"Man, Reinkind, pennst du oder was? Was ist denn los mit dir", riss ihn sein Trainingspartner Marius Steinhauser aus den Gedanken.
"Sorry", nuschelte Harald und wandte sich ab, um den an ihm vorbeigeflogenen Ball wieder aufzusammeln und ihn Steini zu passen.
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er seit ein paar Tagen die Partnerübungen versemmelte, weil er in Gedanken war. Salome ging ihm nicht mehr aus dem Kopf und er wälzte jedes Wort, das sie zu ihm gesagt hatte, tausend mal in Gedanken hin und her.
"Was ist denn los mit dir?", fragte Steini, der inzwischen zu ihm herüber gekommen war.
"Du bist seit Tagen total anders, ist bei dir was passiert? Ich muss dir doch nicht sagen, dass du immer zu uns kommen kannst?".
Harald schüttelte den Kopf. "Ja, nein, danke. Ich will nicht reden. Ich weiß nicht, was ich euch erzählen soll."
"Aber dich beschäftigt doch etwas, ich bin doch nicht blind!", bohrte Steini weiter nach.
"Ja, aber ich will noch nicht reden. Wirklich. Danke Steini. Wir machen weiter."
Steini schwieg einen Moment, dann beugte er sich Haralds Wunsch und ging auf seine Position zurück. So abwesend und schlecht gelaunt hatte er Harald bisher nicht erlebt und er fragte sich, was ihn derart beschäftigte.
Oli, der seit neuestem auf der Trainer- statt auf der Spielerseite stand, kam zur Kontrolle vorbei und beobachtete Harald kritisch. Auch ihm war aufgefallen, dass Harald in den letzten Tagen viel zu sehr in Gedanken versunken war. Er hatte sich schon einige Male mit Niko gestritten und sich für heute vorgenommen, Harald vor einem Donnerwetter von Niko zu bewahren. Er gab Steini ein kurzes Zeichen, den Ball bei sich zu behalten und legte Harald einen Arm um die Schultern, der erschrocken zusammenzuckte.
"Reinkind, ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber ich rate dir dringend, das irgendwie abzustellen oder mit einem von uns darüber zu reden. Niko ist schon verdammt sauer auf dich und ich will dich eigentlich davor bewahren, von ihm zusammengefaltet zu werden."
"Zusammengefaltet?", hakte Harald mit gerunzelten Augenbrauen nach.
"Sagt man so im Deutschen. Er wird dich zur Sau machen, anschreien, du kennst ihn doch, wenn er sauer ist. Also lass es besser nicht darauf ankommen. Lass uns nach dem Training noch miteinander reden, oder schaffst du es, das einfach so wieder abzustellen?".
Harald nahm sich einen Moment Zeit, die Angebote gegeneinander abzuwägen. Keines anzunehmen, stand dank Nikos Zorn außer Frage, aber schaffte er es, selbst damit klar zu kommen, dass Salome ihn so beschäftigte?
Andererseits könnte er Oli zu einigen Fragen löchern, die ihm schon seit einiger Zeit im Kopf herumschwirrten. Vielleicht würde das helfen.
"Wir reden nach dem Training", entschied er deshalb.
Oli nickte zufrieden und entfernte sich wieder von den beiden, um die nächsten Trainingspärchen zu begutachten. Er tauschte mit Niko einen kurzen Blick und reckte den Daumen nach oben. Sie hatten abgesprochen, dass er sich um die Angelegenheit kümmern durfte, bevor Niko eingriff.
Nach dem Training lotste Oli seinen jungen Schützling ein wenig abseits von den anderen, denn er wusste nicht, welches Geständnis er nun zu erwarten hatte und ob es die Mitspieler sofort mitbekommen sollten.
"So mein Lieber, jetzt erzähl mal, was los ist. Ich bin schon verdammt gespannt."
Abwartend verschränkte Oli die Arme vor der Brust und sein neugieriger Blick machte es Harald nicht einfacher, die richtigen Worte zu finden. Ihm schwirrten so viele Fragen gleichzeitig durch den Kopf, dass er gar nicht wusste, wo er am Besten anfangen sollte.
"Wieso arbeitet man als Prostituierte?", fragte er schließlich.
Oli hob die Augenbrauen und war einen Moment lang sprachlos, denn er hatte mit einigem gerechnet, aber nicht mit einer solchen Frage.
"Wieso fragst du sowas? Verdienst du zu wenig bei uns", versuchte er seine Unsicherheit mit einem Witz zu kaschieren.
"Nein, ich habe jemand kennengelernt...", erzählte Harald, aber Oli fiel ihm ins Wort.
"DU? Du hast jemanden kennengelernt? Eine Prostituierte, fragst du deshalb? Sag nicht, dass du in einem Puff warst? Das hätte ich dir im Leben nie zugetraut."
Harald schüttelte energisch den Kopf. "Nein, ich war da nicht, es war eine Straße mit Frauen, so ein Strich heißt es auf Deutsch, oder?".
Oli hob die Augenbrauen. "Du warst auf einem Strich? Was hast du denn da verloren? Juckt es dich so sehr?".
"Wieso soll es mich jucken? Ich habe mich doch gewaschen", fragte Harald zurück, aber Oli hob die Hände. "Ist egal, das sagt man so im Deutschen. Also. Wieso warst du auf dem Strich?".
