Es war seltsam, nach all den Jahren wieder hier zu sein. Sein Bauchgefühl riet ihm zwar noch immer zur Flucht, dennoch beobachtete er seine Umgebung auch mit einem gewissen Interesse. Alles wirkte unverändert. Die Strassen kamen ihm bekannt vor und der dunkle Stein schien das wenige Licht des schwindenden Tages nach wie vor in sich aufzunehmen- und nichts davon wieder abzugeben. Was nicht hiess, dass es stockfinster war, noch war es Tag und in den dunkleren Nebenstrassen brannten sogar einige Laternen.
Die Gegend, in der er sich zurzeit befand, war ein Wohn- und Handelsgebiet. Wer ungestört sein wollte, begab sich an den Stadtrand. Viele der Hexenmeister erachteten es jedoch nicht als nötig, ihre Magie im Verborgenen auszuüben, denn an Magie war hier nichts verwerflich. Nicht, so lange keine anderen Menschen dadurch zu Schaden kamen und genau das war der Grund, warum er diesen Ort zu hassen gelernt hatte. Denn die stärksten unter den Hexenmeistern, waren meist auch diejenigen ohne Skrupel.
Das beste Beispiel hierfür war sein Auftrag. Zweifellos war derjenige, der den Auftrag vor ihm inne gehabt hatte, längst nicht mehr am Leben. Bestimmt rechnete ihr Opfer bereits mit dem nächsten Mordversuch. Er konnte nicht einfach so nach ihm Ausschau halten, wie er es bei den meisten anderen Aufträgen tat. Er musste sich langsam herantasten, weshalb er an diesem Abend lediglich im inneren der Stadt blieb. Um die Zeit dennoch sinnvoll zu nutzen, ging er in einige Geschäfte und besah sich die dortigen Waren.
Er hatte an diesem Morgen seine Waffen und Gifte kontrolliert und dabei festgestellt, dass eines der Gifte sich nicht gehalten hatte. Es konnte viele Gründe dafür geben, ein Korken, der nicht fest genug sass, eine winzige Unaufmerksamkeit bei der Verarbeitung… Für ihn war es nicht weiter wichtig, er war nur froh, dies jetzt bemerkt zu haben und nicht erst dann, wenn er es brauchte.
Neben Kräutern und Tinkturen gab es in dem Geschäft auch Amulette, die vor allerlei Dingen schützen sollten, in erster Linie aber überteuerte Schmuckstücke waren. Niemand der längere Zeit hier verbracht hatte glaubte daran, aber ein paar unwissende Händler oder Matrosen liessen sich damit immer wieder Geld aus der Tasche ziehen.
Das Einzige was sein Interesse weckte, war ein Dolch, dessen Klinge schwarz war. Er hob die Waffe hoch, sie war um einiges leichter als Waffen aus Stahl. Er berührte die Klinge nicht, musterte sie aber eingehend. «Obsidian.» Dem Aussehen nach war der Mann hinter der Theke ein Asshai´i.
Er sah nochmal hin und erkannte, dass es sich tatsächlich um Drachenglas handelte. Die Waffe war so fein verarbeitet, dass er die Maserungen nicht sofort gesehen hatte.
Obwohl ihm die Waffe durchaus gefiel, legte er sie wieder zurück. Natürlich wurde ihre Waffenkammer laufend erweitert, aber diese Waffe wäre eher etwas fürs Auge als für die Präzision gewesen. Ein so leichter Dolch liess sich bei einem Wurf vom leichtesten Windhauch aus der Bahn bringen. Ausserdem besass der Tempel seiner Schätzung nach mindestens hundertsiebzig Dolche.
«Eine solche Waffe werdet Ihr so schnell nicht wieder finden. Die Klinge ist lange nicht so zerbrechlich, wie sie aussieht.» Dessen war er sich durchaus bewusst. Ebenso war er sich bewusst, dass der Händler in der Handelssprache mit ihm sprach, wahrscheinlich, weil er ihn für einen Durchreisenden hielt. Womit er nicht ganz Unrecht hatte.
«Valyrischer Stahl ist ebenfalls widerstandsfähig und kostet nicht die Hälfte.» Er hatte absichtlich in der Sprache Asshais geantwortet und der Händler machte ein nachdenkliches Gesicht. Die Asshai`i waren ein stolzes Volk und wenn man als Fremder eine Chance haben wollte ernsthaft mit ihnen zu verhandeln, tat man gut daran, in ihrer Sprache mit ihnen zu sprechen.
«Nun», entgegnete der Händler, «vielleicht lässt sich beim Preis etwas machen.» Er wollte gerade ablehnen und das Geschäft verlassen, als ihm eine Idee kam. «Ein Mann hält mehr von Wissen, als von Waffen. Wann findet das nächste Treffen statt?» Diese Frage hätte er Quaithe gerne gestellt, doch auch wenn sie ihm in Bezug auf Arya half, war er sich alles andere als sicher, ob sie ihm hierüber die Wahrheit sagen würde. Früher oder später fand er es ohnehin heraus, aber wenn sich schon eine solche Gelegenheit bot, liess er sich diese lieber nicht entgehen.
«Was für eine Art von Treffen meint Ihr?» Sein Gegenüber wusste genau was er meinte und er wiederum wusste, dass man eigentlich nicht laut darüber sprach.
Viele Leute glaubten, dass selbst Schattenbinder sich davor fürchteten, die Stadt Stygai zu betreten. Viel eher war es so, dass sie es nur selten taten- und nur sehr wenige von ihnen. In dieser Stadt- besser gesagt der Ruine, die von der einstigen Stadt übrig war, wurden nur jene Zauber ausgeführt, die innerhalb von Asshai zu riskant waren. Zauber, die ein Leben, das schon längst vorbei sein sollte, weiter verlängerten. Er wollte Noridos El-Ostaan vor diesem Ritual aus dem Weg schaffen, denn danach, wenn er neue Kraft geschöpft hatte, war es nur umso schwieriger. Es war ein offenes Geheimnis, da nicht nur Hexenmeister, sondern teils auch die Priester R´hollors daran teilnahmen und irgendwie sickerte es immer durch, spätestens dann, wenn wieder auffallend viele Menschen- vorzugsweise Kinder- zu verschwinden begannen.
Ein weiterer Kunde betrat das Geschäft und der Händler wandte sich mit einem letzten, abschätzenden Blick ab. «Bald.»
Mit zügigen Schritten näherte er sich dem Anwesen. Es war nun über einen Tag her, seit Arya sich mit Quaithe getroffen hatte und weder gestern Abend, noch heute Morgen war sie in ihren Räumen gewesen. Als er diesmal an ihre Tür klopfte, erwartete er deshalb schon fast, wieder keine Antwort zu erhalten. Aber zu seiner Überraschung erklang nur kurz darauf ein mürrisches «Herein».
Er vertraute Quaithe soweit, dass sie Arya nicht mutwillig schadete, aber er wusste auch, dass ihre Lernmethoden ebenso anstrengend waren wie diejenigen im Haus von Schwarz und Weiss- und m einiges gefährlicher. Daher war er eher erleichtert als verärgert, als er sah, dass Arya Reisekleidung trug. Sie schlug tatsächlich jede Warnung in den Wind. Bei genauerem Hinsehen erkannte er aber, dass es immer noch die Kleider vom gestrigen Tag waren- und die Art wie sie auf dem Bett sass wirkte nicht so, als wollte sie an diesem Tag noch irgendwo hingehen. Ihm reichte es eigentlich schon zu sehen, dass sie wieder zurück war und er wollte sie nicht weiter behelligen. Trotzdem war ihm klar, dass sie früher oder später die Stadt sehen wollte, ob mit- oder ohne ihn.
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Früh am nächsten Morgen machte er sich zu Fuss auf den Weg. Er hätte sich auch ein Pferd leihen können, doch die waren einem nur so lange von Nutzen, bis man das Mondgras erreichte. Und davon gab es reichglich.
Er hatte den Stadtrand schon seit Stunden hinter sich gelassen und folgte dem Trampelpfad, der an vielen Stellen schon völlig überwuchert war. Die einzige Möglichkeit sich zu orientieren, boten die verschiedenen Bergspitzen, an welchen er abschätzen konnte, in welche Richtung er ging. Die Ruine lag im Tal der Schatten und das Zeitfenster, in dem man die Sonne sehen konnte, war auf kaum zwei Stunden bemessen.
Mit jedem Schritt den er tat, riet ihm sein Unterbewusstsein, auf der Stelle kehrt zu machen. Aber das hier war die beste Möglichkeit um herauszufinden, wie viel Zeit ihm für seinen Auftrag noch blieb. Und wenn er mit sich ehrlich sein wollte, wollte er sich auch beweisen, dass dieser Ort keine Macht mehr über ihn hatte.
Die Ruine bot eine Art Insel inmitten des Mondgrases, denn selbst zwischen den eingefallenen Mauern wuchs kein einziger Grashalm. Es war totenstill, bis auf ihn war keine Menschenseele hier. Zumindest keine lebende. Sämtliche Knochen waren entweder vergraben worden oder zu Asche verbrannt. Doch die nächsten würden bald folgen, wie ihm mit einem Blick klar wurde. Es befand sich Holz hier, viel Holz. Frisches Holz, das sicherlich erst vor wenigen Tagen hierhergebracht worden war. Noch lag es unordentlich Verteilt, doch entstanden in Kürze dutzende Scheiterhaufen daraus. Er fluchte innerlich, denn wenn es eines gab, dass er sich hier nicht leisten konnte, war es übereiltes Handeln. Fragte sich also, was das kleinere Übel war: Sofort zu handeln und es zu riskieren zu scheitern, oder abzuwarten, sicher zu gehen und dafür einem noch mächtigeren Gegner entgegen zu treten. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er keine Ahnung, was er tun sollte.
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Sie hatte zwar leichte Kopfschmerzen als sie die Augen aufschlug, gleichzeitig war sie aber zufrieden. Diesmal befanden sie sich auf einem kleinen Balkon. Ohne den Abendschatten waren Aryas Sinne zu schwach gewesen, um den Vogel durch die Mauern des Gebäudes zu erfassen. Also hatte sie sich auf den Balkon gestellt und abgewartet, bis eines der Tiere in ihr Sichtfeld kam. Die Aufgabe war klar gewesen, sie sollte sich in das Tier versetzen, in seinem Körper bis zum Stadtrand fliegen und sich dann wieder zurückziehen. Es hatte auf Anhieb funktioniert. Danach hatte sie dasselbe nochmal tun müssen, mit dem Unterschied, dass sie den Vogel dazu bewegen sollte, seinen Kurs zu ändern- und auch das hatte funktioniert.
«Es ist gut, seinen Fähigkeiten zu vertrauen, aber in diesem Fall rate ich dir zur Vorsicht. Zu viel Vertrauen macht nachlässig.» Sie standen eine Weile da und sie wollte Quaithes Schweigen nutzen, um einige ihrer zahlreichen Fragen zu stellen.
