"Wie lange bist du schon hier?"
"Ich weiß nicht, die Ärzte sagen, sein Zustand sei unverändert. Ich weiß nicht mal, ob das gut oder schlecht ist."
"Ich wünschte, Vater würde aufwachen… Es ist… unfair."
"Das ist alles, was bleibt: Erinnerungen."
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"Nein, nein, nein, nein, NEIN!" Wie wild sprang ich um den Stuhl.
"Lass und woanders hin gehen."
"Lui, ich habe dir gesagt, wir bleiben in diesem Café so lange wie nötig!" Wütend auf einen Tisch zu schlagen war eigentlich nicht meine Art, den ängstlichen Ausdruck in Luis Gesicht zu sehen hatte aber seinen Charme.
"Ben“, begann Zoe. „Wir sitzen seit über einer Stunde in diesem Coffeeshop und..."
"Kaffee und Spiele heißt dieser Laden und er ist super!" Jemanden ins Wort zu fallen war eigentlich auch nicht meine Art und in diesem Moment war mir nur eines klar: Zoe so abzuwürgen würde Konsequenzen haben...
"ICH WEISS IMMER NOCH NICHT, WESHALB WIR ÜBERHAUPT HIER SIND! REDE ENDLICH, DU HYPERAKTIVES MISTSTÜCK! UND HÖR GEFÄLLIGST AUF, DIESEN KASSENZETTEL INHALIEREN ZU WOLLEN!" Dass sämtliche Anwesende zu uns sahen, schien ihr egal zu sein und ehe sie ihren Satz überhaupt beenden konnte, war Lui auf mysteriöse Art und Weise verschwunden.
"Ich hab nur..." Verzweifelt legte ich den Kassenzettel vor sie, den sie verwirrt einige Sekunden anstarrte.
"Die Nummer einer Mitarbeiterin aus diesem Laden bekommen und auf der Heimfahrt erfolgreich in deiner Hosentasche unlesbar gemacht?" Auf mein hysterisches Nicken reagierte sie mit ihrem verachtungswürdigen Blick.
"Nur handelt es sich nicht um eine Mitarbeiterin, es war Lucy. Lui hat dir bestimmt von ihr erzählt."
"Nein, hat er nicht. Wo ist dieser Nichtsnutz überhaupt schon wieder hin?!" Sie nahm den Zettel in die Hand und betrachtete ihn einen Moment lang. "Also hat sie dir drei Tassen Kaffee spendiert? Die würde ich auch wiederfinden wollen. Hast du an dritter Stelle schon eine Sieben versucht?"
"Und eine Eins und an fünfter Stelle eine Null, eine Drei, eine Acht und eine Neun."
"Keine Treffer?"
"Ich hatte unter anderem mit einer netten alten Dame gesprochen, die im Rollstuhl liegt und dachte, ihr nutzloser Sohn würde sich endlich einmal melden. Er hatte ihr nicht mal zu Weihnachten ein frohes Fest gewünscht!"
"Wir haben September…" Zoe hatte die Angewohnheit, immer, wenn sie etwas verstörte oder ihr etwas unangenehm war, ihr Blickfeld durch eine Zuckung des Kopfes von den roten Haaren zu befreien, die ihr ins Gesicht fielen.
"Sie war auch wirklich wütend."
"Was weißt du denn über sie? Du könntest sie doch suchen."
"Du hast recht! Ich höre mit dem warten auf und werde sie finden. Ich weiß auch schon wie!"
"Heißt das, wir können endlich aufhören, hier rumzuhängen?", vernahmen wir Luis Stimme. Ich hatte keine Ahnung, wo er gewesen war, es war mir in diesem Moment aber auch egal.
"Wir sind doch erst eine gute Stunde da."
"Und die vier gestern und die zwei davor und die fünf… Was ich sagen will: Der Schuppen ist langweilig." Luis Stimme nahm den bekannten Quengelton an.
Schmunzelnd nahm ich mein Handy und rief meinen ehemaligen Mitbewohner an. Julian war schon immer mein bester Freund, aber wir sahen uns inzwischen selten, er war Arzt und seine Freizeit konnte man mit den Händen abzählen.
"Hi, hier ist Ben! Dein bester Freund!" Es hatte sich über die Jahre verbessert, aber Julian neigte noch immer zu Naivität.
"Hey, alles klar bei dir? Schön, dass du dich meldest!"
"Dumme Frage, ist bei euch ein älterer Komapatient, der täglichen Besuch von seiner Tochter erhält?"
Es folgte das übliche Geschwätz bezüglich Datenschutz. Wenn man jemanden seit Jahren kannte und mit dieser Person zusammengewohnt hatte, verlor das aber jegliche Bedeutung.
"Du Miststück." An dieser Stelle würde nun jeder einen Schmerzensschrei erwarten, nachdem Zoe mit ihren überraschend spitzen Schuhen gegen mein Schienbein getreten war. Ich weiß nur noch, dass eben dies nicht der Fall war, zeitgleich faselte Julian am Telefon etwas von Erpressung, unterbrach seine Ansprache, um aus Gründen, die ich nie verstand, eine Frage zu stellen.
"Flennst du?" Tat ich natürlich nicht, obwohl ich meinte, zufällig etwas im Auge gehabt zu haben. Ich erzählte Julian von Lucy, ihren Augen, ihren Haaren, der leicht überdurchschnittlichen Körpergröße.
"Dich hat's echt erwischt, oder? Ja, die habe ich hier glaube mal gesehen, sie besucht die Hülle regelmäßig. Komm morgen Abend vorbei."
Ich folgte seiner Anweisung, bereit endlich meines eigenen Glückes Schmied zu sein und nicht mehr auf einen wink des Universums zu warten.
Am Eingang hatte er mich bereits erwartet und ich störte mich noch immer an seiner Formulierung.
"Hülle?"
"Er liegt seit neun Monaten im Koma und die Werte stehen sehr schlecht. Aber komm mit, ich zeige dir, was ich meine."