Die Kälte und selbst der Kampflärm war in diesem Moment nebensächlich, sie rüttelte weiterhin an Brans Schulter, mehr weil sie etwas tun wollte, als weil sie wirklich daran glaubte, ihn auf diese Art und Weise zurückzuholen. Sie wusste selbst, dass er keine Ahnung davon hatte, was im Moment um seinen Körper herum geschah.
Trotz ihrer Sorge war sie aufmerksam genug um den Umriss eines Menschen zu bemerken, der auf einmal zwischen den Bäumen auftauchte. Die Nerven zum Zerreissen angespannt drehte sie sich um und zog ihr Kurzschwert. Es war zu dunkel um zu erkennen, ob sie es mit einem lebenden- oder einem toten Gegner zu tun hatte.
Über ihnen spie einer der Drachen Feuer, weshalb sie einen kurzen Blick auf das Gesicht des Fremden erhaschen konnte. Es war kein Gesicht das sie kannte, doch wusste sie wer sich dahinter verbarg. Entweder er hatte doch noch eines der Gesichter bei sich gehabt, bevor die Belagerung ihren Anfang nahm, oder aber, ein Söldner musste den Göttern etwas verfrüht entgegentreten.
«Heute Nacht muss es geschehen.»
«Der Kampf ist noch in vollem Gange. Ausserdem brauche ich Missandeis Gesicht um-» Ihre Erwiderung erstarb, als sie erkannte, was er da aus einem Beutel zog. Natürlich. In dem Tumult während des Kampfes würde Missandeis fehlen vorerst nicht auffallen. Kurz verspürte sie einen Anflug von Mitleid für die junge Frau, die ihr Leben lassen musste, weil sie ihrer Herrin so treu gewesen war. Auf der anderen Seite war das Leben eigentliche niemals gerecht, weshalb das schlechte Gewissen auch gleich wieder in den Hintergrund rückte.
Ein Blick auf Bran verriet, dass er noch immer Viserion zu zerstreuen versuchte und ein Blick nach oben, dass er damit offenbar erfolgreich war. Jon hatte nun eindeutig die Oberhand.
«Ein Junge ist also ebenfalls ein Leibwechsler.» Jaqen war die Szene die sich ihm hier bot nicht entgangen. Arya nickte bloss, während sie ihren Mantel auszog und ihn über Bran ausbreitete, damit dieser nicht wirklich noch erfror. Ausserdem wäre es mehr als seltsam gewesen, wenn Missandei mit einem Mantel, welcher das Wappen des Hauses Stark zierte, herumlief. Arya nickte nur.
«Nachdem es vollbracht ist, komme ich hierher zurück. Pass so lange auf ihn auf.» Sie nahm Missandeis Mantel, den Jaqen ihr geistesgegenwärtig abgenommen hatte. Sie fühlte zwar das Blut auf dem Stoff, aber es war eindeutig besser, als ohne Mantel aufzutauchen und sich erklären zu müssen.
~ ~ ~
Alles andere als elegant rollte sie sich von Drogons Rücken. So sehr sie das Fliegen für gewöhnlich auch genoss, heute war sie einfach nur noch froh, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben. Boden, den sie gerade zurückerobert hatten. Es war ein langer Kampf gewesen. Selbst ihre schrecklisten und blutigsten Vorstellungen waren ein Hohn gegen die Bilder, die sie nun zu sehen bekommen hatte. Tausende hatten ihr Leben gelassen, doch den Gegnern erging es nicht besser. Beim Tod des Nachtkönigs hatten sich die weissen Wanderer in Schnee aufgelöst und die Wiedergänger waren reglos zu Boden gestürzt, wie es sich für Tote auch gehörte. Ansonsten wäre es ihr schwer gefallen zu glauben, dass all dies tatsächlich vorüber war. Schon jetzt schaffte sie es kaum. Besonders, wenn man bedachte, wer am Ende für das Ableben des Nachtkönigs verantwortlich war. Sie kannte ihre Drachen schon seit sie geschlüpft waren, sie war ihre Mutter. Und trotzdem war es Jon gewesen, der mit Rhaegal das unmöglich scheinende vollbracht hatte.
Er landete kurz nach ihr, wobei es eher einem Absturz als einer Landung glich. Rhaegal hatte einiges abbekommen, ebenso Jon. Doch er hielt sich aufrecht und stürzte auf sie zu. Ohne zu zögern schlang sie ihre Arme um seine Schultern und verlor sich für einige Momente in dem innigen Kuss, aus dem sie sich nur schwer wieder lösen konnten.
