Ich hatte die erste Ferienwoche im vollkommenen Gefühlswirrwar verbracht. Er kannte mein liebstes Liebesgedicht. Allein das schon verschaffte mir unermessliches Herzklopfen. So viel, wie mir Worte bedeuteten, wie könnte ich nicht glauben, dass es etwas hieß, wenn wir die gleichen liebten. Zitieren konnten.
Egal, was ich tat – ob ich an meinem Schreibtisch saß, mit Hanna Weihnachtsgeschenke shoppte, durch den Park lief, abends im Bett lag (oh ja, vor allem dann!): immer und immer wieder kehrte ich zu sämtlichen Situationen mit, die ich je mit ihm erlebt hatte. Und immer und immer wieder hörte ich sein halbgeflüstertes Zitat und wollte mehr. Mehr Worte, mehr Poesie in seiner Stimme, aber eben ganz einfach auch mehr von ihm in meinem Leben.
Trotz all dem Herzklopfen, all der Atemlosigkeit, all der Erinnerungen an Blicke und Lächeln und Wörter bekam ich es irgendwie hin, ein Konzept für meine Stefan-George-Hausarbeit auf die Beine zu stellen. Was das hieß erfüllte mich gleichzeitig mit Vorfreude und Nervosität: eine Sprechstunde bei ihm!
Als ich mich am Ende der kleinen Stuhlreihe vor seinem Büro niederließ waren nur drei Andere anwesend. Naja, wahrscheinlich wollte sich nur ein kleiner Teil der Studierendenschaft schon zu Beginn der Ferien mit Haus- und Abschlussarbeiten befassen.
Als er herauskam um eine Kommilitonin hinein zu holen, glaubte ich, dass ihm bei meinem Anblick kurz ein Lächeln über das Gesicht huschte, doch hatte ich zu schnell errötend in meinen Schoß geblickt, um das so gut beurteilen zu können. Es war ein Fluch, so sehr zum Rotwerden zu tendieren. Doch blieb mein Blick dann auch bei den nächsten Malen, wenn er die Tür öffnete, nach unten gerichtet. Bis er dann schließlich meinen Namen sagte, meinen Nachnamen natürlich. Dennoch zuckte ich wie elektrisiert zusammen. Die Menschen vor mir hatte er nicht namentlich angesprochen.
Mir war fast ein wenig schwindelig, als ich sein Büro betrat. Ich hatte das Gefühl, es müsste etwas passieren. Etwas Großes, Unbeschreibliches. Wahrscheinlich würden wir einfach bloß über Stefan George sprechen.
Er setzte sich vor mich, lächelte. Und eine Weile, sei sie nun lang oder kurz, saßen wir einfach nur da und lächelten uns an. Ich war plötzlich nicht mal mehr nervös. Sein Lächeln machte für den Moment alles in mir einfach gut und ruhig. Er freute sich, mich zu sehen, der Rest war unbedeutend. In dem regeren Teil meines Verstandes war ich froh, dass er als Lehrstuhlinhaber als Einziger ein Einzelbüro hatte. Wäre das unangenehm, wenn am anderen Ende des Zimmers noch ein Kollege säße, der uns kritisch beäugte!
Schließlich räusperte sich und ich musste erst wieder in diese Welt zurückfinden. Mir war, als wären mir in diesem Moment alle Gedanken entfallen, die ich mir je zu meiner Arbeit gemacht hatte. Während ich noch nach Worten suchte, begann er zum Glück schon zu sprechen: „Ich bin froh, dass Sie heute in meine Sprechstunde kommen! Als ich neulich dabei war, meine Bücher die Umzugskartons zu packen, ist mir eines in die Hände gefallen, bei dem ich sofort an Sie denken musste. Es passt, soweit ich das einschätzen kann, sehr gut in Ihr Interessengebiet und kann Ihnen vielleicht auch für die Hausarbeit gute Dienste leisten. Warten Sie, ich habe es hier irgendwo hingelegt …“ Er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Er suchte und mein Herz raste. Umzugskartons also – mit der Scheidung war also auch ein Auszug verbunden, logisch, eigentlich. Wo er hinziehen würde? Und wie es ihm dabei ging? Und, oh, viel wichtiger: er hatte ein Buch gesehen und dabei an mich gedacht! Dass hieß ja jetzt zweifelsfrei, dass er auch außerhalb der Uni an mich dachte, einfach so. Ich spürte, wie dieser Gedanke ein riesiges Grinsen auf meinem Gesicht erscheinen ließ, das ich unmöglich verbergen konnte.
Das bemerkte er auch, als er mit einem Buch in der Hand zurückkam. „Wow, Sie sehen ja erfreut aus! Dabei haben Sie das Buch ja noch nicht einmal gesehen,“ zog er mich auf, mit einem Lächeln, das an meines schon ziemlich herankam. „Haha“, entgegnete ich, was wohl eine recht kindische Reaktion war. Aber jetzt war alles egal. „Vielleicht freue ich mich ja einfach grundsätzlich über Bücher!“
Er sah mir wieder in die Augen, mit diesem Blick, der mich gleichzeitig fest hielt und meine Welt zum Schwanken brachte. „Na, so etwas höre ich doch gerne. Ich weiß schon, warum ich Sie so gerne mag.“ Noch bevor ich diesen Satz richtig verarbeiten konnte, reichte er mir das Buch. Als ich danach Griff geschah es, dass wir beide entweder unglaublich tollpatschig oder unglaublich unvernünftig waren. Seine Fingerspitzen berührten meine – so sanft und vorsichtig, aber gleichzeitig so zielgerichtet und bestimmt, dass ich mir bei nichts je sicherer gewesen war, als dass das kein Versehen war.