Kapitel Sieben
Neuland
Mein erster Schultag in Hogwarts begann mit einer denkwürdigen Unterrichtsstunde. Und das aus vielerlei Gründen. Zum einen traf ich das erste Mal mit meiner Klasse zusammen – den Menschen, mit denen ich ab sofort den Großteil meiner Zeit verbringen würde. Diese Aussicht war nicht gerade erbaulich, wenn ich mir diese Menschen genauer ansah. Allesamt wirkten kühl und feindselig, wie ein eingeschworenes Team, das nicht dazu bereit war, mich in seiner Mitte willkommen zu heißen. Sie strahlten eine düstere, bedrohliche Stimmung aus, sodass ich entschied, lieber für mich zu bleiben. Als ob ich eine Wahl gehabt hätte. Und so landete ich wieder neben Draco, als wir unsere Plätze im Klassenzimmer aufsuchen sollten.
Ein weiterer Grund für die Denkwürdigkeit dieses Morgens war, dass „Geschichte der Zauberei“ von einem Geist unterrichtet wurde. Ich hatte schon einige unerfreuliche Begegnungen mit Geistern auf den Gängen gehabt, indem sie immer wieder einfach aus einer Wand neben mir aufgetauchte waren und mich zu Tode erschreckt hatten. Dass einer von ihnen mich unterrichten sollte, hätte ich mir nicht zu träumen gewagt.
Zudem war Professor Binns nicht gerade das, was man aufgeweckt nennen konnte, was vielleicht kein Wunder war, wenn man die Tatsache beachtete, dass er nicht mehr unter den Lebenden weilte. Unwillkürlich fragte ich mich, ob Hogwarts an akutem Lehrermangel litt. Was sonst sollte die Entscheidung rechtfertigen, einen Geist als Professor einzustellen? Noch seltsamer war es, etwas mit Respekt zu behandeln, von dem man sein Leben lang eingeschärft bekommen hat, es wäre nichts als Humbug.
Ich erwischte mich dabei, wie ich jedes Mal heftig fröstelte, wenn Professor Binns an unserem Tisch vorbei schwebte. Dann konnte ich Draco neben mir aus dem Augenwinkel breit grinsen sehen und ärgerte mich über mich selbst.
Die nächsten Unterrichtsstunden neben ihm verliefen ähnlich katastrophal. Er tat so, als hätte es den gestrigen Abend nie gegeben und ich versuchte, dasselbe zu tun, während ich mir gleichzeitig nichts sehnlicher wünschte, als aus ihm schlau zu werden. Oder lag es an mir selbst? Bildete ich sie mir womöglich nur ein? All diese kleinen Momente, in denen die Luft zwischen uns wie Zuckerbrause prickelte. Was erwartete ich eigentlich? Wollte ich diesen Jungen wirklich näher kennen lernen, wo ich doch ganz genau spürte, dass er eintausend dunkle Geheimnisse verbarg? Oder war es genau das, was mich so zu ihm zog? Seit der Begegnung im Zug – so viel stand fest – war ich in eine Art Sog geraten, aus dem ich mich nicht aus eigener Kraft zu befreien wusste.
„Vielleicht können Sie es mir sagen, Ms. Harukaze.“
Ich fuhr erschrocken hoch. Totenstille herrschte im Klassenzimmer für Verwandlung, während sich die Köpfe meiner Mitschüler einer nach dem anderen zu mir umwandten. Allen war klar, dass Professor McGonagall es alles andere als lustig fand, wenn man in ihrem Unterricht herum träumte. Mir war es unmöglich, eine Antwort zu geben, ohne dass sofort klar wurde, dass ich überhaupt nicht zugehört hatte. Aber auch so war ich mir sicher, dass ich die Antwort nicht gewusst hätte. Selbst, wenn ich aufpasste, verstand ich gerade mal die Hälfte von dem, was den Drittklässlern hier gelehrt wurde. Niemand hatte mir zuvor einen Crash-Kurs in Sachen Zauberei erteilt.
Vielleicht gab mir das ja das Recht dazu, frech zu sein. „Nein, ich kann Ihnen die Frage leider auch nicht beantworten.“
Einige lachten, andere unterdrückten es angesichts McGonagalls steinerner Meine. Ich spürte, wie Draco mich schmunzelnd von der Seite ansah. „Nun denn. Ich weiß nicht, was Sie von Ihrer Muggelschule gewöhnt sind, aber seien Sie sich gewiss, hier herrscht ein anderer Ton. Wenn ich spreche, haben Sie zuzuhören und wenn ich Ihnen eine Frage stelle, dann haben Sie zu antworten.“, fuhr McGonagall auf.
