»Ich habe gehört, dass jemand hier frische Muffins möchte«, zwitscherte eine Stimme und riss ihn aus dem Schlaf.
»Ja! Wir!«, kreischten die Zwillinge begeistert. Grummelnd kletterte er aus dem Bett, schlurfte nach unten.
»Muffins? Hat jemand Muffins gesagt?« Blinzelnd rieb er sich die Augen. Katy grinste ihn breit an, eine Schachtel voll köstlich riechendem Gebäck in den Händen.
»Ich brauchen Muffin. Und Kaffee!«, murmelte er wie ein Zombie, steuerte auf die Blonde zu. »Hergeben!«
»Hier, du Morgenmuffel«, begrüsste sie ihn und drückte ihm einen Cupcake in die Hand.
»Und hier, einen Kaffee.« Nuriel stellte einen Cappuccino vor ihm auf den Tisch.
»Ist Nico auch hier?« Immer noch nicht ganz wach, liess er sich auf einen Stuhl fallen.
»Hier hinten, Bro«, erklang es aus der Küche.
Er nahm einen Biss von dem Gebäck. Innen war die Schokolade noch weich, verging ihm auf der Zunge. »Katy, ich liebe dich.« Dann nahm er einen Schluck von dem Kaffee. »Hm. Dich liebe ich auch, Nuriel«, seufzte er.
Süsses und Koffein waren wirklich die besten Mittel, um wach zu werden.
»Was ist mit mir, Mann?« Nico tauchte aus der Küche auf. Die Hände in die Hüften gestemmt, mit empörtem Blick.
»Du verdienst meine Liebe nicht. Du hast zu vielen Leuten schon das Herz gebrochen«, erwiderte Noé grinsend.
»Keine Anspielungen auf diesen neuen bescheuerten Klub«, knurrte sein bester Freund. Kapitulierend hob er die Arme. »Was führt euch eigentlich in dieses wundervolle Reich, genannt Haus der Whitneys?«
Katy setzte sich zu ihm an den Tisch. »Wir dachten heute wäre ein guter Tag, um Plätzchen zu backen.«
»Dürfen wir mitbacken?«, fragte Kevin aufgeregt.
Nuriel grinste. »Aber klar doch.«
Also backten sie. Nachdem Noé geduscht hatte, sich eine Jogginghose und einen Pullover angezogen hatte, fingen sie an die Teige zu kneten. Die Zwillinge machten Lebkuchen, beziehungswiese sie nahmen ganz viel Zuckerguss und ein wenig Lebkuchenteig zur Verzierung.
Katy war zuständig für die Vanillekipferl, während Nuriel sich mit den Brownies beschäftigte. Nico wollte die Zimtsterne machen, wobei er das wohl noch nie zuvor gemacht hatte, wenn man die Zimtklumpen betrachtete, die er in den Ofen schob.
Und Noé kümmerte sich um die Chocolate Chip Cookies. Schon bald roch es im ganzen Haus wie in einer Weihnachtsbäckerei.
Als sie kurz nach ein Uhr alle Plätzchen fertig gebacken hatten, füllten sie alle in unterschiedliche Dosen ab. Mit den verkommenen Gebäcken machten sie es sich auf der Couch bequem. Sie schoben »Im Dutzend Billiger« in den DVD-Player, assen in den ersten zehn Minuten des Films schon die Hälfte der Kekse.
Gerade als die Kinder erfuhren, dass sie umziehen würden, klingelte es an der Tür. Niemand der Anderen machte Anstalten aufzustehen, also ging Noé, um nachzuschauen wer da war. Wahrscheinlich bloss Jeremy und Ricky, die wissen wollten ob Leia und Kevin Zeit hatten, um mit ihnen abzumachen.
»Kevin und Leia schauen gerade mit uns einen Film. Wollt ihr ... «, begann er als er die Tür öffnete.
Aber da standen nicht Jeremy und Ricky.
Auf der verblassten »Willkommen«-Fussmatte stand ein junger Mann etwa in seinem Alter.
»Bist du Noé?«, fragte der Dunkelhaarige ihn.
Verwirrt nickte er. »Und du bist?«
»Wer ist es denn?«, rief Katy von drinnen.
