Jil
Als sich die Tür öffnet, schaue ich in der Erwartung, Tessa zu entdecken, auf und tatsächlich werde ich nicht enttäuscht. Besagtes Mädchen steht nämlich im Türrahmen und schenkt uns ein freundliches Lächeln, als wäre alles normal. Allerdings ist sie eine Viertelstunde zu spät und das würde nicht als normal bezahlen.
"Hey", begrüßt sie die Klasse. Als unser Lehrer Anstalten macht zu antworten, mache ich mich bereit für ein riesiges Desaster bereit. Tessa diskutiert nämlich gerne, während das nicht gerne tut. Sonst wäre er schließlich nicht Mathe-, sondern Philosophielehrer geworden.
"Sie sind zu spät, Miss Grayham", der bebrillte Lehrer verschränkt die Arme vor der Brust. "Ja, ich weiß", sie läuft durch die Tischreihen und lässt sich dann auf ihrem Platz in der letzten Reihe sinken: "Sorry."
Ich muss mich, genauso wie die anderen, bemühen um nicht augenblicklich in schallendes Gelächter auszubrechen. "Finden Sie das etwa lustig?", der strenge Blick des Lehrers ist fest auf meine beste Freundin gerichtet. Wäre ich in der Situation, würde ich mir wünschen auf der Stelle im Boden zu versinken, doch Tessa bleibt einfach ganz ruhig.
Ihr Blick verrät mir, dass sie am liebsten eine provokante Antwort geben würde, doch sie hält sich zurück und schüttelt feste mit dem Kopf: "Nein, sowas ist doch nicht lustig." Innerlich platzt sie gerade sicherlich fast, hält sich über zurück, weil sie mit Sicherheit nicht schon wieder nachsitzen will. Im letzten Jahr hat sie das schon oft genug provoziert und deshalb sicher mehr Stunden in dieser Schule verbringen müssen als jeder andere. Außer vielleicht die Kiffer, die mein Dad immer persönlich zum Nachsitzen verdonnert.
Die Augen von Mr. Gererra verengen sich zu kleinen Schlitzen, doch er sagt nichts. Trotzdem ist ihm sein Unmut anzusehen. Er ziehe eine Metalldose aus der Ledertasche, die irgendwie jeder Lehrer zu besitzen scheint, nimmt ein Stück weiße Kreide hinaus und beginnt mathematische Gleichungen anzuschreiben. Zwar verstehe ich nur die Hälfte, doch damit scheine ich schon besser dran zu sein, als die meisten meiner Mitschüler.
Ich öffne meinen neuen Collegeblock und beginne die Gleichungen abzuschreiben. Hefter oder gar Hefte habe ich in diesem Jahr gar nicht mehr, weil ich nach mindestens zwei Wochen sowieso nicht mehr einhefte und meine Hefte so oder so immer vergesse.
Sobald er vier Gleichungen angeschrieben hat, lässt er die Hand sinken und dreht sich wieder zu uns um. Mit einem konzentrierten Blick beginnt er uns Schüler zu mustern, als würde er nach der Person suchen, die in diesem Raum am schlechtesten in Mathe ist. Sein Blick ist so scannend, dass ich mich fast wie ein Lebensmittel auf dem Fließband im Supermarkt fühle.
"Haben Sie nicht Lust an die Tafel zu kommen und mal ein bisschen vorzurechnen, Miss Grayham", es war klar, dass er Tessa damit nicht einfach durchkommen lassen würde. So leicht machen es ihr nur wenige Lehrer. Allerdings macht Tessas Sturheit es ihnen auch nicht leicht.
"Nein, heute eher nicht", sagt sie gerade heraus, sinkt allerdings ein wenig in sich zusammen. Daraufhin scheint sich unser Lehrer ein leises Lachen wirklich nicht verkneifen zu können. Allerdings scheint es ihm aber noch nicht zu reichen das Mädchen in eine peinliche Situation zu bringen. Stattdessen wirft er das Stück Kreide ohne Vorwarnung in Tessas Richtung.
Ich folge der Kreide mit meinem Blick, bis sie gegen die Wand knallt und daraufhin auf dem Boden zum Stillstand kommt, weil Tessa sie nicht aufgefangen hat. Aber wie auch. Schließlich ist Mr. Gererras zweites Fach Sport.
Auch die anderen Schüler haben sich umgedreht und mustern die Dunkelhaarige. Die Luft im Raum hat auf einmal unangenehm zu prickeln begonnen und ich spüre, dass der Mann langsam wirklich keinen Spaß mehr zu verstehen scheint.
Tessa scheint den Warnschuss allerdings nicht gehört zu haben. Sie steht mit einem selbstsicheren Blick auf und geht langsam auf die Tafel zu. Sie nimmt eine neue Kreide aus der Büchse und dreht sich dann der Tafel zu, wo sie die Aufgaben tatsächlich zu lösen anfängt.
Als sie nach wenigen Minuten fertig ist, drückt sie unserem Lehrer die Kreide wieder in die Hand und geht grinsend zu ihrem Platz zurück. Schnell rechne ich nach, ob sie die richtigen Lösungen heraus hat und tatsächlich ist alles richtig.
"Nachdem wir unsere Mathekenntnisse nach den Ferien jetzt endlich wieder reaktiviert haben, kommen wir jetzt mal zu den neuen Schülern", kommt er nun endlich zu dem einzigen Punkt, auf den ich mich wirklich gefreut habe, als ich heute Morgen in der Schule angekommen bin.
In diesem Jahr kommen die Neuen nämlich in unsere Stufe und deshalb interessiere ich mich schon dafür. Schließlich werden das meine neuen Mitschüler, wenn sie die ersten Wochen, in denen die Loser die Schule meistens wieder verlassen, und da will ich schon irgendwie wissen, wer die sind.