«Eine. Du kannst mir genau eine Frage stellen. Also wähle sie klug.»
«Woher kennst du Jaqen?» «Von früher.» Sie wartete, aber die Schattenbinderin schien nichts hinzufügen zu wollen. Ärger begann in ihr hoch zu kriechen. Sie war kein Kind mehr und trotzdem schien sie von niemandem hier ernstgenommen zu werden.
«Du hast gesagt ich kann dir eine Frage stellen!»
«Das habe ich. Du hast sie gestellt, ich habe sie beantwortet.» Arya ballte ihre Hände zur Faust und verliess den Balkon. Sie hatte genug davon, dass jeder ihr ständig auswich. Sie würde sich nun ein eigenes Bild davon machen, wie es in dieser Stadt zu und her ging. Auch die Königsstrasse in Westeros galt als gefährlich und auf dieser war sie schon als Kind unterwegs gewesen.
Es tat gut, sich die Beine zu vertreten. Mittlerweile war die Umgebung für sie nicht mehr so einschüchternd wie sie es noch drei Tage zuvor gewesen war. Die Berge waren noch immer imposant und alles wirkte düsterer als in Braavos, Lyss oder Lorath, doch die anderen Menschen auf der Strasse verliehen ihr ein gewisses Gefühl von Sicherheit.
Quaithe war die erste und einzige Person aus dieser Stadt, mit der sie bisher Kontakt gehabt hatte. Und da sie die gemeine Zunge beherrschte, wurde ihr erst jetzt bewusst, dass Asshai eine ganz andere Sprache hatte. Sie brauchte die Sprache aber auch nicht zu sprechen, egal was für ein Auftrag es war, den Jaqen hatte, er schien sie nicht dabei haben zu wollen. Ausserdem glaubte sie nicht, in ihrem Leben nochmal hierher zu kommen, das hier war im wortwörtlichen Sinne das östliche Ende der Welt.
Sie versuchte sich jede Abzweigung zu merken die sie nahm, musste aber schnell einsehen, dass dies ein sinnloses Unterfangen war. Zugeben, dass sie sich verlaufen hatte, wollte sie aber umso weniger, also nahm sie eine Abzweigung nach der anderen, wobei ihr immer weniger Menschen entgegenkamen
Umso auffällig war es, als sie ein Geräusch vernahm. Zuerst glaubte sie, es müsse sich um eine grosse Ratte handeln, denn es hörte sich an wie ein verängstigtes Quieken. Erst als sich ein Schluchzer hineinmischte wurde ihr klar, dass es eine menschliche Stimme war, zweifellos ein Kind.
Sie trat in die Gasse, aus der sie das Geräusch vernommen hatte, den Schaft ihres Dolches fest umklammert.
Es war ein Mädchen, schätzungsweise fünf Jahre alt. Wimmernd kauerte es in der Ecke der Sackgasse und sah Arya mit einer Panik an, die sie bis ins Innerste erschütterte. Das war nicht die Angst vor einem anderen Kind oder die Angst davor Ärger zu bekommen, dieses Kind fürchtete um sein Leben. Sie wandte sich um, doch konnte Arya niemanden entdecken.
Ohne sich dem Mädchen noch einen Schritt zu nähern, kniete sie sich auf den Boden.
«Ich bin Arry», versuchte sie es in der Handelssprache. «Und du?» Wie zu erwarten bekam sie keine Antwort. Die Kleine war nicht mehr ganz so ausser Atem, war aber ebenso verstört wie zuvor. Das hier gefiel ihr nicht und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr wurde ihr bewusst, dass dieses Mädchen das erste Kind war, das sie in dieser Stadt zu Gesicht bekam. Sie wollte lieber gar nicht erst daran denken.
Der Himmel begann dunkler zu werden und sie musste sich eingestehen, dass sie lieber nicht hier draussen sein wollte, sobald es stockfinstere Nacht war. Dasselbe galt bestimmt auch für das Kind. Also erhob sie sich und streckte schweigend die Hand aus.
Lange passierte nichts und das Mädchen starrte die Hand an, als würde sie sich daran verbrennen, wenn sie sie berührte.
Es wurde immer dunkler und irgendwann schien sie Arya wohl als weniger furchteinflössend als den Rest ihrer Umgebung zu empfinden, denn sie erhob sich und machte einen Schritt auf sie zu, jedoch ohne ihre Hand zu ergreifen. Arya ging los, blickte sich aber immer wieder um, um sich zu vergewissern, dass das Kind ihr folgte. Zuerst tat es das auch, aber als Arya sich noch einmal umdrehte bemerkte sie, dass das Mädchen stehen geblieben war und unschlüssig wirkte. Der Blick passte nicht wirklich zu einer Fünfjährigen und Arya, der das alles langsam gar nicht mehr geheuer war, schnappte sich das Kind und rannte los.
Den ganzen Weg über hatte sie das Gefühl verfolgt zu werden, zu gleich war ihr aber auch klar, dass da niemand war. Ansatzweise sicher fühlte sie sich erst, als sie das Tor des Anwesens hinter sich zu schlug. Erst jetzt zeigte das Mädchen auf ihrem Arm eine Reaktion und begann bitterlich zu weinen. Arya, die abgesehen von ihren jüngeren Brüdern früher keine Erfahrungen mit kleinen Kindern hatte, wusste sich nicht anders zu helfen, als das Kind an sich zu pressen.
