Salome hatte Glück gehabt, bis auf die Unterkühlung nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Doktor Schmidt hatte sie am nächsten Morgen noch einmal gründlich untersucht, um dann festzustellen, dass er mit ihrem Genesungsfortschritt sehr zufrieden war. Nur wenige Tage später konnte sie das Krankenhaus wieder verlassen. Salome hatte sich sofort bei Harald gemeldet, noch immer glücklich darüber, dass er versprochen hatte, ihr zu helfen. Wenn er nun auch noch sein Versprechen einlösen würde, dass er ihr am Telefon gegeben hatte, dann wusste Salome, dass sie ihm vertrauen konnte wie keinem anderen Mann bisher.
Da sie so selten Service genoss, tat es ihr fast leid, aus dem Krankenhaus verschwinden zu müssen. Das Essen war nun nicht gerade komfortabel, aber sie wurde bedient und musste nicht einmal selbst ihr Bett aufschütteln. Das würde ihr definitiv fehlen. Selbst an die anfangs lästige Fürsorge der Krankenschwestern hatte Salome sich so gewöhnt, dass sie ihnen schon fast wehmütig nachtrauerte, während sie im Foyer stand.
Harald hatte versprochen, sie abzuholen, das war eine wesentlich angenehmere Vorstellung, als wenn Juri auf sie gewartet hätte. Der hatte sich in den vergangenen Tagen nicht ein Mal gemeldet und Salome grauste vor dem Gedanken an das Wiedersehen mit ihm.
Da auch keine ihrer Arbeitskolleginnen sie überhaupt kontaktiert hatte, wusste sie nicht, ob Juri besorgt oder wütend über den Verdienstausfall war, beides hielt sie für möglich.Falls letzteres der Fall war, und davon war Salome überzeugt, würde es ihr schlecht ergehen, sobald sie Juri unter die Augen trat.
Umso erleichterter war sie aber, dass im Foyer des Krankenhauses Harald auf sie wartete. Zumindest hoffte Salome das, denn entdeckt hatte sie ihn noch nicht. Weil das Foyer aber heute sehr voll mit Menschen war, hatte sie die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, Harald würde sie heute abholen.
Harald saß auch schon im Eingangsbereich, wo sie sich verabredet hatten, aber er konnte Salome nirgends erkennen. Viele Menschen krochen, eilten oder schlichen um ihn herum, je nachdem, ob sie Pfleger oder Patient waren. Besucher, die einzigen Menschen in Straßentauglichen Kleidern ohne Verband liefen in gemütlichem Tempo zu ihrem Ziel, manche schauten sich fragend um und schienen nicht zu wissen, wo ihr Ziel war.
Unter all diesen Menschen erkannte Harald Salome nur deshalb zielsicher, weil ihre Haare immer noch strahlend blau gefärbt waren, die Farbe fiel in der Masse auf. Darauf bedacht, von ihr nicht entdeckt zu werden, schlängelte sich Harald durch die Menschenmasse, bis er hinter ihr stand. Er legte die Hände über ihre Augen und wollte ihr mit der Überraschung eine Freude machen, aber Salome verkrampfte und zerrte energisch an seinen Armen.
„Lass mich los, Harald, sofort“, fauchte sie, ihr stand der Angstschweiß auf der Stirn.
Irritiert nahm Harald die Hände runter, während Salome sich mit böse funkelndem Blick umdrehte. Ihr Puls, der binnen Sekunden auf Alarm geschaltet hatte, raste immer noch und sie konnte sich nur schwer wieder beruhigen.
„Mit sowas habe ich echt schlechte Erfahrungen im Job gemacht“, würgte sie als Erklärung hervor und Harald kam sich mit einem Mal dumm vor. Daran hätte er denken können.
„Tut mir leid“, knirschte er und blickte betreten zur Seite.
Salomes Blick wurde weicher. Wenn Harald sich schämte, fiel es ihr schwer, ihm weiter böse zu bleiben. Außerdem hatte sich bei ihr langsam verinnerlicht, dass es Harald nicht böse mit ihr meinte. Manchmal hatte Salome noch negative Gedanken über ihn, aber sie wurden mit der Zeit immer weniger.
„Ist okay, aber bitte mach das nie wieder, ja?“, sagte sie schließlich in einem versöhnlichen Tonfall.
Harald nickte sofort. Erst jetzt hatte er die Zeit zu bemerken, dass Salome noch ihre Arbeitskleidung trug. Damit zog sie nicht nur einen Blick auf sich.
Er machte noch einen Schritt auf Salome zu, damit er für möglichst viele Leute ihre knappen Klamotten bedeckte und funkelte mit wütendem Blick einige Männer an, die Salome lüsterne Blicke zuwarfen.
„Wohin kann ich dich fahren, damit du dich umziehen kannst?“, fragte er leise, „müssen wir shoppen gehen?“.
„Nein, nach Hause fahren reicht schon. Es wäre schön, wenn du das machen könntest. Dann kann ich mich umziehen und dann... können wir reden? Oder essen? Oder sogar beides?“.
„Klingt gut“, befand Harald, dann nahm er Salomes Sporttasche, in der sie ihre Habseligkeiten verstaut hatte, und bewegte sich auf den Ausgang zu.
„Du musst mir das nicht tragen“, knurrte Salome überrumpelt. Sie hatte Schwierigkeiten, mit Haralds viel größeren Schritten mitzuhalten und sich gleichzeitig über ihn aufzuregen, schnell fehlte ihr die Puste.