«Lass uns hineingehen und den Sieg geniessen.» So voller Energie hatte sie Jon schon lange nicht mehr gesehen. Der Tod seiner Schwester hatte ihn tief getroffen und es war das erste Mal seit langem das er wirklich lächelte, obwohl auch in seinen Augen der Schrecken der vergangenen Stunden zu sehen war.
«Liebend gerne. Aber zuerst brauchst du einen Maester. Und ich ein Bad.» Sie fror erbärmlich und erhoffte sich, die Kälte mit dem warmen Wasser vertreiben zu können.
«In Ordnung.» Er küsste sie nochmal und verschwand dann zwischen seinen Männern, die ihn hochleben liessen.
Sie trat in den Innenhof, wo sie Missandei erblickte, die geradewegs auf sie zugelaufen kam.
«Welch ein Glück, Ihr seid wohlauf…» Es war teils eine Feststellung, wirkte zugleich aber auch wie eine Frage.
«Nur ein paar Kratzer. Aber ich könnte ein Bad in meinen Gemächern gebrauchen.» Sie wusste, dass es unter den Mauern Winterfells heisse Quellen gab, aber nach was sie sich gerade am meisten sehnte war die Ruhe und Gemütlichkeit ihrer Räumlichkeiten. «Natürlich. Ich werde das gleich veranlassen.» Missandei lächelte ihr noch einmal zu und machte sich dann davon, um den Dienern Anweisungen zu geben.
Mit einem wohligen Seufzen liess sich Daenerys nur kurze Zeit später in ins dampfende Wasser sinken. Die Wärme vermochte es zwar nicht, die schrecklichen Bilder und Geräusche aus ihrem Kopf zu verbannen, aber ihre Muskeln reagierten dennoch und sie gab sich der Wärme hin, während Missandei ihre Kopfhaut massierte. Wobei sie dabei nicht so sanft war wie gewohnt.
«Au! Missandei, was ist denn los?» Ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, eher besorgt. Solch eine Unachtsamkeit war sie von Missandei sonst nicht gewohnt.
«Tut mir leid. Ich bin nur noch etwas durch den Wind.» Danach liess der Druck etwas nach und Daenerys schloss die Augen erneut. «Das verstehe ich. Was ist eigentlich mit deinem Bein passiert?» Missandei hielt inne. «Mit meinem Bein?»
«Ja. Vorhin im Hof, als du auf mich zugekommen bist sah es so aus, als könntest du dein rechtes Bein nicht richtig belasten.»
«Ist mir gar nicht aufgefallen. Ich bin auf dem Eis ausgerutscht, das kommt wohl noch davon.» Sie nickt verständnisvoll. «Ja, dieses Eis ist ganz schön heimtü…»
Und mit einem Mal fand sie sich unter der Wasseroberfläche wieder. Es dauerte einige Momente, ehe sie begriff, was gerade mit ihr geschah. Was Missandei da gerade tat. Sie schrie, was jedoch zur Folge hatte, dass der wichtige Sauerstoff ihren Lungen entwich.
Durch die stark gewellte Wasseroberfläche erkannte sie Missandeis Gesicht und griff nach ihren Haaren, in der schwachen Hoffnung, dass der Schmerz sie dazu bringen könnte, von ihr abzulassen. Doch das Haar gab auf wundersame Weise nach und dem Haar folgte ihr Gesicht. Vor lauter Schock hielt sie kurz in ihren Bewegungen inne. Die Wasseroberfläche klärte sich soweit, dass sie in das Gesicht ihrer Mörderin blicken konnte.
~ ~ ~
Es kam ihr so vor, als dauere es Stunden, bis Daenerys' Gegenwehr erstarb. Und selbst danach zählte sie bis hundert, ehe sie den erschlafften Körper ihres Opfers losliess. Alles was nun zählte war es zu verschwinden, ehe man sie entdeckte. Also zog sie Missandeis Gesicht wieder über, ebenso einen Umhang, der die nasse Kleidung verdeckte. Sobald man Daenerys' Leiche fand, würde man ohnehin Missandei verdächtigen. Man musste ihr die Schuld nicht schon von Weitem ansehen.
Auch wenn es ihr sehr schwer fiel atmete sie tief durch und ging mit festen Schritten an den Wachen vorbei, die ihr hin und wieder begegneten. Dabei versuchte sie ihr verletztes Bein ganz normal zu belasten, damit den Wachen nicht dasselbe auffiel wie Daenerys zuvor.
An einer stillen Ecke streifte sie Umhang und Gesicht ab, ehe sie in die eisige Nacht hinaustrat. Die Kälte frass sich durch die durchnässte Kleidung, aber sie hatte keine Zeit dafür, sich neu einzukleiden. Mittlerweile müsste Bran ohnehin wieder zu sich gekommen sein, dann konnte sie sich ihren Mantel zurückholen.