»Weiss ich nicht«, brüllte er zurück. Gleichzeitig drehte er sich wieder zu dem Jungen um. Er hörte Nuriel im Wohnzimmer kichern.
»Ich bin James.«
Ihm blieb das Herz stehen.
Das war sie also. Ihre erste Begegnung.
Seine Zunge fühlte sich angeschwollen an, der Hals trocken. James hatte die Hände in den Hosentasche vergraben, wippte leicht vor und zurück. »Noé?«
Immer noch bewegte er sich nicht, brachte keinen Ton raus. Du musst etwas sagen, dachte er. Sag was. Irgendwas.
»Woher hast du meine Adresse?« Er hatte James nie seinen Nachnamen gesagt und er wusste, dass im Telefonbuch nur John und Evelyn Whitney aufgeführt waren.
Der Dunkelhaarige hielt mit dem Vor- und Zurückwippen inne. »Deine Freundin, Nuriel, hat mir geschrieben, wo du wohnst.«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging er hinein, schloss die Tür hinter sich. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Eingangsbereich ins Wohnzimmer.
»Da steht James vor der Tür!« Er klang nervös. Und er fühlte sich nervös.
Nuriel grinste fröhlich. »Ich weiss.«
»Ich weiss, dass du es weißt«, knurrte er. »Wie... Was... Wann hast du... Warum hast du?« Noé wusste nicht wie er die Frage formulieren sollte.
»Gestern Abend als du eingeschlafen bist, habe ich dein Handy genommen und James Handynummer auf meinem iPhone eingespeichert.«
»Er steht wirklich da draussen?«, fragte Leia mit grossen Augen.
»Ja!« Noé fühlte sich als würde ihm gleich der Schädel platzen. Mit einer Handbewegung bedeutete er Nuriel weiter zu erzählen.
»Ich habe ihm geschrieben, dass ich wirklich sehr für ihn hoffe, dass er einen guten Grund hatte, dich sitzenzulassen, weil es dir richtig beschissen geht. Und dann hat er gesagt, dass er alles tun würde, um es wieder gutzumachen. Also habe ich ihm deine Adresse gegeben.«
»Ich... Was soll... «, stotterte er rum. Da draussen stand James.
James, für den er etwas empfand.
James, mit dem er sich hatte treffen wollen.
James, der unglaublich gut aussah.
»Er steht immer noch da draussen«, bemerkte Katy sanft. »Und ich glaube auch nicht, dass er da wieder weggehen wird.«
»Komm schon. Hör dir wenigstens an, wieso er nicht gekommen ist. Danach kannst du ihn immer noch abschieben.« Nico zuckte die Achseln.
Noé nickte, noch nicht wirklich überzeugt. Trotzdem ging er wieder zur Haustür. Bevor er sie öffnete, atmete er einmal tief durch.
Er hatte James nur wenige Sekunden gesehen, aber hatte sich bereits dessen ganzes Erscheinungsbild in seinem Kopf verankert.
Die dunkelbraunen Haare, die ihm in die Stirn fielen, fast die blauen Augen berührten. Die blasse Haut, auf denen die roten Lippen hervorstachen. Der schwarze Kapuzenpulli, mit der Aufschrift »Gay as fuck«. Mit einem Ruck riss er die Tür auf.
James hob überrascht den Kopf, als hätte er nicht mehr damit gerechnet, dass er noch einmal kommen würde.
Sie starrten einander an, musterten sich.
»Willst du reinkommen?«, hörte Noé sich fragen.
Der Andere nickte. Nachdem sie beide eingetreten waren, schloss der Blonde die Tür. Zusammen gingen sie in die Küche, wo sie ausser Hörweite von Noés Freunden waren. Er lehnte sich an die Kochinsel in der Mitte, während James sich neben den Kühlschrank stellte.
Sie schwiegen.
Noé wusste nicht was er sagen sollte. Er fand, dass er auch gar nichts sagen müsste. Der Andere war schliesslich bei ihm aufgetaucht.
James zog sein Handy hervor, entsperrte es und hielt es ihm entgegen. »Das bist du oder?«
Es waren die Bilder und Aufnahmen von gestern Abend. Genau genommen war es das Video, das Leia und Kevin heute Morgen seiner Mutter gezeigt hatten.
