Es war in dieser seltsamen Zeit zwischen Weihnachten und Silvester. Das neue Jahr noch nicht ganz da, das alte aber gefühlt schon vorbei. Die paar Tage dazwischen fühlen sich an, wie Koffer, die auf einem Gepäckband am Flughafen so lange im Kreis fahren müssen, bis sie endlich abgeholt werden und die Reise weiter gehen kann.
Ich hatte die Feiertage bei meiner Familie verbracht. Geschenke verteilt und bekommen, viele Gesellschaftsspiele gespielt. Viel, viel an ihn gedacht. Überlegt, wie er wohl Weihnachten feierte. Ganz alleine, jetzt, wo die Scheidung am Laufen war? Ich hatte ihm eine Frohe-Weihnachten-Email schreiben wollen, mich dann nicht getraut, was ich schon einen Tag später bereute, aber nachträglich eine zu schicken wäre mir noch unangenehmer gewesen. Stattdessen hatte ich mir fest vorgenommen, ihm zumindest ein schönes neues Jahr zu wünschen. Und nun lebte ich viel zu sehr auf diese eine Mail hin, die ich in ein paar Tagen zu schreiben gedachte. Die wahrscheinlich nur aus einem Satz bestehen würde und überhaupt nicht spektakulär war.
Seit gestern war ich wieder in meine Wohnung zurückgekehrt – so sehr ich meine Familie liebte, ich brauchte auch meine Ruhe – und nun schlenderte ich durch den Stadtpark. Den ‚totgesagten Park‘, auch wenn das natürlich niemand so sagte, außer dem selbst schon toten Herr George. Leider war es bisher nicht zu ‚richtigem‘ Schnee, der auch liegen blieb, gekommen. Nur dicke graue Wolken hingen tief und ließen den späten Morgen wie frühen Abend wirken. In meiner Hand hielt ich ein Gedeck, das ich in einem Blumengeschäft gekauft hatte, das bunteste, das zu finden war. Eine meiner seltsameren Angewohnheiten: in den kahlen, leeren Monaten brachte ich meinem Park Blumen mit. Immerhin war dies der erste Ort, an dem ich mich wirklich willkommen und wohl gefühlt hatte, als ich zum Studium in die Stadt gezogen war.
Ich wollte die Pflanzen auf eine Bank legen, auf der ich bei wärmerem Wetter gerne saß. Für andere Parkbesucher würde der Anblick wahrscheinlich wirken, als sei dort jemand gestorben, aber ich wusste, was es heißen sollte. Und die Bank vielleicht auch. Gab es nicht eine philosophische Richtung, die Gegenständen Bewusstsein zusprach?
Über diese Gedanken hatte ich nicht auf meine Umgebung geachtet und merkte also erst, als ich fast direkt vor ihr stand, dass auf meiner Bank schon jemand saß. Er natürlich. So dachte ich, wortwörtlich, als käme das nicht absolut unerwartet. Doch da ich so oft an ihn dachte, konnte ich sein Auftauchen irgendwo wirklich nicht als unerwartet empfinden.
Ich sah ihn an und merkte an seinem Lächeln, dass er mich wohl schon länger bemerkt hatte, wie ich so gedankenverloren den Weg heruntergeschlendert kam. „Hallo, was machen Sie denn hier?“, entfuhr es mir. In meiner Überforderung mit der Gesamtsituation wirkte ich vielleicht etwas rüde, als wolle ich meinen Park verteidigen, aber er wirkte nicht gekränkt. „Auch Ihnen hallo – ich hoffe, Sie hatten schöne Feiertage.“ Er zwinkerte mir zu und ich kam mir vor, als hätte ich meinen Einsatz verpasst. „Äh, ja, hatte ich. Danke. Ich hoffe, sie auch.“ Mal wieder errötete ich, was er bestimmt schon zur Genüge von mir kannte. „Was ich hier mache … Nun, auf Grund kürzlicher Entwicklungen in meinem Privatleben, von denen Sie ja wissen, musste ich mir in der Stadt eine Wohnung suchen. Nun erkundige ich die Umgebung und bin mit der Entdeckung dieses Parkes ziemlich erfreut.“ Es war nicht ersichtlich, ob er so hochgestochen sprach, um sich über mich lustig zu machen, oder ob er auch etwas nervös war. „Und darf nun wiederum ich fragen, was Sie mit den Blumen vorhaben?“, setzte er noch hinzu.
Ich schaute auf meine Füße. Jetzt traf ich ihn mal außerhalb der Uni und er würde sogleich meine blödsinnigste Seite kennen lernen. Ich seufzte und erklärte: „Naja, ich mag diese Park ziemlich gerne, und deshalb bringe ich ihm in den Wintermonaten immer Blumen mit.“ Er blickte mich nur an, stumm und strahlend, und ich konnte mich nicht mehr schämen. Als er sprach, war seine Stimme ganz leise: „Das ist furchtbar lieb und furchtbar schön.“
Ich wollte ihn berühren und mich an ihn lehnen und weinen, weil er verstand. Stattdessen setzte ich mich neben ihn. So dicht es ging, ohne auffällig zu sein.
Nun blickten wir beide in die gleiche Richtung. Er zeigte zum Horizont, wo das Himmelgrau sich aufhellte. Wir grinsten uns an, zitierten gleichzeitig: „der Schimmer ferner lächelnder Gestade, der reinen Wolken unverhofftes Blau, erhellt die Weiher und die bunten Pfade.“
„Am Weiher war ich allerdings noch nicht,“ murmelte er dann.
„Oh, dann müssen Sie ihn unbedingt noch sehen! Wir können ja gleich zusammen hinspazieren.“„Ich denke, du musst jetzt nicht mehr ‚Sie‘ sagen.“