«Das war nicht sehr klug.» Quaithe kam die Treppe hinunter und besah sich das Kind.
«Ich habe ihre Eltern nirgendwo gesehen.»
«Konntest du auch nicht, sie hat keine mehr. Deshalb wurde sie ausgewählt.» Quaithes Betonung gefiel ihr überhaupt nicht. «Wofür ausgewählt?» Sie erhielt keine Antwort auf ihre Frage. Sie dachte daran, dass es keine Kinder gab, an Jaqens Widerwillen diesem Ort gegenüber. Auf einmal wurde ihr Übel. «Ihr bringt diese Kinder um, nicht wahr?»
«Opfern trifft es eher. Und nicht alle von uns folgen diesem Brauch.» Arya machte einen Schritt zurück, wäre am liebsten wieder aus der Tür verschwunden. «Wozu?!» Sie presste das Mädchen noch fester an sich, doch die Kleine weinte daraufhin nur noch heftiger, weshalb sie den Griff etwas lockerte.
«Es wäre klüger gewesen, wenn du sie vorher eingeweiht hättest.» Quaithe sprach zu jemandem der hinter ihr stand und sie fuhr herum, sie hatte nicht gehört, wie Jaqen den Raum betreten hatte. Er starrte sie und das Mädchen auf ihren Armen an, sein sonst schon müder Blick verdunkelte sich nur noch.
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Das Mädchen sah unsicher zwischen ihnen hin und her, während es auf Aryas Bett sass. Quaithe hatte angeboten sich vorerst um sie zu kümmern, aber Arya liess das Kind nicht aus den Augen und er konnte es ihr nicht verdenken.
Er hatte sie nur deshalb in Unwissenheit gelassen, weil sie ihre ganze Aufmerksamkeit für die Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten brauchte- und damit sie ihm bei dem Auftrag nicht in die Quere kam, doch dafür war es nun zu spät.
«Also. Habe ich das gerade richtig verstanden, die Hexenmeister kaufen Waisenkinder aus freien Städten zusammen, um sie umzubringen und so ihr Leben zu verlängern? Und keiner stört sich daran?»
«Doch. Deshalb finden diese Riten im Geheimen statt. Ausserdem kann ein Einzelner nichts dagegen ausrichten.»
«Würden diese Hurensöhne aufhören Kinder zu verkaufen schon.» Er schüttelte den Kopf. «Dann würden sie sich die Kinder eben anders beschaffen.» Sie raufte sich die Haare, während sie weiter auf und ab ging.
«Und warum hast du mir bis jetzt nicht davon erzählt?»
«Weil ein Mann wusste, wie ein Mädchen reagieren würde. Die Hexenmeister sollten nicht schon im Voraus auf uns aufmerksam werden.»
«Wenn sie auf jemanden aufmerksam geworden sind, dann auf mich. Mit dir und deinem Auftrag hat das nicht das Geringste zu tun.» Wenn es doch nur so wäre… Er bereute es, sich in Braavos nicht mehr gesträubt zu haben. Er hätte sie dort lassen müssen.
«Wer auch immer dieses Kind gekauft hat, wird danach suchen und versuchen, es sich zurückzuholen. Wäre ein Mädchen bereit, dieses Kind auszuliefern?» Ihr Blick war Antwort genug. Hätten sie das Kind jetzt nach draussen gebracht, wäre es vielleicht noch möglich gewesen, Aryas Beteiligung daran zu vertuschen. Doch der Gedanke daran widerte ihn an, obwohl es die simpelste Lösung war.
«Und was nun?»
«Ein Mädchen wird das nächste Schiff nehmen, das von hier ablegt und nach Braavos zurückkehren. Ein Mann wird den Auftrag beenden und dann folgen.»
«Weisst du, hin und wieder höre ich auch mal zu.» Arya war endlich stehen geblieben und sah ihn an. «Bei einem der Treffen zu Neumond hat die Heimatlose erwähnt, dass es immer noch keine Neuigkeiten aus Asshai gibt. Das heisst also er ist nicht zurückgekehrt. Woher weisst du, dass es dir anders ergeht? Ich werde nirgendwo hingehen.» Er war sprachlos, weshalb sie ungehindert fortfuhr.
«Quaithe hat gesagt, geübte Leibwechsler können sogar Menschen übernehmen. Ich weiss, dass ich nicht geübt bin, aber vielleicht reicht es ja, um ihn so lange abzulenken, damit du ihn irgendwie umbringen kannst. Wie ist deine Sache.»
«Nein.» Ihm war es schleierhaft, wie sie auf diese Idee gekommen war, doch mehr als eine Idee war es nicht. Eine schlecht durchdachte noch dazu. «Geübte Magier haben eine Barriere, die sie gegen einen solchen Angriff schützen, ein Mädchen würde ihn nicht ablenken, sondern warnen.»
«Weisst du das, oder glaubst du das? Dann erklär mich doch, wie du es sonst anstellen willst.» Er war sehr darum bemüht, seine Fassung zu wahren, doch Arya stellte ihn einmal mehr auf eine harte Probe. Sie schien wirklich nur dann zu lernen, wenn sie es mit eigenen Augen sah, also konzentrierte er sich und beschwor eine Erinnerung vor seinem geistigen Auge.
Mehrere dutzend Kinder, die sich schreiend gegen ihre Fesseln wehrten, während sich die Flammen durch ihre Leiber frassen.