Gerade wollte ich ihr mitteilen, ich hätte doch eine Antwort gegeben, da bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie Draco kaum merklich warnend den Kopf schüttelte. Ich konnte meine Zunge gerade noch so im Zaum halten. Und jetzt? Gespannt sah ich McGonagall an. Sie und die halbe Klasse starrten erwartungsvoll zu mir zurück.
Als zwei Minuten verstrichen waren, brach es ungehalten aus der Lehrerin heraus: „Sie haben noch viel an Benimm und Anstand zu lernen, Ms. Harukaze, wenn Sie nicht einmal eine einfache Entschuldigung zustande bringen. Zwanzig Punkte Abzug für Slytherin.“
Nun kam Bewegung in die Klasse. Alles murrte und fluchte, während man mir finstere Blicke zuwarf. Die Punkte waren wichtig für den jährlichen Wettbewerb um den Hauspokal, den das Haus mit den meisten Punkten gewann. Bei guten Leistungen holte man Punkte für sein Haus. Doch wenn man die Regeln brach oder sich daneben benahm, wurden die Punkte abgezogen. Nun lernte ich eine neue und bittere Lektion – mein Verhalten hier hatte Auswirkungen auf meine Mitschüler in Slytherin. Hätte ich mich einfach bei McGonagall entschuldigt, hätte ich mich nicht meinem neuen Zuhause gegenüber schuldige gemacht. Eine äußerst wirkungsvolle Erziehungsmethode, die Hogwarts da bei seinen Schülern anwandte.
Am Nachmittag quälte mich der grauenvolle Start in den neuen Schulalltag immer noch. Ron versuchte, mich aufzuheitern: „Das war noch gar nichts, Kim. Harry hat sich am ersten Tag verbotenerweise mit Malfoy ein Duell auf dem Besen geliefert.“
„Das sagtest du mir schon, Ron.“, erwiderte ich niedergeschlagen. „Und als Dank wurde er in die Hausmannschaft aufgenommen. Und was habe ich vorzuweisen? Alle in Slytherin hassen mich!“
„Auf die brauchst du nun wirklich nichts zu geben!“, sagte Neville. „Könnten sie dich leiden, könnte mit dir irgendwas nicht stimmen.“
„Aber ich verbringe die meiste Zeit dort!“, brach es verzweifelt aus mir heraus. „Gibt es nicht irgendeine Möglichkeit, dass ich das Haus tauschen kann? Es ist mir egal, wohin ich komme. Ich will nur weg von den Slytherins… allen voran Draco Malfoy.“
„Hat er dir etwas getan?“, fragte Harry.
Alle sahen mich lauernd an und ich bereute, dass mir der letzte Satz herausgerutscht war. „Nein… es ist nur… seine Gegenwart…“
„Wir wissen genau, was du sagen willst!“, ging Ron Zähne knirschend dazwischen.
Das erleichterte mich zwar, dennoch bezweifelte ich, dass er auch nur ansatzweise wusste, was ich hatte sagen wollen. Gott sei Dank.
„Wie wäre es denn zur Aufmunterung mit unserem Angebot, dir Hogwarts etwas näher zu bringen?“, fragte Fred aufmunternd und George fügte verschwörerisch hinzu, indem er sich zu mir beugte: „Und zwar auf eine Art und Weise, wie du es sonst noch nie gesehen hast.“
Das klang zumindest spaßig. Aber auch verboten. Ron sah schon wieder so sauer aus der Wäsche. Genau das war der Grund, dass ich sofort einwilligte. „Gern! Und wann?“
„Wie wäre es mit heute Nacht?“, erwiderte George.
