Birke-die-im-Winde-singt stolperte über eine Wurzel. Sie fiel hin, rollte ein Stück weit über den abschüssigen Waldboden und sprang sofort wieder auf die Beine. Die Krallen der jungen Dryade waren perfekt dazu geeignet ihren leichten Körper von Ast zu Ast zu schwingen, doch hier am Boden kam sie sich hilflos und plump vor.
Rauch und Asche brannten ihr in den Augen und brachten sie trotz des vor den Mund gepressten Ahornblattes zum Husten. Doch sie durfte keine Verschnaufpause machen. Sie musste weiter, hinunter von dem Berg. Raus aus der tödlichen Falle.
Ihr entgegen stürmte eine Familie von Eichhörnchen, die versuchten den Flammen im Tal zu entkommen. Sie streckte ihren Geist zu ihnen aus, doch die Panik wirkte wie eine Schutzmauer um den Verstand der Tiere, die sie nicht zu durchbrechen vermochte. Traurig ließ Birke sie weiterziehen, wohl wissend dass sie ihre Flucht in den sicheren Tod führen würde.
Vor ihr war ein brennender Baumstamm umgestürzt, also nahm sie Anlauf und sprang mit aller Kraft, die ihre müden Beine aufbrachten, darüber. Der Schwung trug sie durch die gierigen Flammen über ihr Hindernis hinweg, nur um im nächsten Augenblick von der Schwerkraft übertroffen zu werden, die sie rasend schnell zurück zum Boden zog.
Als sie den Aufprall mit ihren langen Armen abfing durchfuhr sie auf ein Mal ein stechender Schmerz am linken Arm und sie kippte erneut zur Seite, rollte sich ab und sprang auf die Beine.
Im Weiterlaufen wagte sie einen Blick auf ihre krallenbewehrten Hände. Sofort entdeckte sie das hellrot leuchtende Stück Glut, das sich in ihrem grünen Fell verfangen und es bereits stellenweise versengt hatte. Schnell wischte sie es mit einer Handbewegung weg. Die Brandwunde schmerzte zwar immer noch, doch ihr blieb nichts anderes über als weiterzulaufen, wenn sie nicht in diesem Inferno zugrunde gehen wollte.
So rannte sie immer verzweifelter durch den lichterloh brennenden Wald. Schweiß und Blut ließen Ruß und Asche an ihrem Fell kleben, wie eine graue Kruste, die ihre Bewegungen erschwerte. Manchmal kam es ihr vor als glitten riesige Schatten durch die dichten Rauchwolken über ihr, doch sie wollte lieber nicht zu viel darüber nachdenken. Stattdessen duckte sie sich unter herabfallendem Holz hindurch, sprang über heiße Glut und versuchte die schmerzhaften Brandblasen an ihren Füßen zu ignorieren.
Immer wieder traf sie auf Tiere, die versuchten dem Feuer nach oben zu entkommen. Doch sie wusste dass dies zwecklos war. Der gesamte Berg war umgeben von Flammenherden. Es war nur eine Frage der Zeit bis auch der Gipfel brannte und dann säßen dort alle in der Falle.
Ein kläglicher Schrei drang durch die Feuerbrunst zu ihr herüber und bevor sie wusste was sie tat stürmte Birke in die Richtung los.
Dort, zwischen den Ästen eines umgefallenen Baumes, erkannte sie das kugelförmige Nest einer anderen Dryade. Schon leckten die Flammen an der Struktur aus Blättern und Ästen, doch aus dem Inneren konnte sie ein gequältes Quieken vernehmen.
Mit dem Mut der Verzweifelten stürzte sich Birke zwischen die brennenden Zweige. Sie spürte wie die Flammen nach ihr züngelten, doch zum Glück wirkte die Asche in ihrem Fell wie eine schützende Rinde um ihren Körper. Dafür ließ der Sauerstoffmangel ihre Lungen brennen wie nie zuvor. Ihre Augen hielt sie fest zusammengepresst.