Sobald er das Bild in seiner ganzen Schrecklichkeit vor sich hatte, begann er damit, es auf Arya auszuweiten. Sie keuchte erschrocken auf, doch er war noch nicht fertig mit ihr. Er liess den Moment so weit fortschreiten, bis von den Kindern nicht mehr als Asche übrig war.
Lange Zeit sprach keiner von ihnen. «Ich weiss, dass du mich wegschicken willst damit ich nicht zu Schaden komme. Aber wenn du nicht zurückkehrst, werden sie wieder jemanden herschicken. Wie viele von euch lassen sie hier sterben, bevor ihr den Auftrag aufgebt?» Sie wirkte nicht mehr wütend, sondern gefasst- und entschlossen. Schlimmer noch, sie hatte Recht.
«Selbst wenn wir diesen Plan in Erwägung ziehen, einem Mädchen bleibt keine Zeit mehr, um sich vorzubereiten.» «Sind wir mal ehrlich, darauf wäre nicht mal dann vorbereitet, wenn mir ein Jahr Zeit bliebe.» Es kam äusserst selten vor, dass Arya sich ihre eigenen Grenzen eingestand- nur war er sich in diesem Fall nicht sicher ob das ein gutes, oder ein schlechtes Zeichen war.
Es brauchte viele Stunden gutes Zureden in fünf verschiedenen Sprachen, bis er herausfand, dass das Mädchen aus Yi Ti stammte. Den Namen fand er nicht heraus, aber das war auch wenig wunderlich, manche Waisenkinder besassen nicht mal einen.
Die Frage, wer genau sie gekauft hatte, konnte sie nicht beantworten, sie hatte die Erwachsenen nur flüchtig gesehen, weil sie sich hinter den grösseren Kindern versteckt hatte. An diesem Punkt hörte er auf zu fragen. Das vorbereitete Holz liess darauf schliessen, dass es schon am morgigen Abend soweit sein konnte. Sie hatten keine Zeit mehr.
Er warf einen Blick über seine Schulter, wo Quaithe und Arya warteten. Er wandte sich an erstere. «Was siehst du?»
«Nichts. Und genau das bereitet mir sorgen. Er weiss, dass ihr kommt und verschleiert seine Absichten. Ihr lockt ihn in keine Falle, ihr lauft in die seine.» Das Gefühl hatte er auch, doch etwas anderes blieb ihnen nun kaum noch übrig.
«Aber wenn er weiss, dass wir kommen, weiss er doch bestimmt auch, dass du uns hilfst.» Während Arya sprach, begann sie, wieder im Raum auf und ab zu tigern.
«Oh nein, meine Unterstützung endet hier. Solltet ihr den morgigen Tag überleben, kann ich euch gerne weiterhelfen, aber das ist nicht mein Kampf.»
~~~
Wenn sie ihrem Zeitgefühl vertrauen konnte, war es bereits früher Morgen, als das Mädchen mit dem Kopf auf ihrem Schoss einschlief. Während sie sich an die Wand hinter ihrem Bett lehnte, hatte Jaqen sich an dem kleinen Schreibtisch niedergelassen und verfasste einen Brief.
«Was wird das?» Er antwortete nicht, bis er den Brief beendet hatte und zusammenfaltete.
«Wenn wir scheitern, müssen die anderen in Braavos wissen, was sie erwartet.» Obwohl sie sich mit der Tatsache, keine richtigen Antworten auf ihre Fragen zu bekommen arrangiert hatte, konnte sie es nicht bleiben lassen, weiterhin welche zu stellen.
«Also bist du auch ein Leibwechsler?»
«Nein. Es gibt nicht nur Leibwechsler oder Schattenbinder, es gibt viel mehr Arten von Magie oder kleineren Gaben.»
«Kleinere? Damit könntest du jemanden in den Wahnsinn treiben.» Nun wusste sie zumindest, wie er es geschafft hatte, sie all die Gesichter sehen zu lassen. Darunter ihr eigenes.
«Die Reichweite der Kraft ist sehr begrenzt, es funktioniert nicht bei mehr als einer Person.» Sie dachte an die Flammen- und die Gestalten um das Feuer herum. Einige von ihnen hatten einen roten Mantel getragen, wie sie ihn bereits einmal gesehen hatte und diese Frau war ihr nicht minder verhasst als der Rest dieser Bestien.
«Kennst du eine Frau Namens Melisandre?» Es war nur kurz, ein kleiner Augenblick, aber er offenbarte Arya etwas, was sie an Jaqen noch nie zuvor gesehen hatte. Blanker Hass. Sie nahm dies als Zustimmung.
«Als du uns damals befreit hast, waren wir zu dritt. Einer der beiden, der Schmied… Melisandre hatte einen Befehl von Stannis Baratheon und hat ihn mitgenommen. Glaubst du sie hat mit ihm dasselbe getan?» Er seufzte.
«Ein Mädchen sollte sich keine Hoffnungen machen. Wenn Melisandre ihn mitgenommen hat, sie ihre Gründe gehabt haben und die sind niemals gut.» Dennoch blieb für Arya die Frage, woher Jaqen das alles so klar wusste. Die Bilder in ihrem Kopf hätte er sich auch ausdenken können, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es sich um eine Erinnerung handelte. Also musste er etwas mit den Hexenmeistern und Feuerpriestern zu tun gehabt haben. Sie versuchte, nicht zu genau daran zu denken, denn dann hätte sie sich fragen müssen, was er wohl alles getan hatte, bevor er ins Haus von Schwarz und Weiss gekommen war.