„Mitternacht.“, ergänzte Fred und George fügte hinzu: „Schaffst du es allein bis auf die Ländereien?“
Ich starrte sie an und versuchte abzuschätzen, ob sie es ernst meinten. Jetzt konnte Ron nicht mehr an sich halten. „Habt ihr sie noch alle? Es ist ihre erste Woche hier und ihr riskiert schon, dass sie von der Schule geschmissen wird.“
„Ganz locker, Brüderchen.“, erwiderte Fred genervt. „Du klingst genau wie Percy. Wenn es den geringsten Grund zur Sorge gäbe, würden wir es doch nicht machen, oder?“
Ron sah nicht gerade überzeugt aus, darum fügte George hinzu: „Es gibt einen Geheimgang. Kennst du die Statue der einäugigen Hexe im dritten Stock? Sie steht in einer Nische im Gang zur Bibliothek. Nahe des Astronomieturms.“
Bilder schossen durch meinen Kopf. Draco, wie er mir folgte, ein Buch unter seinen Arm geklemmt. Wie wir dicht beieinander bei der Statue standen und uns in ihrem Schatten versteckten… seine grauen Augen, die in meine sahen. Ich schluckte und erwiderte mit belegter Stimme: „Ja, die kenne ich.“
„Du musst ihren Buckel mit deinem Zauberstab antippen. Er wird sich öffnen und dir einen Geheimgang freilegen. Nur wir kennen ihn, dort bist du völlig sicher. Er führt dich direkt auf die Ländereien.“, erklärte Fred.
„Und dann geht der Spaß erst richtig los.“ George rieb sich die Hände.
„Nagut, wir kommen auch mit.“, sagte Ron. Harry warf mir einen vielsagenden Blick zu, ehe ich in die Luft ging: „Seit wann bist du eigentlich mein persönlicher Begleitschutz! Du wirst nicht mitkommen! Du bist nicht eingeladen.“
„Tja, Ron. Du hast es gehört.“, sagte Fred. „Sie will mit uns allein sein.“
Toll, jetzt wurde ich auch noch von zwei Seiten getriezt. So musste es sich anfühlen, Geschwister zu haben. Zum Glück hatte ich das nicht.
„Tja, leider könnt ihr uns nicht daran hindern, wenn Harry und ich zufällig auch dort lang wollen.“, erwiderte Ron.
„Du bist so kindisch!“, giftete ich ihn an.
„Ich und kindisch, ja? Wer jammert denn die ganze Zeit, dass er für Slytherin schon Punkte verloren hat und nun setzt du mehr als dreimal so viel aufs Spiel!“, schoss er zurück.
Da hatte er leider Recht. Und das konnte ich jetzt ganz und gar nicht gebrauchen. Schwungvoll stand ich auf und verließ mit großen Schritten die Gryffindorgruppe. Hinter mir brach eine laute Diskussion zwischen den Jungs los, doch es war mir egal.
Wie mit Fred und George vereinbart, schlich ich mich eine halbe Stunde vor dem Zeitpunkt, den wir uns vor Ron und Harry ausgemacht hatten, zur Statue der einäugigen Hexe. So konnte ich verhindern, dass Ron mir folgte. Mir war immer noch nicht klar, warum er sich stets so aufspielte, wenn es um mich ging und es ärgerte mich zunehmend. Deshalb hatte ich jetzt auch gar kein schlechtes Gewissen, als ich die Geheimtür – den Buckel der Hexenstatue – von der Innenseite versiegelte, wie Fred und George es mir gesagt hatten, nachdem ich ungesehen hindurch geschlüpft war.
Ab hier konnte mir nichts mehr passieren, dennoch war es gespenstisch. Der Gang war lang und dunkel. Ich konnte nichts weiter erkennen als feuchte, alte Mauern, was ein klaustrophobisches Gefühl in mir verursachte. Zum Glück war einer der wenigen kleinen Zauber, die ich nach meinem ersten Schultag beherrschte „Lumos“, mit dem ich meinen Zauberstab zu einer Taschenlampe umfunktionieren konnte. Dennoch sputete ich mich, dem Geräusch meiner eigenen Schritte zu entkommen. Bisher war mir nie klar gewesen, welche Angst ich allein in engen, dunklen Räumen hatte. Das konnte natürlich daran liegen, dass ich bisher in noch keinem gewesen bin.
