewechselt hatte.
„Du warst es, der mit ihr gesprochen hat. Glaubst du sie lügt?“
„Ich wüsste nicht, warum sie das tun sollte. Sie war wütend und aufgewühlt, ausserdem schien sie sich ihrer Sache ziemlich sicher. Und der Mörder war geschickt.“ Wieder schwiegen sie, denn war alles so wie es den Anschein machte, hatte jemand von ihnen aus eigenen Interessen gehandelt. Und er konnte mit vollkommener Sicherheit sagen, dass es nicht Arya war. Zum einen, weil die Frau – nun eine Witwe – zweifelsfrei einen Mann hatte ausmachen können, zum anderen, weil sie keinen Grund dazu gehabt hätte. Fragte sich nur, wer es war und warum er das tat. Obwohl es dafür eigentlich lediglich zwei Gründe gab. Entweder aus persönlicher Rache, oder aber des Geldes wegen.
Es ging hier nicht nur um den Toten, sondern auch darum, dass die Gesichtslosen Männer an Ansehen verloren. Dieser Tempel bestand schon seit Jahrhunderten und sie liessen ihre Opfer nie wissen, wer der Mörder gewesen war. Das war es ja, was sie ausmachte, warum sie solch horrende Preise verlangen konnten. Wenn es also kein persönlicher Grund war, gab es einen Auftraggeber.
„Ein Mann macht sich auf die Suche nach Antworten.“ Der andere Priester nickte, der besorgte Ausdruck wich aber nicht.
„Da gibt es noch etwas. Einer unserer Leute, der sich in der eisernen Bank von Braavos umhört, hat einige Westerosi gesehen. Er weiss zwar nicht weshalb sie hier sind, doch mit ihren Schulden scheint es nichts zu tun zu haben.“
„Und du glaubst es hat etwas mit einem Mädchen zu tun?“ Er konnte sich kaum vorstellen, dass es hier um Trant ging, das war einfach viel zu lange her um jetzt noch Wellen zu werfen. Ausserdem gab es auch in Braavos viele Westerosi.
„Sie tragen das Wappen der Lannisters. Und sie scheinen auf etwas zu warten.“ Noch immer konnte er sich nicht vorstellen, woher die Königin wissen sollte, dass Arya hier war, doch nun wuchs auch seine Sorge. Er glaubte nicht, dass sie selbst etwas damit zu tun hatte, wünschte sich aber doch, er hätte sie fragen können. Ausserdem trug sie im Moment ihr eigenes Gesicht, er hatte sie losgeschickt, um auf dem Markt ein paar Dinge zu besorgen und sich nach Neuigkeiten umzuhören.
Sie hatte sich das letzte halbe Jahr über wirklich gut geschlagen und er ging nicht davon aus, dass sie noch weiteren Nutzen aus ihrer Einschränkung hätte ziehen können. Also hatte er Umma aufgetragen, die Mischung aus Ambrosie und Birkenblätter von nun an aus ihrem Abendessen wegzulassen, weshalb ihr Höhrsinn und ihre Stimme nun langsam wieder zurückkehrten. Im Gegensatz zu dem Gift, das ihr die Sicht genommen hatte, dauerte es beim Trommelfell etwas länger, bis es sich endgültig erholt hatte. Was auch hiess, dass sie von hinten noch immer leichter anzugreifen war, denn sie Schwachstelle hatten sie trotz des Trainings noch nicht völlig ausmerzen können.
Er kehrte mit seinen Gedanken wieder in die Gegenwart zurück, als die Priesterin sich zu ihnen gesellte und sogar noch besorgter wirkte als sie beide zusammen. Ausserdem schien sie etwas zu suchen.
„Habt ihr ihn gesehen?“ Sie meinte wohl den Akolythen, für den sie seit etwas mehr als fünf Jahren zuständig war. Eigentlich hatte er bisher nie irgendwelche Probleme gemacht, weshalb er auch kurz vor seiner letzten Prüfung stand. Umso mehr wunderte ihn nun dieser Umstand. Ein Verdacht begann in ihm aufzukeimen, doch sie nahm ihnen die Frage ab.
„Gestern Abend war er nicht hier, obwohl er keinen Auftrag hatte.“
„Und er ist nicht zurückgekommen?“
„Doch, ich habe ihn am späten Abend noch gesehen. Doch jetzt ist er schon wieder weg.“ Sie sagten nichts, dachten aber alle zweifellos dasselbe. Es gab Zufälle, aber das hier war keiner.
Er erstarrte. Auf einmal machte alles Sinn - woher sollte die Königin wissen, dass Arya noch lebte, wenn nicht von hier? Arya war klug und längst geschickt genug um mit ein paar Wachen fertig zu werden, aber der andere Akolyth war ihr um mehrere Jahre voraus. Ohne zu zögern machte er sich auf den Weg.
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Anmerkung zu den Stichworten:
Das Stichwort "Grün und Blau" ist im Englischen als "Black and Blue" aufgeführt, allerdings ist gemäss Forum dies hier die bessere Übersetzung als "Schwarz und Blau" (kurzum, es bedeutet nichts anderes als blaue Flecken).
Das Stichwort "Hormunculi" soll etwas wie ein "künstlicher Mensch" bedeuten und ich fand, Zombie-Catelyn trifft auf diese Bezeichnung nicht schlecht zu. Aber wie bei jeder Interpretation ist es Geschmackssache, ich selbst fand es in Bezug auf Game of Thrones jedoch am passendsten.