Keiner von ihnen hatte in dieser Nacht ein Auge zugetan. Sie wollten es beide hinter sich bringen, ein paar Stunden Schlaf mehr oder weniger fielen nun auch nicht mehr ins Gewicht.
Die letzten Häuser der Stadt lagen gerade erst hinter ihnen, als sich eine Gestalt in der Dunkelheit abzeichnete.
«Er versucht nicht mal, sich zu verbergen.» Normalerweise hatte Arya keinerlei Probleme damit, einen Gegner frontal anzugreifen, doch in diesem Fall war es ihr unangenehm, dass sie beobachtet wurden. Diese Art von Kampf der sie nun erwartete, war ihr völlig neu und ihr Körper blieb ungeschützt zurück. Ohne den Abendschatten war es ihr selbst bei Tieren fast unmöglich, ohne Sichtkontakt in deren Körper einzudringen- Nymeria war da offensichtlich wirklich eine Ausnahme.
Sie waren stehen geblieben, ebenso wie ihr Gegner, dessen Gesicht sie im morgendlichen Dunst immer noch nicht erkennen konnte. Dennoch konzentrierte sie sich auf die Gestalt, machte sich aber darauf gefasst, ihn nicht sofort unter Kontrolle zu bringen. Wenn sein Schutz wirklich so gut war wie Jaqen vermutete, war es fraglich, ob sie es überhaupt schaffte.
Umso erstaunter war sie, als es ihr auf Anhieb gelang. Das war auch der Moment in dem sie erkannte, dass etwas nicht stimmte. Augenblicklich versuchte sie, wieder in ihren eigenen Körper zurück zu gelangen, doch es war, als hätte jemand eine Tür zugeschlagen. Sie sass fest. Du willst schon wieder zurück? Beim Klang seiner Stimme wollte sie zusammenzucken, doch es bewegte sich kein Muskel. Sie versuchte den Arm des Mannes zu heben, aber sie konnte nicht mal blinzeln. Sie hatte seinen Körper nicht in ihrer Gewalt, sondern er ihren Geist. Nun, du scheinst schnell zu begreifen. Es schien etwas an ihr zu zerren und sie spürte, wie sein Mund ein Lächeln formte.
«Sie sollte mich also ablenken? Wirklich schwach. Eine etwas grössere Herausforderung habe ich mir schon erhofft.» Er trat einige Schritte näher an Jaqen heran, doch dessen Gesicht verriet mit keinerlei Regung, dass er sich fürchtete oder ärgerte. Es war der kühle und berechnende Blick eines Mannes, der schon sehr viele Leben genommen hatte und sein nächstes Opfer ansah. Allerdings machte er keine Anstalten, Noridos anzugreifen.
Ah, ich verstehe, sinnierte der Hexenmeister, als spräche er mit sich selbst. Aber natürlich wollte er, dass sie das mitbekam, das spürte ihr Geist selbst in diesem gefangenen zustand. Das ist ja wirklich herzallerliebst. Weisst du warum er sich zurückhält? Sie ging nicht darauf ein, sondern versuchte irgendwie die Kontrolle zu gewinnen. Er weiss, dass du hier drin bist. Wenn er meinen Körper tötet, werde ich dich mit mir in die Tiefe reissen. Sie ahnte, dass er die Wahrheit sprach. Sie wollte Jaqen zurufen, dass er keine Rücksicht nehmen durfte, aber natürlich konnte sie das nicht. Dieses Mal schien Noridos ihr jedoch aus freien Stücken zu gehorchen. «Sie lässt ausrichten, du sollst dich nicht zurückhalten. Wirklich selbstlos.» Sie hoffte darauf, dass er irgendwann einen Fehler machte, nur so kurz, dass sie es schaffte, eine Lücke zu finden und in ihren eigenen Körper zurück zu gelangen. Die Idee ist eigentlich gar nicht so schlecht. Du könntest sogar noch nützlich werden.
Und mit einem Mal fand sie sich am Boden hinter Jaqen wieder, der Hexenmeister unverändert am selben Ort. Sie wollte sich aufrappeln, konnte aber nicht mal den kleinen Finger bewegen. Na, nichts überstürzen, wir wollen ihn ja nicht gleich auf uns aufmerksam machen. Sie sah, dass der Hexenmeister grinste. Wie konnte er zur selben Zeit zwei Körper kontrolliere? Jahrhunderte lange Übung. Aber ich verstehe, dass du dich hier etwas gelangweilt fühlst. Lass es uns beenden. Ohne es zu wollen, erhob sie sich, ihre Hand glitt zu dem Messer an ihrem Gürtel. Sie musste an Mojo und seinen Angriff denken. An den verwirrten Ausdruck in seinem Gesicht. Ja, es war das einzige Mal, dass ich wirklich von ihm Besitz ergriffen habe. Den Rest habe ich ihm nur eingeflüstert, habe ihn dazu gebracht, es selbst zu wollen. Aber als es darauf ankam, war er dann doch zu schwach.
Warum? Es war das erste Mal, dass sie ihm direkt antwortete. Doch langsam verliess sie die Geduld. Sie kannte dieses Monster nicht mal, warum also hegte er einen Groll gegen sie? Was brachte es ihm, sie an die Königin zu verraten? Oh glaube mir, das war nichts Persönliches. Aber es macht keinen Sinn dir meine Beweggründe zu erklären. Sie werden für dich bald nicht mehr von Bedeutung sein. Sie hob das Messer und wollte einen Warnruf ausstossen- erfolglos. Das einzige, was sie zu Stande brachte, war ein Keuchen. Das reichte aber aus, damit Jaqen noch gerade rechtzeitig herumfuhr und den Hieb mit seinem Arm abblockte. Danach duckte er sich weg, um dem Schlag des Hexenmeisters auszuweichen, der gegen sein Genick gezielt hatte. Es war das erste Mal, dass sie Jaqen nicht nur als Lehrer, sondern in einem richtigen Kampf erlebte und sie konnte nur erahnten, wie viele Jahre diszipliniertes Training dahinterstecken mussten.