"Ich wollte da nicht hin. Ich bin einfach herumgefahren und dann war ich dort, es war schon dunkel und kalt. Sie stand da als Erste und sie hat ausgesehen, als wäre ihr kalt, deshalb habe ich sie in mein Auto gelassen. Wir haben uns ein bisschen unterhalten und dann ist sie halt wieder gegangen."
Oli überlegte einen Moment lang, ob Harald ihm gerade einen Bären aufbinden wollte, aber so unschuldig, wie Harald aussah, meinte er die Geschichte wohl wirklich ernst. Kopfschüttelnd verschränkte er die Arme.
"Die Geschichte ist dein Ernst, oder? Man Harald, du bist echt anders als andere. Jetzt erzähle mir noch, dass sie dich nicht komisch fand? Die wollte doch bestimmt mit dir Geld verdienen und hat dich angemacht?".
"Ja schon, ich habe ihr dann einfach so Geld gegeben", zuckte Harald mit den Schultern und entlockte damit Oli ein Seufzen.
"Okay, aber warum beschäftigt sie dich denn so? Weißt du denn überhaupt wie sie heißt? Es gibt eine Menge Frauen in dem Gewerbe, da dürfte es schwierig sein, sie zu finden."
"Nein", schüttelte Harald den Kopf, "sie heißt Salome und hat blau gefärbte Haare, sie hat gesagt, wenn ich jemanden danach frage, finde ich sie ganz leicht wieder."
Warum er sie wiederfinden wollte, konnte er noch nicht einmal selbst sagen. Er wusste nicht, was er machen würde, wenn er sie wiedersah. Am liebsten hätte er sie vor ihrem Beruf bewahrt, aber das war utopisch - oder?
"Oli, warum macht man sowas? Ich würde sie da gerne rausholen", meinte er schließlich.
Oli lachte auf. "Da hast du dir aber was vorgenommen. Selbst wenn sie das wollen würde, dürfte das gar nicht so einfach werden, wie hast du dir das denn vorgestellt? Ich glaube nicht, dass du einfach zu ihr spazieren kannst und sie dann mitnehmen kannst und dann ist alles gut. Und vielleicht will sie das alles ja auch gar nicht. Hast du sie mal danach gefragt?".
Eingeschüchtert von Olis Worten schüttelte Harald den Kopf.
"Nein, ich habe sie nicht gefragt, aber wieso sollte man das nicht wollen?".
"Keine Ahnung, soll es aber geben. Egal was du tust, Harald, pass auf dich auf. Ich glaube nicht, dass die in diesem Mileu so entspannt sind und ich will dich nicht von der Straße kratzen."
Harald runzelte wieder die Stirn, weil er die Redewendung nicht verstehen konnte und Oli winkte erneut ab. "Pass einfach auf, dass dir bei deinen Aktionen nichts passiert, sonst muss ich mir auch noch Sorgen machen, okay? Egal was du tust, pass auf dich auf, nochmal."
"Ja", nuschelte er dann, "ja ich passe auf, danke. Ich weiß noch gar nicht, was ich mache, ich muss mir noch etwas überlegen glaube ich."
Oli klopfte Harald gönnerhaft auf die Schulter.
"Mach, was du nicht lassen kannst, aber bleib gesund dabei. Und wenn du Hilfe brauchst oder so, frag mich. Lieber gehe ich mit dir als dich alleine von Zuhältern verprügeln zu lassen oder so."
Oli verabschiedete sich, und während er ging, überlegte er, ob er Niko von dem Gespräch erzählen sollte. Er war sich sicher, dass Harald sich gerade auf sehr gefährlichen Pfaden bewegte und das war garantiert nicht gut für ihn.
Andererseits wollte er nicht Pferde scheu machen, die Harald gar nicht aktivieren wollte. Er selbst hatte ja gesagt, dass er noch gar nicht wusste, was er jetzt als nächstes machen würde.
Wenn Niko allerdings davon Wind bekäme, dann wäre der Teufel los. Harald war noch relativ neu in der Mannschaft und einen Wutausbruch von Niko wollte er den neuen Spielern so lange wie möglich ersparen.
Harald, der sich inzwischen in sein Auto gesetzt hatte, fühlte sich nicht unbedingt schlauer als zuvor. Nur eins wusste er ziemlich sicher: Er wollte sich nicht davon abbringen lassen, Salome zu helfen. Zumindest von niemandem außer ihr selbst.
Aber wie er das Ganze anstellen sollte, dabei hatte ihm das Gespräch mit Oli auch nicht so wirklich geholfen. Dass Oli ihm seine Hilfe angeboten hatte, war immerhin schon Mal ein Fortschritt.
Vielleicht sollte er sich als nächstes darum kümmern, mehr über Salome zu erfahren, speziell ob sie von ihm Hilfe annehmen wollte oder nicht. Dazu müsste er sie nochmals besuchen. Gerade war er dafür zu kaputt, aber morgen Nachmittag, wenn er frei hatte, bot sich dafür die passende Gelegenheit.
Den Plan gefasst, morgen Nachmittag nach Salome zu suchen, startete er seinen Motor und machte sich zielstrebig auf den Heimweg. Er widerstand der Ausfahrt, die ihn zu Salome hätte führen können, seine Müdigkeit war viel zu übermächtig. Trotzdem kribbelte es in seiner Bauchgegend beim Gedanken daran, morgen Salome wieder zu sehen, sehr deutlich.
Mit einem breiten Grinsen und sehr zufrieden mit sich selbst lenkte er den Wagen nach Hause.