Ihr Gefühl sagte ihr schon als sie Brans Umriss sah, dass etwas nicht stimmte. Er bewegte sich nicht, auch dann nicht, als sie neben ihn trat und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Sie hätte nach seinem Herzschlag fühlen können, wusste aber schon vorher, dass sie keinen finden würde.
«Als Viserion in die Tiefe stürzte, hat er geschrien. Aber er ist nicht wieder aufgewacht.»
Sie war nicht traurig. Es fühlte sich so an, als wäre jeglicher Schmerz in ihr betäubt, wie ihre Finger, die in der Kälte langsam aber sicher jegliches Gefühl verloren. Der einzige Gedanke, der bei ihr noch so etwas wie Dringlichkeit besass, war derjenige an die Flucht.
«Wir müssen hier weg.» Sie raufte sich die Haare und überlegte bereits, wie sie im Stall ungesehen Pferde entwenden konnten.
«Ist der Auftrag erledigt?» Sie nickte nur abwesend.
«Wenn ein Mädchen nicht gesehen wurde, wäre es töricht so überstürzt aufzubrechen. Das würde nur Verdacht erwecken.» Sie hatte es satt, das zu tun was gerade logisch erschien. Sie wollte, nein, sie musste einfach weg von hier.
«Glaubst du ich kann Jon je wieder unter die Augen treten?!» Sie schrie jetzt fast. «Nicht nur wegen Daenerys, auch wegen Bran. Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen!» Jaqen packte sie an den Schultern und sah ihr tief in die Augen. «Brandon Stark war Arya Starks Schwester. Arya Stark ist tot.»
Mit seinen Worten traf er mehr ins Schwarze, als er vielleicht glaubte. Sie hatte gerade wirklich das Gefühl, als würde ein Teil von ihr sterben. Der Teil, der nicht schon vor Jahren dem Krieg zum Opfer gefallen war.
Jaqen nahm ihren Mantel von Brans Schoss und schlang ihn um ihre Schultern. Danach zwang er sie, ihn anzusehen. «Wer bist du?» Sie schlang die Arme um ihre Schultern und fühlte ein verräterisches Brennen in ihren Augen. Energisch blinzelte sie die Tränen weg. Sie hatte sich vor Jahren geschworen nie wieder zu weinen. Nicht mal an Sansas Totenbett hatte sie das getan.
«Ich weiss es nicht! Ich war niemand. Ich hatte mit all dem hier abgeschlossen! Aber… Warum musste das alles hier…» Ihre Stimme erstarb. Wie konnte es sein, dass all das auf einmal über sei hereinbrach? Normalerweise machte sie sich nichts aus Gefühlen, der Mord beispielsweise hatte ihr kaum zugesetzt. Auf einmal hatte sie eine Vermutung, die simpel, wie auch schrecklich war.
«Was würde es Noridos nützen, wenn er mich in den Wahnsinn treibt?» Offenbar lag sie mit ihrer Vermutung richtig, denn von einem Moment auf den nächsten verspürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Schädel, als wolle er sie dafür bestrafen, dass sie seinem perfiden Plan auf die Schliche gekommen war. Der Schmerz pochte so heftig in ihrem Schädel, dass sie mit beiden Händen ihren Kopf umklammern musste. Obwohl das natürlich nicht die geringste Linderung brachte. Du gehörst mir.
«Ein geschwächter Geist ist einfacher zu kontrollieren», entgegnete Jaqen.
«Ich glaube dann hat er sein Ziel bald erreicht.» Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Am liebsten hätte sie dem Druck in ihrem Kopf einfach nachgegeben.
«Nein. Ein Mädchen ist stark. Sonst hätte Noridos sein Ziel schon längst erreicht.» Sie schwiegen und Arya fühlte sich nach wie vor schrecklich, aber nun wo sie eine Ahnung hatte, woher das Chaos in ihrem Inneren kam, konnte sie versuchen, es zurück zu drängen. So wurde auch der Schmerz etwas weniger, aber ganz verschwand er nicht. In einiger Entfernung war das Knirschen von Stiefeln auf Schnee zu hören.
«Es nähern sich Wachen. Ein Mann muss gehen. Wir können nicht sofort aufbrechen», wiederholte er. «Aber so bald wie möglich.» Er strich ihr eine Strähne ihres zerzausten Haares aus dem Gesicht.
«Du kannst das.» Danach zog er sich in die Dunkelheit des Götterhains zurück. Das einzige was blieb waren die schnell verwehenden Spuren im Schnee und die Wärme, die seine Berührung auf ihrer Wange zurückliess.
~
Jon sah genauso übernächtigt und niedergeschlagen aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Ein Blick in den Spiegel hätte ihr allerdings offenbart, dass es um sie nicht viel besser stand.