„Will ich aber, Pech gehabt“, meinte Harald schlicht und ignorierte ihre Versuche, an die Tasche zu kommen, indem sie nach ihr schnappte und Harald dabei umkreiste, der die Tasche von der einen in die andere hand wandern ließ.
Weil es albern aussah und weil ihr langsam die Puste ausging, unterließ Salome die Versuche und stampfte mit verschränkten Armen neben Harald her. Sie hasste es, bedient und für das schwache Geschlecht gehalten zu werden.
Allerdings hatte sie bei Harald noch kein Mittel gefunden, das zu unterbinden. Für diesen Moment wollte Salome es allerdings auf sich beruhen lassen, denn sie waren ohnehin bereits am Auto angekommen.
Harald verstaute die Tasche auf dem Rücksitz und wollte ins Auto steigen, als er bemerkte, dass Salome noch da stand und nicht auf die Beifahrerseite gegangen war.
„Ist noch was?“, fragte er.
„Naja“, meinte Salome betreten, dann rang sie um Worte, „also, ich wollte mich noch bei dir bedanken, irgendwie, für alles. Du hast wirklich viel für mich gemacht und...“.
„Ist doch kein Problem“, winkte Harald ab, „steig ein, dann kannst du dich umziehen und wir gehen etwas essen, ich glaube wir haben eine Menge zu bereden?“.
Salome grinste, dann drückte sie dem überrumpelten Harald einen Kuss auf die Wange, bevor sie nun tatsächlich auf die Beifahrerseite ging.
Das Grinsen bekam sie kaum noch aus dem Gesicht. Es hatte sich so richtig angefühlt, Harald zu küssen. In den letzten Tagen hatte er es geschafft, dass Salome wenigstens ihm vertraute, wennschon nicht allen Männern.
Harald war immer noch perplex, als er den Motor startete, und die breit grinsende Salome verwirrte ihn nur noch mehr. Mit ihrem Kuss hatte er überhaupt nicht gerechnet und das Gefühl der Freude konnte sich vor Verwirrung gar nicht richtig einstellen.
„Ich wohne in der Nähe von... meinem Arbeitsplatz“, erklärte Salome schließlich ausweichend, „da kann ich neue Klamotten holen und von dort aus fahren wir irgendwo hin und essen etwas?“.
Harald nickte schon fast mechanisch, aber wenigstens konnte er mit dieser Information etwas anfangen. Zielsicher steuerte er seinen Wagen zu dem Gebäude, das er in den letzten Tagen wohlweislich gemieden hatte.
Die Fahrt verbrachten sie schweigend, einerseits, weil sie relativ kurz war, andererseits, weil beide nicht wussten, was sie am Besten sagen sollten. Während Harald noch viel zu überrumpelt von dem Kuss war, war Salome viel zu aufgeregt. Ihre Gedanken kreisten um eventuelle Begegnungen mit ihren Kolleginnen oder Juri, die sie um jeden Preis vermeiden wollte. Gerade wollte sie sich nur auf Harald konzentrieren.
Harald parkte schließlich gegenüber des Bordells und wusste immer noch nicht, was er sagen sollte. Ein einfaches ‚bis gleich‘ käme ihm viel zu banal vor nach dem, was gerade passiert war.
„Ich bin gleich wieder da. Wartest du?“, ergriff stattdessen Salome das Wort.
„Klar“, antwortete Harald wie aus der Pistole geschossen, dann schob er ein Lächeln hinterher.
„Natürlich warte ich, lass dir Zeit. Ich fahre nicht weg. Nur vielleicht ein bisschen, damit man mein Auto nicht erkennt?“.
Salome lächelte zurück. „Das ist eine gute Idee von dir. Du kannst um die nächste Ecke fahren und dort irgendwo parken, ich finde dich dann schon.“
„Überleg‘ dir schon mal, auf was du Hunger hast, dann können wir gleich losfahren, wenn ich komme.“
Harald nickte nur stumm, eigentlich war das Gespräch damit für beide zu Ende, das merkte Salome, aber sie wollte noch nicht das Auto verlassen. Noch nicht zurück in ihr altes Leben, weg von Harald.
„Du, Harald?“.
„Hm?“.
„Weißt du eigentlich, dass ich dich mag? Das ist für mich ein großes Kompliment, dass du das geschafft hast. Sonderlich viele Männer können das wirklich nicht von sich behaupten. Eigentlich keiner, um genau zu sein.“
Harald stieg die Röte in die Wangen, er suchte nach einer passenden Antwort, stotterte aber nur Unverständliches zusammen.
„Ich, ähm, mag dich auch, ähm, danke“, nuschelte er schließlich.
Dabei lief er so rot an, dass er einer reifen Tomate Konkurrenz machte und Salome grinste, als sie das bemerkte.
„Bis gleich. Und lass dich nicht von einer meiner Kolleginnen aufgabeln, ja?“.
Mit einem Augenzwinkern stieg Salome schließlich aus dem Auto und ließ einen emotional verwirrten Harald zurück.
Der hatte sich gerade halbwegs damit abgefunden, um Salome kämpfen zu müssen, wenn er sie bekommen wollte, und dann küsste sie ihn einfach! Auf die Wange zwar nur, aber dennoch. Dass sie ihn mochte, sah inzwischen ein Blinder, abgesehen davon hatte sie es ihm ja gerade sehr deutlich gesagt.
Seufzend bettete er seinen Kopf auf dem Lenkrad. Er fühlte sich wie von einem LKW überrollt, aber ein kleiner Teil von ihm registrierte das Glück, das er fühlte, wenn er an Salome dachte.
So fern, wie er angenommen hatte, schien eine Beziehung ja doch nicht mehr zu sein.
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen bei dieser Erkenntnis.