Er warf einen Blick auf sein Handy. Eine neue Nachricht von James.
Es war bereits nach zwölf und Noe war so müde, dass ihm fast die Augen zufielen. Gähnend las er die Nachricht des Jungen.
»Ich weiss, dass wir uns noch nicht allzu lange kennen und wir auch erst seit kurzem miteinander telefonieren, aber ich wollte fragen, ob wir uns mal treffen wollen.«
Auf einmal war Noe wieder hellwach. Sein Herz schlug viel schneller als sonst und nervös las er weiter.
»Das kommt ziemlich überraschend, ich weiss. Aber ich mag dich echt gern, Noe und würde dich gerne mal treffen. Falls du dich nicht dazu bereit fühlst, das nicht willst oder was auch immer, ist das in Ordnung. Ich will dich zu nichts drängen.«
Mit zitternden Händen legte er sein Handy zur Seite. Er lehnte sich zurück und starrte an die weisse Zimmerdecke hoch.
Es kam ziemlich überraschend.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass James diesen Vorschlag machen würde. Wenn er irgendwann den Mut aufgebracht hätte, hätte er ihn gefragt.
Immer noch pochte sein Herz laut in seinem Brustkorb. Was sollte er ihm antworten?
Noe wollte James so gerne einmal treffen, aber irgendwie war er nicht bereit dazu. Seufzend fuhr er sich durch die blonden Locken. Er kniff die Augen zusammen, doch da tauchte auch schon Kyo in seinen Gedanken auf.
Verschmitzt lächelnd, mit den dunklen Haaren.
Tief in sich drinnen wusste er, dass sein Freund wollen würde, dass er nach vorne schaute. Weitermachte.
Aber trotzdem war da auch dieses nagende Gefühl, Schuld. Er fühlte sich schuldig und verräterisch, dass er dabei war sich in James zu verlieben.
Knurrend wälzte er sich stundenlang hin und her. Versuchte die beiden Jungen aus seinen Gedanken zu verdrängen und eine Entscheidung zu treffen. Doch keiner der zwei Punkte klappte.
»Noe!«, hörte er Nuriels zischende Stimme. Blinzelnd hob er den Kopf von der Tischplatte und sah sich verwirrt um. Miss Cheng schaute ihn mit spöttisch hochgezogener Augenbraue an.
»Ach, Herr Whitney, beehren Sie uns auch noch mit Ihrer geistigen Anwesenheit?«
Er war eingeschlafen.
Richtig klischeehaft, mit dem Kopf auf dem Tisch, während des Unterrichts einfach so eingepennt. James und Kyo hatten ihn die ganze Nacht über wachgehalten, so dass sein Hirn wohl entschieden hatte, den verlorenen Schlaf im Englischunterricht nachzuholen.
Die Klasse lachte über den Kommentar der Lehrerin. Gleichzeitig versuche Noe seine Gedanken zu ordnen und sich zu konzentrieren.
»Weshalb ist Carter nicht in der Lage eine Beziehung mit Lira einzugehen?«
Die Ironie der Frage zupfte als Lächeln an seinen Lippen.
Seine Mitschüler und Mitschülerinnen beobachteten ihn, warteten auf seine Antwort. Ein Seitenblick zu Nuriel zeigte, dass auch sie sich der Ironie des Ganzen nur allzu bewusst war.
»Trotz, dass Maria tot ist, kann Carter sie nicht loslassen. Sie ist, beziehungsweise war seine erste grosse Liebe und er wird sie immer lieben. Tief in seinem Inneren weiss er, dass sie wollen würde, dass er sein Leben weiterlebt, mutig ist und sich wieder verliebt. Carter schwankt zwischen diesem Gefühl des Verrats gegenüber Maria und diesem sich zu Liebe entwickelndem Gefühl gegenüber Lira.«
Nuriel warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
Miss Cheng lächelte etwas. »Und was denkst du sollte Carter tun?«
»Ich glaube er sollte sich Lira zuwenden, denn das bedeutet ja nicht, dass er Maria vergisst oder verrät.« Er hielt inne, nicht sicher ob er noch etwas hinzufügen sollte oder nicht. »Aber was er tun sollte und was er tun wird, ist nicht dasselbe. Aber ich glaube der Schlüsselpunkt von Carters Dilemma ist weder Maria noch Lira, sondern eigentlich, obwohl er sich das nicht eingestehen will, Angst ist. Angst davor eine weitere Person, die er liebt zu verlieren und diesen Schmerz noch einmal durchleben zu müssen. Er will es also gar nicht so weit kommen lassen, dass er sich wieder verliebt. Und das macht ihn zu einem grösseren Heuchler und Egoisten als sogar Rimond.«
»Sehr gut, Noe. Eine solch tiefgründige Antwort habe ich zwar nicht erwartet, aber du hast Recht. Carter macht sowohl sich selbst als auch allen anderen etwas vor. Er schiebt immer wieder den Grund vor, dass er Maria »betrügen« würde, wenn er sich auf Lira einliesse, aber eigentlich ist der Schlüsselpunkt, wie du gesagt hast, seine Angst. Er will nicht noch einmal diesen unglaublichen Schmerz erleben müssen. Marias Tod hat ihn zerrissen.