Er erhob sich und kam auf sie zu. Gab er nun den Befehl sie festzunehmen? War sie vielleicht doch gesehen worden? Oder wollte er ihr Vorwürfe wegen Brans Tod machen? Nichts davon traf zu. Er zog sie einfach in seine Arme und das so fest, dass es ihr die Luft aus den Lungen presste.
«Was ist gestern geschehen?» Es lag nicht mal der Hauch eines Vorwurfs in seiner Stimme, nur die Verzweiflung eines jungen Mannes, der innerhalb kürzester Zeit drei wichtige Menschen in seinem Leben für immer verloren hatte. Bald waren es vier.
«Ich kann nur Vermutungen anstellen.» Wortlos zog er sie zum Tisch, der während der letzten Wochen ständig mit Karten von Truppenbewegungen bedeckt gewesen war, auf dem nun aber ein Weinkrug und zwei Becher standen. Sie nahm ihren gerne entgegen und begann zu erzählen.
«Es war Brandon, der Viserion dazu gebracht hat, seinen Reiter abwerfen zu wollen. Doch Drachen sind keine gewöhnlichen Tiere. Irgendetwas muss schief gelaufen sein- oder seine Seele befand sich noch in Viserions Körper, als der Drache getötet wurde.» Jon erschauderte.
«Dann habe ich Bran also…»
«Nein! Ich denke, er wusste was ihn dort erwartet.» Sie legte ihre Hand auf Jons und dachte an die letzten Worte, die sie beide ausgetauscht hatten. Bevor sie von hier aufbrachen, musste sie unbedingt mit Sam reden. Doch vorher musste sie sicher gehen, dass ihr Plan aufging. «Wurde Missandei schon gefunden?»
«Nein.» Jons Faust verkrampfte sich um den Becher und er zitterte so sehr, dass einige Tropfen verschütteten. «Doch das werden wir. Sie kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.» Mit diesem Einwand hatte er nicht unrecht und Arya fragte sich, was wohl aus ihrer Leiche geworden war. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht wissen.
«Hast du eine Vermutung, warum sie es getan hat?»
«Das ist es ja gerade. Sie hatte keinen Grund. Es sei denn, jemand hätte sie bestochen. Aber sie schien mir nie die Art von Frau zu sein, die auf Reichtum aus ist.»
Da sie nichts sagen konnte, um ihn zu trösten, blieb sie einfach neben ihm sitzen, während er ins leere starrte. Erst als ihr das Schweigen zu unangenehm wurde, versuchte sie ihn aus seinen Gedanken zu holen. «Und was hast du jetzt vor?»
«Offen gestanden, ich weiss es nicht. Die wenigen Dothraki, die nicht umgekommen sind, wollen so schnell wie möglich in ihre Heimat zurück und die Söldner zu bezahlen wird uns teuer zu stehen kommen. In diesen Zeiten ist es schwer neue Bündnisse zu schliessen.»
Es klopfte leise an der Tür und Sam streckte seinen Kopf herein, machte aber Anstalten, gleich wieder zu verschwinden.
«Komm rein», sagte Jon.
«Du gehörst ja auch schon praktisch zur Familie.» Das entsprach der Wahrheit. Sie selbst kannte ihn nicht allzu gut, aber sie wusste, dass er nicht hier war, weil er sich einen Lohn davon erhoffte, sondern weil er Jon helfen wollte. Und irgendwo beruhigte es sie, dass Jon wenigstens jemanden hatte, auf den er sich verlassen konnte. Denn auf sie konnte er es nicht. Zugleich kamen ihr auch Brans Worte in den Sinn.
Also blieb sie, wenn auch eher widerwillig. Denn zu Beginn herrschte wieder dieses unangenehme Schweigen, welches deutlich machte, dass auch Samwell mit der Situation überfordert war. Nach einiger Zeit fand er dann doch die richtigen Worte. «Bran war ein mutiger Junge. Du kannst stolz auf ihn sein.» Jon lächelte traurig.
«Wenn ich ehrlich sein soll, wäre mir in diesem Fall ein etwas feigerer Bruder, der überlebt hätte lieber gewesen. Aber du hast Recht.» Mittlerweile hatte sich Sam zu ihnen gesetzt und starrte in seinen Weinbecher ohne davon zu trinken. Er wirkte wie jemand, der etwas sehr Schweres auf der Seele hatte und das entging auch Jon nicht.
«Langsam habe ich das Gefühl, dass mir jeder in dieser Burg etwas verschweigt. Sag mir, was los ist.» Arya hätte erwartet, dass Sam noch eine Weile um den heissen Brei herumreden würde, doch dem war nicht so. Es brach so plötzlich aus ihm heraus, als hätte er es schon seit Monaten zurückgehalten.