So tastete sie sich keuchend und hustend bis zum Eingang des Nestes vor, aus dem immer verzweifeltere Schreie drangen. Endlich erspürten ihre Finger die geschickt verflochtenen Äste und sie zog sich so weit ins Innere bis sie sich traute die Augen zu öffnen.
Der Kobel war klein und dunkel. Nur der flackernde Schein der Flammen, der durch die Äste drang, erlaubte es ihr zu sehen. Am Boden verstreut lagen Werkzeuge und bunte Steine, die die Dryade gesammelt zu haben schien. Mitten darunter lag ihr lebloser Körper, der Hals auf eine verstörende Art verdreht. Offensichtlich hatte sie beim Sturz des Baumes ihr Genick gebrochen.
Fest an ihr dunkelbraunes Fell geklammert lag jedoch ein heulender Säugling, der Birke mit verängstigtem Blick anstarrte. Birkes Herz schmerzte vor Mitleid mit dem kleinen Wesen als sie versuchte beruhigend auf ihn einzureden: "Ganz ruhig Kleiner, ich tu dir nichts. Ich will dich nur hier rausholen. Dafür musst du aber unbedingt deine Mami loslassen."
Sie versuchte das Baby sanft zu sich zu ziehen, doch auch wenn es sich von ihrem Tonfall ein wenig beruhigen ließ machte es keinerlei Anstalten von seiner Mutter abzulassen. Mittlerweile züngelten schon kleine Flämmchen wie zur Probe im Inneren des Nestes. Die Zeit wurde knapp.
"Bitte lass deine Mami jetzt los, sonst wird es dir genau so ergehen wie ihr", begann sie zu flehen, doch es half nichts. In Ermangelung einer anderen Alternative berührte Birke den Geist des Kindes mit ihrem. Wie auch bei den Tieren prallte sie sofort gegen eine Wand aus Panik und Überlebensinstinkten, doch diesmal ließ sie sich nicht so schnell abwimmeln. Stattdessen sandte sie beruhigende Gefühle zu dem Kind und streichelte es gleichzeitig sanft mit der Hand.
Es dauerte für ihren Geschmack viel zu lange, doch sie zwang sich zur Ruhe. Wenn der Säugling ihre Nervosität zu spüren bekam wären all ihre Mühen vergebens.
Nach einer gefühlten Ewigkeit drang sie endlich in den verwirrten Verstand des armen Jungen durch. Jetzt war es für sie ein Leichtes ihn mit einem einfachen Kommando in den Schlaf zu schicken und dann vorsichtig von der Leiche seiner Mutter zu trennen.
Gerade noch rechtzeitig, denn kaum hatte sie den Kobel wieder verlassen brach dessen Außenwand mit einem Funkenregen in sich zusammen und begrub die überreste seiner ehemaligen Bewohnerin unter sich.
Den Säugling an ihre Brust gepresst setzte sie ihre Flucht fort. Zum Glück hielt er sich bald von selbst an ihrem Fell fest, denn sie brauchte ihre Arme mehrmals um über Hindernisse zu klettern oder ihre weiten Sprünge abzufangen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit brach sie endlich zwischen den Bäumen heraus auf eine Lichtung. Sie stolperte noch einige Meter weiter über die aschebedeckte Wiese, dann brach sie erschöpft am Boden zusammen. Den Säugling weiterhin schützend an sich gedrückt versagte ihr überanstrengter Körper endlich seinen Dienst und sie verlor das Bewusstsein.
Als sie erwachte lag sie rücklinks am Rücken eines Rehs. Der kleine Säugling klammerte sich immer noch an ihr Fell, doch er war ebenfalls wach und betrachtete das Geschehen um sie herum mit großen Augen.
Sie befanden sich inmitten der größten Ansammlung an Tieren, die Birke je gesehen hatte. Das gesamte Tal schien sich mit Tieren gefüllt zu haben, die friedlich und geordnet in die selbe Richtung wanderten. Weg vom Berg.
Neben ihr sah sie einen Zottelaffen, der in seinen Händen vorsichtig ein Nest mitsamt der blauschaligen Eier trug, die eigentlich seine Leibspeise waren. Wenige Meter daneben Trug ein Schattenfuchs ein verletztes Vierohrkaninchen im Maul, als wäre es sein Junges. In der Luft schwirrten abertausende Vögel.