So war es nicht verwunderlich, dass ich erleichtert war, endlich am Ende des Ganges eine poröse Treppe erkennen zu können, die ich hastig erklomm. Eine Falltür führte mich auf die feuchte Wiese der Ländereien. Genauer gesagt führte sie mich direkt vor den Eingang zum verbotenen Wald. Dieses nebensächliche Detail hatten Fred und George tatsächlich vergessen zu erwähnen. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was Neville und Seamus über den Wald erzählt hatten und spähte über die dunklen Ländereien. Nicht einmal in Hagrids Hütte brannte noch Licht, sodass der volle Mond meine einzige Lichtquelle war. Von Fred und George war weit und breit nichts zu sehen. Ob das ein übler Scherz der beiden sein sollte? Nein, soweit würden selbst die zwei nicht gehen, schließlich war es nicht ganz ungefährlich für mich, jetzt allein hier am Wald zu stehen.
Ich überlegte gerade, ob ich die Treppe der Falltür wieder herunter steigen und im Gang auf sie warten sollte, da fegte ein eisiger Windstoß die Klappe zu meinen Füßen nach unten. Das Klicken eines Schlosses ließ mich nichts Gutes erahnen. Tatsächlich – als ich an der Falltür rüttelte, war sie verschlossen.
Jetzt bekam ich Panik. Irgendetwas war schiefgelaufen. Die beiden müssten längst hier sein. Aber nur ich war hier und ich hatte keine Ahnung, wie ich zurück ins Schloss gelangen sollte, ohne bereits am ersten Tag schon bei einem der größten Vergehen hier erwischt zu werden. Ich konnte mir lebhaft Rons Blicke vorstellen, während er sagte: „Tja, ich habe dich gewarnt.“
Doch alles erschien mir besser, als weiter hier draußen zu warten, zumal ich seltsame Geräusche jenseits des Dickichts hinter mir hörte. Mir fuhr es heiß und kalt den Rücken hinunter und ich wollte mich gerade auf den schnellsten Weg zum Schloss zurückbegeben, da sah ich sie aus der Ferne in meine Richtung kommen. Es waren hochgewachsene Gestalten mit zerfetzten schwarzen Umhängen. Sie glitten lautlos über den feuchten Boden Richtung Wald zu und irgendetwas an ihren Bewegungen ließ mich starr vor Angst werden. Sie strahlten einen bedrohlichen, alles zerstörenden Hunger aus. Intuitiv wusste ich, dass es sich hierbei um nichts Menschliches handelte. „Ach du Scheiße!“
Plötzlich erschien mir der Wald wie ein willkommenes Versteck und ich rannte ohne weiter darüber nachzudenken in den Schutz der Bäume. Ich konnte nicht mehr aufhören zu rennen. Ich wollte nicht stehen bleiben, wollte mich nicht einmal umsehen. War es nur meine eigene Panik, die mir da im Nacken saß oder verfolgten sie mich noch immer?
Denn da war etwas, eine stille Gegenwart, nur einen Herzschlag von mir entfernt. Ich war am Rande einer Ohnmacht, als ich immer verzweifelter vorwärts stolperte. Je tiefer ich in den Wald eindrang, desto schwieriger gestaltete sich das Vorwärtskommen. Riesige Wurzeln ragten aus dem unebenen Boden, über den nun dicke Nebelschwaden zogen. Es wurde von Minute zu Minute kälter, dennoch rann mir der Schweiß über den ganzen Körper.
Als ich von weit her den ersten Schrei vernahm – den einer Frau – hielt ich inne und wandte mich um. Doch da war nichts. Das heißt - doch, da waren eindeutig Schritte. Eilige Schritte, die sich rasch auf mich zu bewegten. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Wenn ich anfing zu rennen, hätte mein Verfolger sofort meine Schritte gehört. Allerdings konnte ich auch schlecht hier stehen bleiben und auf den sicheren Tod warten.
Wie war ich nur in eine solch ausweglose Lage geraten? Ich hatte doch einfach nur einige Regeln brechen wollen. Was das in dieser Welt nach sich ziehen konnte, wurde mir jetzt erst klar. Wieder fiel mir Rons scheinbar übertriebene Sorge ein, die mir jetzt gar nicht mehr übertrieben erschien. In diesem Moment fehlte er mir heiß und innig. Ich hätte mich gern bei ihm für meine bissigen Antworten entschuldigt und schwor mir, dass ich es sofort täte – wenn ich diesen Wahnsinn hier überlebte.
Doch da riss es mich von den Beinen. Ich wollte schreien, doch eine Hand hinderte mich daran, während mich das Gewicht eines Körpers in den Waldboden drückte. „Bekomm deine Emotionen in den Griff, sonst sind wir sofort tot.“
Mein Herzschlag setzte aus. Diese Stimme kannte ich. Draco. Aber was tat er hier? Und was meinte er damit? Ich strampelte mit meinen Füßen, was nur zur Folge hatte, dass ich Dreck aufwühlte. Befreien konnte ich mich aus seinem Griff nicht.