«Ich weiss jetzt, wer deine Mutter war.» Das verblüffte auch Arya und Jon brauchte mehrere Anläufe, um seine Stimme wieder zu finden.
«Wer! Nun sag doch Sam, wer war sie?»
«Bevor ich dir das sage, solltest du vielleicht erfahren, wer dein Vater war.» Nun war die Verwirrung komplett- auch bei ihr.
«Was soll das heissen, ich weiss wer mein Vater war.»
«Nein, weisst du nicht. Hast du dich nie gewundert, warum Rhaegal dich als Reiter akzeptiert hat?» Arya spuckte den Wein den sie geschluckt hatte wieder aus, wohingegen Jon immer noch nicht begriff. Oder vielleicht wollte er es auch einfach nicht wahrhaben. Denn nach einer Weile erbleichte er, blieb ansonsten jedoch erstaunlich gefasst. «Das heisst also ich bin das Ergebnis einer Vergewaltigung.» Jeder kannte die Geschichte von Lyannas Entführung. Aber das ein Kind daraus entstanden war... Sie verstand jedoch, warum ihr Vater all die Jahre geschwiegen hatte. Jon wäre auf der Stelle zum Tode verdammt gewesen, unschuldig hin oder her.
«Nein. Brandon hatte eine Vision und die haben bis jetzt immer zugetroffen. Lyanna ist freiwillig mit Rhaegar gegangen. Nicht nur das, sie haben sogar vor deiner Geburt geheiratet. Jon, du bist kein Schnee, du bist ein Targaryen.»
~
«Willst du es dir nichtmal überlegen?» Sie war nicht in der Laune für solch unnötige Gespräche.
«Da gibt es nichts zu überlegen, Jon. Du weisst, ich werde niemals heiraten.» Kaum liess man Jon für ein paar Wochen den alleinigen Herrscher spielen, kam er mit einer solchen Dummheit an.
«Wie kannst du so sicher sein, wenn du es dir nicht einmal überlegst? Ausserdem geht es nicht mal um eine Hochzeit, du sollst ihn nur kennenlernen.» Er setzte sich auf ihre Bettkante, während sie im Raum auf und ab ging. «Ich will dich zu nichts zwingen, aber du könntest ihm ja wenigstens eine Chance geben. Du hast ihn ja noch nicht mal gesehen.»
«Und das werde ich auch nie. Ich habe nicht mal vor hierzubleiben.»
Jons Blick verriet, dass er mit dieser Antwort niemals gerechnet hätte. «Wo willst du denn sonst hin?»
«Sothoryos, die Sommerinseln... Egal wo. Aber ganz sicher werde ich nicht den Rest meines Lebens in einer Burg verbringen, geschweige denn als Ehefrau.» Wie konnte er überhaupt an so etwas denken?
«Arya, bitte. Ich will mich nicht mit dir streiten. Doch es geht hier um mehr als Gefühle. Es geht darum, wie es mit den sieben Königslanden weitergehen soll und ein Targaryen als Wächter des Nordens würden sie wohl kaum akzeptieren. Dich schon.» Sie sah Jon nach wie vor als ihren Bruder, nicht als ihren Vetter an. Aber diese Diskussion half nicht gerade dabei, ihre Sympathie zu festigen.
«Du meinst wohl eher meinen Mann. Oder warum sonst müsste ich dazu unbedingt verheiratet sein? Nein, antworte nicht. Es würde sowieso nichts ändern. Ich werde Winterfell morgen verlassen, mit oder ohne deine Erlaubnis.» Jon sah aus wie ein Hund, den man getreten hatte. Aber er sagte tatsächlich nichts mehr und nachdem er offenbar erkannte, dass auch sie kein Wort mehr darüber verlieren würde, verliess er ihr Zimmer.
Seit der letzten Schlacht und Daenerys´ Tod waren fast zwei Monde vergangen. Es wurde Zeit nach Braavos zurückzukehren und vielleicht bot dieser Streit der beste Vorwand, den sie finden konnte.
~
Auf der einen Seite tat es weh, sich im Streit von Jon zu trennen, auf der anderen machte es das für sie leichter. Sie wählte absichtlich einen Zeitpunkt für ihren Aufbruch, an dem Jon in einer Besprechung war. Erst stunden später wurde ihr bewusst, dass sie ihren Bruder- nein, ihren Vetter- vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben gesehen hatte.
Der einzige kleine Umweg, den sie einschlugen war derjenige ins Winterdorf, wo Jaqen die Tasche mit den Waffen ebenso vorfand, wie er sie Wochen zuvor im Gasthaus zurückgelassen hatte. An allem was nicht lebte, hatten die Weissen Wanderer kein Interesse gezeigt.
Danach galoppierten sie los, vorbei an zerstreuten Truppen von Jaime Lannister, die zurück in den Süden zogen. Es herrschte kein Frieden in den sieben Königslanden. Der gemeinsame Feind war zurückgeschlagen, doch Cersei sammelte ihre Truppen und innerhalb kürzester Zeit würde der Boden mit weiteren Leichen übersäht sein.
Immer wieder beobachtete Jaqen die Umgebung, als suche er nach etwas. Arya hatte da so eine Vermutung. «Wahrscheinlich ist sie schon längst wieder in Essos.» Der Gedanke, sich Melisandre auszuliefern, widerstrebte ihr nach wie vor.
«Vielleicht. Trotzdem müssen wir es versuchen. Wenn ein Mann sich nicht täuscht, ist die Hütte noch höchstens zwei Tagesritte von hier entfernt.»
Wie bereits die Tage zuvor, ritten sie bis zum Einbruch der Nacht, ehe sie absassen und ihr Lager aufschlugen. Meist hielt Arya die erste Hälfte der Nacht Wache und Jaqen in der zweiten. Oftmals verzichteten sie sogar auf ein Feuer, so auch in dieser Nacht. Da sie sich jedoch an einem ungeschützten Ort befanden, drang der eisige Wund durch sämtliche Kleidungsschichten, während Arya in die Nacht hinaus starrte.
Ein bis zwei Tage… Also war sie morgen Nacht vielleicht bereits wieder frei?
Ohne es zu merken, hatte sie den Dolch aus ihrem Gürtel gezogen. Sie wunderte sich und wollte ihn wieder an seinen angestammten Platz zurückstecken, doch ihre Hände gehorchten ihr nicht. Ohne es zu wollen wanderte ihr Blick zu Jaqens schlafender Gestalt und kalte Angst erfasste sie. Sie wollte ihm eine Warnung zurufen, doch ihre Stimme gehorchte ihr ebenso wenig wie der Rest ihres Körpers. Genau so wie damals in Asshai. Wie hatte er nur an so viel Kraft gewinnen können, ohne, dass sie es gemerkt hatte? Sie sträubte sich und tatsächlich schaffte sie es, stehen zu bleiben. Aber aus ihrer Kehle drang kein Laut.
Hör auf dich zu wehren, vernahm sie plötzlich die Stimme von Noridos. Es klang, als würde er ein kleines Kind tadeln. Es ist sinnlos. Sie ging weiter und schrie innerlich auf. Raufte sich zusammen und blieb erneut stehen. Dummes Kind. Hast du wirklich geglaubt, ich lasse mich so einfach verdrängen? Sie versuchte Zeit zu schinden. Wenn sie es schaffte, bis am Morgen durchzuhalten, wachte Jaqen vielleicht auf, bevor sie die Gelegenheit hatte, ihn umzubringen. Dann fürchtest du Melisandre also. Deswegen willst du nicht, dass wir bis zu ihr gelangen. Sie hatte Recht- und das gefiel Noridos nicht. Ein alles umfassender Schmerz schoss durch ihren Kopf und riss ihre Gegenwehr nieder. In zwei Schritten stand sie neben Jaqen, kniete über ihm- und stiess zu.
In letzter Sekunde schaffte sie es, ihre Hand ein Stück weiter nach links zu lenken, womit sie sein Herz verfehlte. Sie holte bereits wieder aus, doch der Schmerz und die jahrelange Übung der Reflexe liessen Jaqen sofort reagieren und ehe sie überhaupt blinzeln konnte, hatte er sie mit einem Tritt in den Magen von sich weggeschleudert und ihr in derselben Bewegung den Dolch entrissen. Ehe sie sich erheben konnte presste er sie zu Boden. Blut sickerte aus der Wunde, aber wie sie vermutet hatte, war es nicht lebensbedrohlich- sonst hätte er kaum die Kraft gehabt, mit einer Hand beide ihre Arme über ihrem Kopf in den Schnee zu pressen, während er mit der anderen den Dolch hielt. Mit einem schnellen und heftigen Schlag hämmerte er den Griff des Dolchs gegen ihre Schläfe und alles versank in Dunkelheit.
~ ~ ~
Beim ersten Tageslicht ritten sie los. Arya hatte er so gut gefesselt wie er konnte, ohne die Blutzufuhr ihrer Hände und Beine ganz abzuschnüren. Danach hatte er sie auf dem Rücken des braunen Hengstes festgezurrt, wo sie noch immer völlig regungslos hing. Der Schlag war vielleicht etwas zu heftig gewesen, aber er durfte kein Risiko eingehen. Der Stich, den sie ihm versetzt hatte schmerzte höllisch, blutete jedoch zum Glück nicht mehr. Trotzdem versetzte ihm jede Bewegung, die das Pferd unter ihm machte einen Stich. Entsprechend froh war er, als sie das steinerne Gebäude, welches Melisandre als Zuflucht diente noch am selben Tag erreichten- und nicht erst am nächsten. Die Fehleinschätzung rührte wohl daher, dass er beim letzten Mal zu Fuss und bei schlechterem Wetter unterwegs gewesen war.
Während sie die letzten Meter bis zu ihrem Ziel zurücklegten, stellte er sich der Frage, was er tun würde, wenn Melisandre tatsächlich nicht mehr hier war. So nach Braavos zurückehren konnte er mit ihr nicht, geschweige denn nach Asshai. Er kannte das Versprechen, dass er ihr einst gegeben hatte und das ihm damals so leicht über die Lippen kam. Warum war es das auf einmal nicht mehr? Vielleicht lag es daran, dass er damals glaubte, es gar nicht erst einlösen zu müssen. Und vielleicht war sie ihm in den letzten Jahren auch einfach mehr ans Herz gewachsen, als er zuzugeben wollte. Doch wenn es wirklich darauf ankam, würde er es tun. So ungerne er es sich eingestand, Melisandre war ihre letzte Hoffnung.
Kaum hatte er den Gedanken zu Ende geführt, trat sie zur Tür heraus. Es wirkte, als wäre sie in den letzten Monaten ein halbes Jahrhundert gealtert. Ihr einst flammendes Haar war gänzlich ergraut und tiefe Falten zogen sich durch ihr Gesicht. Zum ersten Mal wirkte sie ansatzweise so alt, wie sie es tatsächlich war. Ein Zeichen dafür, dass sie in letzter Zeit tatsächlich auf Menschenopfer verzichtet hatte.
Fast zeitgleich begann sich Arya auf dem Sattel zu regen und kämpfte gegen die Fesseln an. «Er weiss, dass sein Ende naht», stellte sie fest. «Doch es wird nicht einfach. Ich habe so etwas zuvor noch nie getan.» Es kam wohl selbst in Asshai selten vor, dass ein Mensch Besitz von einem anderen ergriff.
Einen Arm um ihren Hals geschlungen, damit sie ihn nicht beissen konnte, zerrte er Arya ins Innere der Hütte. Die Fesseln hatte er nicht gelöst.
Er legte sie neben das kleine Feuer in der Mitte des kleinen Steingebäudes und machte einen Schritt zur Seite, damit er beide Frauen im Blick hatte. Ihm fiel zwar kein wirklicher Grund ein, warum Melisandre sie täuschen sollte, aber zuzutrauen war ihr alles.
Sie sagte nichts, keine sinnlosen Beschwörungen, es war ein Kampf der ganz andern Art. Ihm fiel es um einiges schwerer, einfach hier zu sitzen und nichts zu tun, als wenn er sich hätte in einen Kampf stürzen können. So blieb ihm nichts zu tun, als hin und wieder draussen nach dem Rechten zu sehen und regelmässig ein Holzscheit nachzulegen.
Während der Korb bei ihrer Ankunft noch voll mit Holz gewesen war, war er bei Einbruch der Dunkelheit leer. Er wusste nicht, woher Melisandre das Holz genommen hatte und ihm blieb auch nicht die Zeit danach zu suchen. Er wollte keine der beiden hier alleine lassen. Ausserdem schneite es so dicht, dass er draussen nicht mal die Hand vor Augen sehen könnte.
Nachdem es über Stunden völlig ruhig in der Hütte geblieben war, erschien Melisandres Aufschrei umso lauter.
Sicherheitshalber zückte er den Dolch, welchen er Arya am Abend zuvor abgenommen hatte. Es bot sich ein ähnlicher Anblick wie bei Brandon Stark vor einigen Wochen. Melisandre verkrampfte sich, Schaum trat ihr vor den Mund- und dann war es vorbei. Alles was er bei dem Anblick fühlte war Gleichgültigkeit und vielleicht auch ein Hauch Genugtuung.
Als er sicher war, dass keine Gefahr von ihr ausging, kniete er sich neben Arya. Es dauerte eine Weile, bis sie sich regte. «Du kannst den Dolch loslassen», erklärte sie mit einem schiefen Grinsen und machte einen Versuch aufzusitzen, liess es dann aber doch bleiben und tastete nach der Wunde an ihrer Schläfe. Mit einem Mal sah sie schuldbewusst aus, wie er sie in den zehn Jahren, die er sie nun schon kannte kein einziges Mal erlebt hatte. Er ahnte auch, weshalb.