Carter spielt allen etwas vor, aber ob er wirklich ein so grosser Egoist ist? Er versucht bloss sich selbst zu schützen. Diesen Selbstschutz-Mechanismus hat jeder Mensch in sich, ist er dadurch egoistischer als wir?«
Die Frage schwebte im Raum, bis die Klingel das Ende der Stunde ankündigte. Die Schüler packten bereits ihre Sachen zusammen, als Miss Cheng noch rief: »Denkt aufs nächste Mal darüber nach.«
Als er zu Nuriel herübersah, grinste sie ihn an. Ihr Blick sagte: »Endlich siehst du es ein.«
»Halt die Klappe«, knurrte Noe.
»Ich habe dich auch lieb«, flötete seine beste Freundin. Sie legte ihm einen Arm um die Schultern. Er schlang seinen linken, um ihre Schultern und so torkelten sie zusammen in die Kantine, wo Nick und Katy sie mit hochgezogenen Augenbrauen erwarteten.
»Alles klar bei euch zwei?«
Die Dunkelhaarige liess sich neben das andere Mädchen auf den Stuhl fallen. Mit einem verschlagenen Grinsen antwortete sie. »Noe wurde grade erleuchtet.«
Kopfschüttelnd sah er seine beste Freundin an.
»In Bezug auf?«, fragte Nick stirnrunzelnd.
»Na, auf sein Kyo-James Dilemma«, erwidert Nuriel fröhlich lachend.
»Juhu«, kreischt Katy mit übertriebener Begeisterung.
Er lächelte etwas müde, mit den Gedanken bei der Nachricht von James. Er war diesem immer noch eine Antwort schuldig, hatte aber keine Ahnung, was er antworten sollte.
»Welcher der beiden schwirrt dir jetzt in deinem Locken-Köpfchen rum?« Katy grinste schief.
Der Satz war raus, bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte, ob er es ihnen sagen wollte. »James will sich mit mir treffen.«
Stille.
Nick sass wie erstarrt auf seinem Stuhl, die Augen fest auf Noe gerichtet.
Katys Mund stand offen. Speerangelweit.
Nuriel, die mit dem Stuhl gekippelt hatte, stellt ihn mit einem Rums wieder auf die vier Beine. Ihre Augen glänzten verdächtigt und ihre Lippen umspielte ein Lächeln.
»Und ich habe keine Ahnung was ich ihm antworten soll.« Verunsichert stocherte er in seinem Kartoffel-Püree rum.
»Ich freu mich ja so für dich«, kreischte Nuriel zeitgleich mit Katys: »Ich liebe diesen Kerl jetzt schon.«
Nicks schiefes Grinsen rundete das Ganze ab. »Jawohl, Mann.«
»Hast du deine Erleuchtung vergessen?«, tadelte Nuriel ihn mit weit aufgerissenen Augen.
Er schüttelte den Kopf. »Aber ich weiss nicht, ob ich schon bereit bin. Es kommt mir wie ein Riesensprung vor.«
Katy drückte seine Hand sanft. »Kann ich verstehen, aber James hat bereits einen Platz in deinem Herzen.«
Da hatte sie Recht.
Aber eine Stimme in seinem Kopf flüsterte: »Lass dir Zeit. Ihr kennt euch erst seit wenigen Monaten.«
Und dann war da diese andere Seite. »Du hast keine Zeit. Nutze jeden Tag, als wäre es dein letzter. Oder sein letzter. Du hast auch gedacht, dass Kyo und du alle Zeit der Welt habt, aber wie man sieht war dem nicht so.«
Hin und her gerissen zwischen »Ich treffe mich mit James« und »Ich bin noch nicht bereit dazu«, seufzte er.
Seine drei Freunde beobachteten ihn, während er langsam sein Handy aus der Tasche zog. Er reagierte selten impulsiv. Noe war immer der Ruhige, Vernünftige und Rationale. Immer Pro und Contra abwägend, traf er seine Entscheidungen.
Er war der Schlichtende, der jeden Streit mit seinen rationalen Gedanken in der Luft verpuffen liess.
Doch in diesem Moment, als er James eine Nachricht schrieb, war es nicht mehr als reine Impulsivität, die ihn leitete.