Er hatte es nicht nur mit einem, sondern mit zwei Gegnern zu tun. Noridos schaffte es tatsächlich irgendwie die Kontrolle über ihren- und seinen Körper gleichzeitig aufrecht zu erhalten und beide griffen gezielt an. Aber Jaqen schaffte es jedes Mal rechtzeitig auszuweichen und begann kurz darauf, selbst einige Angriffe auszuführen, wenn auch bisher ohne Waffen. Obwohl er sich mit zwei Gegnern herumschlagen musste, war der Kampf zu Beginn ausgeglichen. Er führte immer wieder Schläge und Tritte aus, schickte den Hexenmeister sogar mit einem Tritt gegen dessen Brustkorb zu Boden, doch der erhob sich noch in selben Moment, als hätte er nicht das geringste gespürt.
Nach einer Weile merkte Arya, wie die unsichtbaren Fesseln um ihren Geist sich etwas zu lockern begannen, doch noch liess sie es sich nicht anmerken. Offensichtlich bereitete es Noridos trotz seiner unglaublichen Konzentration Mühe, die Kontrolle auf längere Sich aufrecht zu erhalten.
Erst als sie merkte, dass auch Jaqen seine Probleme damit bekam, zwei Angreifer zugleich abzuwehren, versuchte sie mit ganzer Kraft, ihren Körper zum Stillstand zu bewegen. Es gelang ihr nur für einen Augenblick, danach hatte Noridos sie wieder fest im Griff. Doch dieser Moment genügte, damit Jaqen sich seitlich an sie heranpirschen und ihr einen Schlag in den Rücken versetzen konnte, der ihre Beine zusammenknicken liess.
Sie spürte, wie Noridos´ Kontrolle weiter nachliess und ahnte warum. Ihr Körper war ihm nun nicht mehr von Nutzen, weshalb er sich wieder auf seinen eigenen konzentrierte. Doch sie merkte, dass er einen Teil dennoch bei ihr zurückbehielt. Nun war sie in ihrer Bewegungsfreiheit aber kaum noch eingeschränkt und konnte sogar wieder sprechen.
«Schnell, tu´es!» Sie vergrub ihre Hände in dem steinigen Untergrund, fest entschlossen, sich zu sträuben, sollte er wieder von ihr Besitz ergreifen. Aber wenn Jaqens Schlag wirklich so getroffen hatte, wie sie vermutete, dauerte es noch eine Weile, bis sie unterhalb ihrer Hüfte überhaupt irgendetwas spüren konnte.
Auf einmal geschah alles sehr schnell. Jaqen ging zum direkten Angriff über, nun hatte er das Messer in der Hand, welches er ihr vorhin entwunden hatte. Anstatt aber wie sie erwartet hätte auf seinen Hals zu zielen, durchtrennte er seine Beinschlagader, genau auf die Art und Weise, wie Yoren es dem Lannister-Soldaten angedroht hatte.
Das Blut schoss in einer roten Fontäne hervor und durchtränkte den Boden, anstatt jedoch umzukippen, fasste er Jaqen an die Schulter, der daraufhin mit schmerzverzerrtem Gesicht zurückstolperte. Seine Schulter war russgeschwärzt und es stank nach verbranntem Fleisch. Der Hexenmeister folgte ihm mit taumelnden Schritten und wollte ihn wieder zu fassen kriegen, aber seine geistige Anstrengung sowie der Blutverlust schienen langsam ihren Tribut zu fordern. Jaqen ging immer weiter rückwärts und sie fragte sich, ob er wohl fliehen würde- die einzig kluge Entscheidung- aber stattdessen ging er zu dem Schwert zurück, welches Noridos ihm während dem Kampf entrissen hatte. Es bedurfte nur einer fliessenden Bewegung, um den Kopf des Hexenmeisters vom Rumpf zu trennen.
Sie hörte einen Aufschrei in ihrem Kopf, dann war auch der letzte Rest ihrer Fesseln verschwunden und sie fiel vornüber auf den staubigen Boden.
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Keuchend erhob er sich, sein ganzer Körper schmerzte, aber seine Schulter liess jeden anderen Schmerz verblassen. Der Geruch reichte ihm um zu wissen, dass mehr als nur die Haut versengt war, also sah er gar nicht erst hin. Sein erster Blick galt dem Opfer, aber der Kopf war vom Rest des Körpers getrennt, das Hirn nicht mehr mit dem Körper verbunden. Noridos El-Ostaan war tot, daran bestand für ihn kein Zweifel. Dennoch hatte er vor, den Leichnam zu verbrennen, sicher war sicher.
Er sah zu Arya, die sich hingesetzt hatte. Der Schlag machte es ihr unmöglich aufzustehen, aber die Lähmung hielt sicher nicht mehr lange an.
Ihm war von Beginn weg klar gewesen, dass etwas schiefgehen musste, er hatte nur noch nicht gewusst, was genau. Und obwohl er den Kopf seines Gegners am Boden liegen sah, liess ihn das Gefühl nicht los, das es noch nicht vorbei war. Der Kampf hatte ihn gefordert, das ja, aber am Ende war er zu schnell entschieden gewesen.
«Alles in Ordnung?», fragte er.
«Wahrscheinlich besser als bei dir.» Das Adrenalin in seinem Blut begann sich zu verflüchtigen und er spürte den Schmerz tatsächlich immer deutlicher. Der Geruch des verbrannten Fleisches und das Wissen, dass es sein eigenes war, löste eine Übelkeit aus, die er zu verdrängen versuchte. Also stopfte er den Kopf einfach in eine Tasche, welche er für diesen Zweck mitgebracht hatte und ging zu Arya hinüber, die auf wackeligen Beinen aufstand. Mit seiner verletzten Schulter auf der linken- und der Tasche auf der rechten Seite konnte er sie nicht stützen, aber sie brauchte auch gar keine Hilfe.
Die Tore des Anwesens standen offen, Quaithe führte sie in ihre Gemächer. Das war auch gut so, denn es gab noch einiges, was er von ihr wissen musste.
Er liess sich auf einen Schemel nieder, ein Stuhl mit Lehne wäre für seine malträtierte Schulter unerträglich gewesen.
Arya ging zu dem kleinen Mädchen hinüber, das auf einer Decke am Boden lag. Sie lag zwar auf der Seite, das Gesicht von ihnen abgewandt, aber ihm war sofort klar, dass sie nicht schlief. «Er hat sie getötet, nicht wahr?» Aryas Stimme klang resigniert und sie schlug die Decke über den Leichnam. «Ja. Es erschien mir von Anfang an seltsam, dass sie entkommen konnte, ich vermute, sie war der Köder», erklärte Quaithe während sie damit begann, seine Wunde zu versorgen. Zuerst schabte sie die Reste des verkohlten Fleisches ab, säuberte die Wunde und verband sie schliesslich nachdem sie noch eine dicke Schickt Salbe aufgetragen hatte.
Zu seinem Glück verstand auch sie es, einen ganzen Arm mit wenigen Berührungen gefühllos zu machen, andernfalls hätte ihm der Schmerz schon längst das Bewusstsein geraubt. «Der Kampf endete zu schnell», sagte er schliesslich. «Ein Mann kann nicht glauben, dass Noridos El-Ostaan wirklich tot ist.»
«Er ist auch nicht fort. Nur zurückgetrieben.» Quaithe blickte zu Arya. «Als er getötet wurde, hatte er da deinen Körper noch in seiner Gewalt?» «Er hat sich zurückgezogen, aber ja, ich habe ihn noch gespürt. Jetzt aber nicht mehr.» Sie schwieg und Arya wirkte verunsichert.
«Der grösste Teil seiner Seele wurde zerstört. Wenn noch etwas da wäre, würde ein Mädchen es spüren», versuchte er sie zu beruhigen. Doch auch ihm schwante Übles, er hatte von Anfang an geahnt, dass da etwas nicht stimmte.
«Wenn man Unkraut nahe am Boden abschneidet, ist die Pflanze für das Auge nicht mehr zu erkennen. Aber irgendwann wird sie wieder aus dem Boden schiessen.» Diese Worte schmerzten mehr als seine Verbrennung.
«Also ist der einzige Weg, ihn wirklich zu töten…» Aryas Stimme brach.
«So wie die Dinge im Moment liegen, ja. Ich weiss nicht, wie lange er braucht, um sich davon zu erholen. Vielleicht wurde wirklich so viel von seiner Seele zerstört, dass er keine Macht mehr darüber besitzt- oder es dauert Jahrzehnte, bis er genug Kraft gesammelt hat. Aber dadurch, dass sich ein kleiner Teil von seiner Seele in dir festgesetzt hat, hat er eine Tür geöffnet und wenn er zurückkehrt, wird er sich deinen Körper als erstes nehmen.»
Sie schwieg. Obwohl er sie oftmals lesen konnte wie ein offenes Buch, war es für ihn in diesem Moment nur schwer vorstellbar, was in ihr vorgehen musste.
«Ein Mädchen hat gehört, was Quaithe gesagt hat. Vielleicht dauert es Jahre, wenn er überhaupt zurückkehrt.»
«Du siehst das vielleicht so, aber was ist mit den anderen im Haus von Schwarz und Weiss?» Darauf hatte er keine Antwort. Es war tatsächlich zu bezweifeln, dass sie den Umstand einfach so akzeptierten, normalweise vermieden sie sämtliche Risiken wo es nur ging und Arya war schon vorher eines gewesen.
«Ein Auftrag ist erledigt, Noridos El-Ostaan tot. Das ist die Wahrheit und alles, was die anderen wissen müssen. Der Rest ist Spekulation.» Er beging hier eine Gratwanderung. Mit seinen Worten hatte er nicht ganz Unrecht doch sollten sie es doch eines Tages herausfinden, kam er in Erklärungsnot. Doch darum würde er sich kümmern, wenn es soweit war.
Arya lächelte müde, wirkte aber nicht ganz überzeugt.
«Dann versprich mir bitte eines.» Sie erhob sich und trat zu ihm hinüber, ihr Blick war fest und er erwiderte ihn mit einem Nicken.
«Wenn Noridos beginnt mich unter seine Kontrolle zu bringen, sorg dafür, dass ich niemanden verletzen kann.» Ihnen war beiden klar, dass es hier nicht um das Anlegen von Fesseln ging. Arya verlangte von ihm, dass er sie töte, wenn es soweit war. Und er nickte.