Verdattert sah sich Birke das Schauspiel an, bis ihr ein majestätischer Hirsch auffiel, auf dessen Rücken fünf Dryaden Platz gefunden hatten. Als hätte es ihre Gedanken gelesen sprang ihr Reh sofort zu der Gruppe hinüber, sorgsam bedacht nicht unabsichtlich auf eine Igelfamilie zu treten.
Im Nacken des Hirsches saß Eiche-die-den-Berg-hört, deren vom Alter braunes Fell an mehreren Stellen verbrannt war. Birke hatte immer bewundert wie die alte Dryade in jeder Situation ein ruhiges Gemüt bewahren konnte. Wahrscheinlich rührten daher deren erstaunlichen telepathischen Fähigkeiten.
"Hast du das bewirkt?", fragte sie Eiche direkt. Egal wie mächtig jemand sein mochte, die Kontrolle über tausende Tiere gleichzeitig hätte Birke niemals für möglich gehalten.
"Nein, es waren die Drachen", antwortete die Alte gelassen.
"Haben die nicht den Brand ausgelöst?"
"Nicht im geringsten, meine Liebe. Sinnlose Zerstörung ist niemals der Weg der Drachen. Deshalb haben sie Jahrhundertelang nichts anderes getan als in unserem Berg zu schlafen. Das Feuer wurde von den großen Völkern aus den Städten und der Steppe ausgelöst, um die Drachen auszuräuchern und hinaus in die Lüfte zu locken, wo sie sie mit ihren Geräten und Magie abschießen konnten."
"Solch eine feige Taktik! Tausende Leben zu opfern nur um einen Feind zu töten, der einem nichts getan hat. Am liebsten würde ich...", Birke spürte die Wut in sich hochsteigen.
"Die Zerstörer haben kein Verständnis für den Wert des Lebens. Sie leben nur um zu zerstören. Das wird am Ende ihr Untergang sein. Die Drachen hingegen haben beschlossen ihre letzte Tat zu einer der Güte zu machen. Wir sollten immer so handeln wie die Drachen und leben bewahren, selbst wenn wir unseres als verloren sehen."
Birke dachte lange über die Worte der alten Dryade nach. Schließlich antwortete sie mit einem Blick auf den Säugling in ihrem Arm: "Ich glaube ich verstehe was du meinst."
"Dann bist du schon weiser als ich in deinem Alter", antwortete Eiche mit einem Schmunzeln.
Danach ritten sie stumm weiter, den Hang eines Passes hinauf. Erst als sie am höchsten Punkt angekommen waren drehte sich Birke um, damit sie einen letzten Blick auf ihre Heimat werfen konnte.
Die meisten Feuer waren inzwischen erloschen, doch noch immer stiegen riesige Rauchwolken von den verkohlten Skeletten der Bäume auf. Inmitten der Verwüstung lagen in verschiedenen Farben schillernd die leblosen Körper jener Drachen, die es geschafft hatten in die Freiheit zu entkommen. Obwohl sie in solch einer Nähe gelebt hatten war dies das erste Mal dass Birke eine der majestätischen Kreaturen zu Gesicht bekam. Es stimmte sie traurig dass es auf diese Weise geschehen musste.
Nun trauten sich die Soldaten den Berg zu betreten. Aus der Entfernung erschienen sie wie Ameisen, die über die Trümmer ihrer alten Heimat strömten und gierig ihre Beute sammelten.
Mit einem Schauder drehte sich Birke nach vorne, wo sie zu ihrer Überraschung eine Orkfrau erblickte, die von einem Felsbrocken über dem Pass auf den ungewöhnlichen Marsch herabsah. Sie trug eine zerschlissene Lederrüstung, war über und über mit Runentätowierungen markiert und hielt eine gefährlich scharfe Axt in der Hand, doch Birke spürte keine Gefahr von ihr ausgehen. Bloß Interesse. Und bedauern für das Ende des Volkes der Drachen.