„Shh, du bringst uns um, verstehst du das nicht? Sie sind hinter dir her.“, sagte er leise.
Ich verstand noch immer nichts, doch war nun mucksmäuschenstill. Eines war klar, er war hier, um mir zu helfen. Doch warum und was tat er um diese Uhrzeit überhaupt hier? Es waren zu viele Fragen, die ich durch den Schleier meiner Ängste nicht zu fassen bekam. Und da war noch etwas anderes – seine Nähe. Mein Herz schlug wie eine Trommel gegen meine Brust. So stark, dass ich mir sicher war, dass er es spüren musste. Einen Moment, nachdem ich diesen beunruhigenden Gedanken hatte, strich er mir mit einer Geste durchs Haar, die wohl beruhigend sein sollte. Er glaubte wohl, mein Herz schlug aus Angst so schnell. Natürlich bewirkte seine schlichte Geste das genaue Gegenteil, da zählte er eins und eins zusammen. Seine grauen Augen fanden meine und weiteten sich überrascht, als ich es nicht schaffte, die Sehnsucht rechtzeitig vor ihm zu verbergen. Und so lagen wir zusammen auf dem Waldboden, gefangen zwischen Angst und Glück.
Als er seine Hand von meinem Mund zog, wusste ich schon, dass er das nicht tat, um mich die Fragen aussprechen zu lassen, die mir jetzt eigentlich so wichtig erscheinen sollten. Selbst die Gefahr war nebensächlich angesichts dessen, was ich empfand. Neben einem Gefühl von solcher Größenordnung erschien mir irgendwie alles nebensächlich.
Wenn ich mir meinen ersten Kuss ausgemalt hatte, dann sicher nicht so. Doch irgendwie passte es perfekt zu mir und meinem chaotischen Leben. Doch es kam nicht dazu, nicht heute Nacht.
Draco wandte sich abprupt ab, sprang auf und zog mich mit sich hoch. Doch da waren sie schon. Die Kapuzengestalten – es waren über zwei Dutzend und jetzt aus der Nähe, sahen sie noch viel grauenerregender aus als vorhin. Ihre zerfetzten Umhänge schleiften über den Boden. Füße konnte ich nicht erkennen, noch hinterließen sie Spuren. Sie waren lautlose Schatten mit Händen wie Moorleichen. Ihr Atem rasselte und kündete von Gefahr und Endgültigkeit.
„Was ist das?“, fragte ich entsetzt.
Da hörte ich sie wieder schreien. „Bitte nicht. Nimm mir nicht meine einzige Tochter!“
Der Schrei der Frau vermischte sich mit meinen eigenen. Die Kälte war unerträglich. Ich konnte nichts mehr sehen. Zwar spürte ich den Waldboden unter meinem Körper – ich musste zusammengebrochen sein – und Dracos Gegenwart. Doch zeitgleich war ich irgendwo anders. War das meine Mutter? Was war damals wirklich geschehen?
Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, da brach sich ein weißes Licht Bahn und riss mich aus meiner Dunkelheit. Ich tauchte daraus hervor wie aus einem hundertjährigen Schlaf und sah gerade noch, wie etwas Riesiges, bestehend aus purem Licht, die Gestalten zurückdrängte. Doch es waren einfach zu viele.
Bevor ich mich versah, riss Draco mich wieder zu Boden, zog seinen Umhang aus und warf ihn über uns beide. Trotz des dunklen Stoffes, konnte ich jede Faser seines Gesichts erkennen, als er mich mit schreckgeweiteten Augen anstarrte. „Das wird sie nicht aufhalten, Kim. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll“
„Warum glaubst du, etwas tun zu müssen?“, flüsterte ich.
Seltsamerweise hatte ich gar keine Angst, in dieser kleinen Welt unter schwarzem Stoff, die uns allein gehörte. Er öffnete den Mund für eine Erwiderung, da wurde der Boden von schweren Schritten erschüttert. Wieder so ein helles Licht. Ich merkte sofort, dass die Schatten dieses Mal wirklich den Rückzug antraten. Doch was war das, was da stattdessen die Lichtung betreten hatte?