Er nickte steif. Daran erinnert zu werden, machte die ganze Situation auch nicht besser.
»Ich wollte nicht, dass dir das passiert. Es tut mir so leid. So unglaublich«, entschuldigte sich der Dunkelhaarige. Noé schaute auf den Boden, wollte ihm nicht ins Gesicht sehen. »Ich habe mich wirklich auf das Treffen mit dir gefreut.«
Noé erwiderte immer noch nichts. Was sollte er auch sagen?
»Es tut mir leid, was mit deinem Freund passiert ist«, flüsterte James.
Da kochte Wut in ihm hoch. Er riss den Kopf nach oben, schaute den Anderen an. »Darüber willst du reden? Darüber?!«
Der Dunkelhaarige öffnete den Mund, wollte etwas erwidern.
»Nicht darüber, dass du nicht gekommen bist? Wie sehr du mich enttäuscht hast? Dass du nicht geschrieben hast?« Noé stiegen vor Wut die Tränen in die Augen. »Weswegen konntest du nicht kommen?«
Der Andere biss sich auf die Lippe. »Mir ist etwas dazwischen gekommen«, murmelte er.
Er stiess ein ungläubiges Lachen aus. »Dir ist etwas dazwischen gekommen. Ist vielleicht ein Zug über dein Handy gefahren und dann konntest du mir nicht antworten oder was?«
James schaute ihn flehend an. »Es tut mir leid.«
»Das sagtest du bereits. Ich wüsste, aber gern den genauen Grund weshalb du nicht gekommen bist.«
In seinen dunkelblauen Augen lag Schmerz, als er den Mund öffnete. »Ich... Ich wollte gerade das Haus verlassen, als Ryan hereinkam. Er ist reingestürmt und hat gesagt, dass es ihm leid tut. Alles, was er mir angetan hat. Dass er weiss wie sehr er mich verletzt hat, aber auch, dass er jetzt bereit ist eine Beziehung mit mir zu führen.«
Noé hörte ihm zu. Er war irgendwie in einer Art Starre gefangen.
»Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er hat mich so oft verletzt, ich kann es gar nicht mehr zählen. Aber dennoch, er war Ryan. Ich habe gesagt, dass ich verabredet bin. Mit dir. Er hat mich geküsst. Ich habe ihn zurückgeküsst. Ich dachte, ich hätte keine Gefühle mehr für ihn, aber das war wohl nicht so. Denn die Gefühle brannten mit uns beiden durch.« Die Worte sprudelten nur so aus James heraus. »Eins führte zum anderen und ich habe die Zeit vergessen. Nur hat Ryan seine Worte wohl nicht so gemeint, denn am Morgen war er verschwunden.«
Er hörte den Schmerz und die Enttäuschung in dessen Worte, aber Noé fühlte sich als hätte der Andere ihn betrogen.
»Geh. Bitte geh«, flüsterte er heiser.
»Noé.« James‘ Stimme war flehend. Die dunkelblauen Augen hatte er weit aufgerissen, voller Reue.
Aber es drang nicht zu ihm durch. Er war so verletzt, so enttäuscht, dass er einfach nur noch für immer in einem Loch hocken wollte.
»James«, das Wort kaum mehr als ein Hauchen, »Geh.«
Doch der Andere bewegte sich noch immer noch nicht. »Noé, es tut mir leid. So sehr.« In seinen Augen stand pure Verzweiflung, aber er ignorierte sie.
»Verschwinde. Ich will dich nie wiedersehen«, knurrte er ihn an. »Du hast mich verletzt. Mehr als irgendjemand sonst es jemals getan hat. Und es gibt nichts, dass all das wieder gutmachen würde. Also geh einfach, James.«
Ihm stiegen die Tränen in die Augen. Aus so vielen Gründen, aber er hielt den Blick gesenkt. Konnte den Dunkelhaarigen keine weitere Sekunde anschauen. Weitere Augenblicke vergingen, schweigend, ohne dass sich jemand bewegte.
Und dann ging er.
Mit langsamen Schritten entfernte der Andere sich von ihm. Aus der Küche hinaus, in den Flur, den Eingangsbereich.
Schliesslich fiel die Tür ins Schloss.
James war gegangen.
So wie Kyo.
Und am Ende blieb Noé allein zurück.