«Ein Mädchen konnte nichts dafür.»
«Es war mein Messer und meine Hand.» Nun schaffte sie es doch, sich ganz aufzusetzen.
«Aber nicht willentlich. Die Hauptsache ist, dass das alles nun ein Ende hat.» Dem konnte sie nichts entgegensetzen und sie protestierte auch nicht weiter. Ein kleiner Funke des Zweifels blieb dennoch, das sah er. Also versuchte er das Thema auf etwas anderes zu lenken.
«Was hat Melisandre getan?»
«Ich bin mir nicht sicher. Es ist schon schlimm wenn zwei Seelen sich in einem Körper befinden, aber drei? Ich konnte kaum irgendetwas tun. Beide hatten darin so viel mehr Erfahrung als ich.» Sie hielt inne und starrte in die immer kleiner werdenden Flammen. «Ich glaube, sie hat ihn in ihren Körper gezerrt.» So viel Selbstlosigkeit hätte er dieser Hexe niemals zugetraut. Obwohl das noch lange nicht hiess, dass sie damit irgendwie in seiner Achtung stieg. Sie war dem Tode auch so schon nahe genug gewesen, das hatte alles nur etwas beschleunigt. Wie von selbst warf er einen Blick auf die Stelle, an der vorhin noch die Leiche einer alten Frau gelegen hatte. Einzig ein länglicher Haufen Staub und ein paar Knochenteile waren geblieben.
«Wie ist das möglich?»
«Melisandre war alt. Weitaus älter, als ein Mensch werden dürfte.» Arya erschauderte und er konnte es ihr nicht verdenken.
Nach einer Weile in er sie beide ihren ganz eigenen Gedanken nachhingen fragte sie schliesslich: «Darf ich sehen?» Sie deutete auf das Einstichloch in seinem Mantel. Als er nicht widersprach zog sie ihm den Mantel von den Schultern, knöpfte die obersten drei Knöpfe seines Hemdes auf und löste den Stoffstreifen, mit dem er die Stichwunde notdürftig bedeckt hatte. Über ihren vorwurfsvollen Blick musste er schmunzeln, war sie doch diejenige, die erst dann eine Wunde versorgte, wenn sie auf dem besten Weg dazu war zu verbluten.
Er hatte wirklich wahnsinniges Glück gehabt, denn die Klinge hatte nicht nur das Herz selbst, sondern auch alle grösseren Arterien verfehlt. Trotzdem wäre es natürlich besser gewesen, die Wunde richtig zu versorgen. Doch in der Kälte und ohne Feuer war es ihm fast unmöglich gewesen, die Wunde zu nähen. In den letzten Stunden hatte er sich kaum von der Stelle gerührt, weshalb der Verband und das getrocknete Blut die Wunde zusammengehalten hatte. Mit dem Entfernen des Verbands war sie jedoch wieder aufgerissen. Auch jetzt hätte er am liebsten einfach wieder den Mantel übergestreift, der verbliebene Rest des Feuers vermochte es nicht die Kälte draussen zu halten. Die Glut reichte aber gerade noch, um etwas Schnee zu schmelzen, damit er die Wunde auswaschen konnte. Nur das Nähen erwies sich als eher schwierig, da er die Wunde im Zwielicht eher ertasten als sehen konnte. Irgendwann gab er es auf.
«Könnte ein Mädchen vielleicht…» Sie rieb sich die Hände mit Teebaumöl ein, ehe sie nach der Nadel griff und die letzten paar Stiche ausführte.
~
Ungeachtet der Tatsache, dass er bereits einen Tag wach war, schaffte er es nicht einzuschlafen. Und das, obwohl ihm wärmer war als in den Nächten zuvor. Keiner von ihnen wollte direkt neben Melisandres Überresten schlafen. Also hatten sie ihr Lager in diejenige Ecke verschoben, die am weitesten davon entfernt lag und die Felle nebeneinander ausgebreitet.
Zu Beginn hatte Arya ihm noch den Rücken zugewandt, doch im Schlaf hatte sie sich gedreht und ihren Kopf an seine Schulter gebettet. Auch den Rest ihres Körpers fühlte er nur allzu deutlich an seiner Seite, was vielleicht auch nicht zu einem ruhigen Puls beitrug. Trotzdem wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen sie von sich weg zu schieben. Dafür genoss er die Wärme zu sehr. Zumindest versuchte er sich einzureden, dass er nur die Wärme und nicht ihre Nähe im Allgemeinen war. Irgendwann gewann dann doch die Erschöpfung die Oberhand und er schlief ein, hoffend, dass in Braavos alles wieder beim alten war.