Es war Ende November, nur drei Wochen vor Semesterende, als wir uns an der Ecke des Hauptgebäudes der Universität trafen. Ich wollte erröten, grüßen und weitergehen (das Erröten war natürlich nicht gewollt, aber obligatorisch), doch es war eindeutig, dass wir in die gleiche Richtung mussten. Wir waren beide auf dem Weg zum Expressionismus-Seminar, das in einem abgelegeneren Gebäude stattfand, zu dem man ein wenig laufen musste. Er hatte wohl die gleiche Erkenntnis, lächelte und fragte: „Sie wollen auch dahin?“ Machte eine Kopfbewegung in die grobe Richtung. Ich nickte nur, so schüchtern, und nun liefen wir zusammen. Ich hatte mir aus der Uni-Caféteria noch eine heiße Schokolade zum Mitnehmen und Hände-Wärmen geholt, doch bei der Hitze, die mir in den Kopf stieg, wäre ein gekühltes Getränk wohl besser gewesen. „Es ist so schön, dass es schneit. Manchmal denke ich, es gibt kaum noch richtig winterliche Winter“, sagte ich, einfach, um nicht stumm zu sein. Scheu sah ich zu ihm hin, er nickte und lächelte. Trug einen schwarzen Filzmantel und eine gleichfarbige Wollmütze, auf denen sich weiße Schneeflocken ansammelten. Er sagte nichts, aber was soll man auch zu einer Anmerkung über das Wetter sagen? Mir kam ein Zitat von Oscar Wilde in den Sinn, aus The Importance of Being Earnest, einem meiner liebsten Theaterstücke: „Immer, wenn Leute mit mir über das Wetter reden, habe ich das Gefühl, dass sie eigentlich über etwas ganz anderes reden wollen.“
Ob er ahnte, dass ich mit ihm über anderes, oder eher: so viel mehr reden wollte? Über alles, was es gab, zwischen Himmel und Erde und darüber und darunter? Vielleicht ahnte er es da schon, vielleicht auch nicht.
„Ich mag den Winter auch. Nur wirkt die Stadt dann leider immer etwas grau und ausgestorben. Im Frühjahr und Sommer hat man ja wenigstens noch die Bäume in den Alleen und auf dem Campushof.“ Endlich sprach er.
„Naja“, ich lächelte. „Auch die tote Natur hat ja etwas. Ich gehe da gern im Stadtpark spazieren. ‚Komm‘ in den totgesagten Park und schau …‘“ Ein wenig prätentiös, beim Smalltalk mit dem verehrten Dozenten Poesie zu zitieren, doch wie ich ihn so ansah und sein Lächeln fühlte, wollte ich am liebsten nur noch in Gedichten sprechen, da meine eigene Sprache den Emotionen, die mich übermannten, nicht hätte Rechnung tragen können.
„Mh.“ Er biss sich kurz auf die Lippen um ein Grinsen zu unterdrücken. „Ich will ja nicht sagen, Ihr Zitat sei fehl am Platz, aber das ist ja eigentlich eher ein Herbstgedicht. Bei Ihrer Begeisterung für Stefan George sollten Sie das doch eigentlich wissen.“ So ein Besserwisser, aber besserwissen konnte ich auch. „Eigentlich ist ja bis zum 21. Dezember offiziell kalendarisch noch Herbst. Bei Ihrem großen Wissen über alles sollten Sie das doch eigentlich wissen.“ Kurz grinste auch ich, nur um dann schnell in seinem Gesicht nach Zeichen zu suchen, ob ich zu weit gegangen war. Aber nein, er verstand Spaß. Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich wirke also, als hätte ich großes Wissen über alles? Damit wäre das Ziel meiner Performanz ja erreicht.“ – „Ähm. Ja. Man hat schon so den Eindruck, dass es nichts gibt, was Sie nicht wissen …“ Ich versuchte, das leichthin zu sagen, mir das Ausmaß der Bewunderung für ihn nicht anmerken zu lassen. Er versuchte, mein Kompliment abzumildern: „Ach, ich habe ja schon einige Jahre mehr Erfahrung im Leben und Lernen als Sie alle.“ Was sollte denn das nun wieder? War ihm meine Aussage schlicht unangenehm? Aber zu übertriebener Bescheidenheit hatte er nie zu neigen geschienen. Wollte er mir deutlich machen, dass er älter war als ich?
Ich musste wieder wegschauen, fühlte mich komisch.
Entweder er hatte gemerkt, dass ich unangenehm berührt war, und wollte mich ablenken, oder er hatte nun ein Thema gefunden, auf das er anspringen konnte, jedenfalls sprach er schon schnell weiter: „Da Sie Herrn George zitierten – ich freue mich schon wirklich sehr darauf, Ihre Hausarbeit zu lesen! Sind Sie denn in ihrer Planung inzwischen schon vorangeschritten?“ Froh über die Ablenkung musste ich dennoch zugeben: „Bisher noch nicht so sehr, das steht für die Ferien an. Jetzt gegen Semesterende muss man sich ja immer auf einige Klausuren vorbereiten. Eventuell auch nachbereiten, wozu im Semester die Motivation gefehlt hat …“ – „Dass es Ihnen mal an Motivation und Fleiß fehlt, kann ich mir ja wirklich nicht vorstellen!“ entgegnete er und schien aufrichtig überrascht. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Natürlich wollte ich, dass er meine Motivation spürte, doch ich musste auch an die Schulzeit denken, wie schlecht es war, eine Streberin zu sein. Plötzlich blieb er stehen und sah‘ mich forschend an. Meine Gedanken waren mir wohl ins Gesicht geschrieben. „Hey. Die Zeiten, in denen Fleiß ‚uncool‘ war, sind vorbei. Ihre Begeisterung ist großartig und ich wünschte mir, mehr Studenten wären so.“ Seine Stimme war sehr tröstend, und die Finger-Anführungszeichen, die er um ‚uncool‘ malte, so süß. In meiner Verlegenheit konnte ich nur auf seine Hand sehen, auf die Finger, die immer noch locker in Gänsefüßchenformation gebogen waren.
„Oh, Sie tragen ja gar keinen Ehering mehr!“ rutschte es mir heraus. Er sah mich ernst an und erst jetzt fielen mir die dunklen Schatten unter seinen Augen auf. „Das haben Sie sehr aufmerksam bemerkt“, sagte er nur, in einem Tonfall, den ich nicht zuordnen konnte. Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück.