Als Noe am Montagmorgen aufwachte, wusste er intuitiv, dass es ein richtiger Scheisstag werden würde. Und das lag nicht daran, dass Montag war. Grundsätzlich mochte er den ersten Wochentag sogar ziemlich gerne, weil er tolle Fächer in der Schule hatte und der Tag für einen Neustart stand.
Aber es würde ein Scheissmontag werden.
Denn heute wäre ihr zweiter Jahrestag, wenn Kyo nach da wäre. Er konnte sich noch ganz genau daran erinnern, als sie sich am Nachmittag bei Kyo Zuhause geküsst hatten. Zögerlich und sanft.
Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Noe wollte nicht weinen. Das war etwas, was er oft genug getan hatte nach dem Tod seines Freundes.
Draussen war es noch dunkel, die Strassenlaternen waren die einzige Lichtquelle. Mit einem Gähnen wälzte er sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, um aufzuwachen.
Erst jetzt bemerkte er die tiefen Ringe unter seinen Augen, die bläulich-violett schimmerten. Die Übernachtungsparty bei Nuriel hatte auch ihre Spuren hinterlassen. Zurück in seinem Zimmer streifte er sich einen dunkelgrauen Kapuzenpulli über den Kopf und zog sich eine Jeans an. Er hörte wie Kevin und Leia, genau wie seine Eltern aufstanden. Mit dem Schulsack über der Schulter ging er nach unten, wo er sich ein Marmeladenbrot strich.
»Morgen, grosser Bruder«, trällerte Leia und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Hey Leia«, begrüsste er seine kleine Schwester.
Er war den Tag jetzt schon leid.
Irgendwie kämpfte er sich durch die Schulstunden ohne zusammenzubrechen. Jeder Lehrer hatte mindestens zweimal seinen Namen sagen müssen, bevor er auf ihre Fragen reagierte.
Nuriel, Nico und Katy waren den ganzen Tag über sehr bedacht darauf was sie in seiner Gegenwart sagten, wofür er ihnen wirklich dankbar war.
Als es um halb vier zum Schulschluss klingelte, stürzte er aus dem Gebäude. In seinem Auto stöpselte Noe sich die Kopfhörer in die Ohren und drückte auf das oberste Lied von der »KYO&NOE«-Playlist, die sie zusammen erstellt hatten. Mit einem bedrückenden Gefühl auf der Brust bemerkte er, dass dort »0 Follower« stand. Früher hatte dort immer »1 Follower« gestanden.
Er war froh, dass Kevin und Leia heute Nachmittag noch Basketball Training hatten. So konnte er in aller Ruhe zum Friedhof fahren. Die Musik zog ihn in seinen Bann, liess Erinnerungen aufwirbeln, wie Wind Sandkörner.
Mit einem Seufzen stellte er zehn Minuten später den Motor auf dem Parkplatz des Friedhofes ab. Die Mütze auf den blonden Locken und die Hände in seinem dunkelgrauen Kapuzenpullover vergraben, stieg er aus seinem Jeep.
Ein etwas eisiger Wind wehte, brachte die Blätter zum Rascheln. Der Boden war über und über mit den bräunlich-gelben Laubblätter der Ahorne bedeckt.
Bei jedem Schritt knisterte es unter seinen Schuhen. Vor dem Grab von Kyo blieb er stehen.
Kyo Nakamura
»Tomorrow belongs to those who can hear it coming.«
2.4.1999 – 13.12.2017
Die Inschrift stach auf dem hellgrauen Marmorstein hervor. Mit den Fingern fuhr er sanft über die raue Oberfläche und die Einbuchtungen des Zitats.
Ein trauriges Lächeln auf den Lippen, setzte er sich neben den Grabstein.
»Morgen gehört denen, die es kommen hören«, flüsterte der Blonde. »Ich dachte immer, wenn jemand das Morgen hören würde, dann wärst du das.«
David Bowie war Kyos grosses Vorbild. Sein Freund hatte jedes seiner Lieder gekannt, konnte alle auf dem Klavier und der Gitarre spielen. Aber am liebsten hatte Noe es immer gemocht, wenn Kyo gesungen hatte.
Wenn er gesungen hatte, waren seine Augen geschlossen, die Wimpern berührten die Wangen und sein Gesicht war vollkommen entspannt. Seine Stimme war süss wie Honig und floss durch den ganzen Körper.
Das Zitat auf dem Grabstein war fast schon lachhaft ironisch. Schliesslich war Kyo, der mit dem besten Gehör, der das Morgen sehr wahrscheinlich auch gehört hatte.
Und dennoch wurde ihm die Chance auf ein Morgen genommen, weil irgendein Idiot ihn überfahren hatte.
Ein Autounfall.
Ein verdammter Autounfall.
Die erste Töne von »Oceans« von Seafret erfüllten seine Ohren und mit einem Schluchzen nahm er den einen Ohrstöpsel raus.
»Hörst du das Kyo? Hörst du es?«
I want you
Yeah I want you
And nothing comes close
To the way that I need you
I wish I can feel your skin
And I want you
From somewhere within
It feels like there's oceans
Between me and you once again
We hide our emotions
Under the surface and tryin' to pretend
But it feels like there's oceans
Between you and me
I want you
And I always will
I wish I was worth
But I know what you deserve
You know I'd rather drown
Than to go on without you
But you're pulling me down
It feels like there's oceans
Between you and me once again
We hide our emotions
Under the surface and try to pretend
But it feels like there's oceans
Between you and me
I want you
I want you
And always will
It feels like there's oceans
Between you and me
Zwischen ihnen waren Ozeane.
Riesige, bitterkalte und tote Ozeane.
Kaum waren seine Tränen trocken, kamen bereits wieder neue nach. Sein Körper bebte mittlerweile unter den unkontrollierbaren Schluchzern, die aus ihm hervorbrachen.
»Weißt du ich habe jemanden kennengelernt«, flüsterte er leise. »Er ist humorvoll, schlau und charmant.«
Der Wind liess weiter Blätter aufwehen, so dass Noe sich tiefer in seinem Pullover verkroch.
»Ich mag ihn echt gern«, fuhr er fort. »Mehr als nur einen Freund. Aber weißt du was? Ich kann es nicht. Ich kann ihn nicht treffen. Weil du immer da bist. Du bist überall, Kyo. Ich werde dich einfach nicht los. Ich kann dich nicht loslassen.«
Mittlerweile huschte sein Blick verzweifelt umher. Die blauen Augen glitzerten wirr, während er versuchte seinen Atem zu beruhigen.
»Ich liebe dich. Und das werde ich wahrscheinlich immer tun. Aber ich würde dich so gerne loslassen können.«
Er hatte nie die Chance gehabt sich von Kyo zu verabschieden. Da war bloss dieser Anruf gewesen von den Nakamuras, in dem sie ihm sagten, dass ihr Sohn gestorben war.
Von einem Schlag auf den anderen.
In einem Moment hatte sein Herz noch geschlagen und im nächsten war es einfach stehen geblieben.
Noe war das Telefon aus der Hand gerutscht.
In diesem Moment kam die Erinnerung hoch. So hell und klar, als würde ein Film vor seinem inneren Augen abspielen.