Metall schabte gegen Stein als sich Cato noch fester gegen den Felsen presste, der ihm Deckung bot. Um ihn herum wurde das tosen von herabfallenden Steinen nur durch die Schmerzensschreie der Soldaten übertönt, die von den tödlichen Geschossen erfasst wurden.
Keine fünf Schritte weiter sah er wie einer seiner Kameraden vorsichtig an dem kümmerlichen Baumstumpf, unter dem er Schutz gesucht hatte, hervorlugte. Einen Augenblick lang zeigte die Todesangst auf seinem Gesicht dass er seinen Fehler erkannte, dann traf ihn ein Stein direkt auf den Kopf. Der eiserne Helm war nutzlos gegen das Geschoss. Er wurde unter dem Aufprall zerschmettert und darunter quollen Blut und Hirnmasse hervor wie bei einer reifen Tomate.
Cato wurde es mulmig im Magen als er zusah wie der Leichnam rückwärts in die tiefe Schlucht kippte, aus der sie sich seit den frühen Morgenstunden hinaufkämpften. Er war ausgelaugt vom Klettern in dem schweren Kettenhemd und wegen der ständigen Todesgefahr mit den Nerven am Ende.
Sein Blick wanderte von dem tiefen Abgrund, in dem sich noch tausende weiterer Krieger hochkämpften zu dem freien Platz vor ihm. Er schluckte schwer. Nun war es an ihm sich dort hin weiterzukämpfen. Immer weiter aufwärts, mit jedem Meter ein Stück näher zu dem Hort am Gipfel des Berges, den ihre gefiederten Feinde so verbittert verteidigten.
Die Tirrchun hatten einen Körper der an Menschen erinnerte, doch diese Ähnlichkeit endete bei ihren gigantischen, braungefiederten Flügeln und den Klauen, die ihnen anstelle von Füßen wuchsen. Als Kind hatte er gedacht dass die fremde Rasse aus den Bergen am ganzen Körper mit Federn bedeckt sei und einen Schnabel trüge wie ein Vogel, doch das hatte sich bloß als Ammenmärchen herausgestellt. Die nervenzerreißenden Kampfschreie, mit denen sie ihre Angriffe einleiteten waren jedoch grausame Realität.
Cato nahm all seinen Mut zusammen und als es schien als nehme der Steinhagel ein wenig ab rannte er los.
Er musste sich zwingen nicht hinauf zu sehen. Er konnte es sich nicht leisten langsamer zu werden, oder gar danebenzutreten und abzustürzen. Seine Schritte mussten trittsicher sein, sonst würde er den Gegnern die Arbeit abnehmen.
Ein Stück des Pfades war unter dem Beschuss abgebrochen. Er sprang mit Anlauf über die Lücke hinweg und landete auf einem kleinen Felsen. Allerdings hatte er die Stabilität des Brockens falsch eingeschätzt und so kippte er auf einmal zur Seite, dem Abgrund entgegen.
Sein Herz setzte für einen Schlag aus während Cato mit wild kreisenden Armen versuchte das Gleichgewicht wiederzufinden und dem sicheren Tod zu entgehen. Am Grund der Schlucht sah er den reißenden Fluss, dessen Ufer schon von den entstellten Körpern derjeniger gesäumt war, die vor ihm gefallen waren. Er konnte förmlich spüren wie ihn das Gewicht seines Kettenhemdes hinunter zog, zu den unglücklichen Seelen im Tal.
Dann fanden seine Finger in einer Felsspalte Halt und er konnte sich wieder auf den Pfad zurück ziehen. Obwohl sein ganzer Körper förmlich nach einer Atempause schrie wusste er dass er sofort weiter musste. Und richtig, schon nach dem ersten Schritt schlug an der Stelle, wo er gerade noch gestanden war, ein Stein ein. Zwei weitere Sprünge und Cato warf sich schwer atmend unter den Baumstumpf. Hier war er vorerst in Sicherheit.
Er fragte sich wie es so weit hatte kommen können. Verstanden die Tirrchun denn nicht dass sie ihnen nur helfen wollten?
Die Menschen der Ebene und die Vögel der Berge hatten immer in relativem Frieden gelebt. Doch dann hatte die Göttin Celestia einen ihrer treusten Mönche zum Propheten auserkoren und ihm die eindeutige Botschaft gesendet, die Tirrchun stünden kurz vor der Ausrottung. Allein die Göttin konnte sie retten.
Doch die Häuptlinge der Tirrchun hatten diese Nachricht als Drohung wahrgenommen und hatten sich so lange verweigert, bis dem Propheten nichts anderes übrig geblieben war als ein Ultimatum zu stellen. Es stimmte Cato traurig dass der Stolz ihrer Nachbarn diese daran gehindert hatte die richtige Entscheidung für ihr Volk zu treffen.
Cato wurde aus den Gedanken gerissen als ihm auffiel dass der Steinhagel mit einem Mal abgenommen hatte. Erst flogen nur noch vereinzelt Geschosse, dann blieben sie komplett aus. In der plötzlich einkehrenden Stille waren nur die Schmerzensschreie der Verwundeten zu hören, die der Wind zu ihm hinauf trug.
Hatten ihre Gegner etwa aufgegeben? Cato wagte nicht es zu hoffen. Vorsichtig lugt er hinter dem Baum hervor, bereit sich jederzeit in die Deckung zurückzuziehen.
Weit oben am Himmel kreisten ihre Feinde, nur als Schatten vor dem hellblauen Himmel erkennbar. Cato konnte seine Bewunderung für diesen majestätischen Anblick nicht unterdrücken. Warum lehnte dieses Volk nur Celestia, die Herrin der Lüfte, dermaßen ab? Vielleicht sahen sie ja keinen Nutzen in einer Göttin, die ihnen nichts versprechen konnte das sie nicht ohnehin besaßen.
Cato schüttelte den Gedanken sofort wieder ab. Es war zu absurd sich vorzustellen dass jemand ohne die Güte Celestias leben konnte.
Stattdessen blickte er erneut nach unten, auf die Soldaten, die ebenso verwirrt schienen wie er. Einige übereifrige Rekruten waren bereits losgestürmt, einer drängte sich an ihm vorbei an die Spitze der Armee.
Cato war das nur recht so. In den drei Jahren, die er schon in diesem Krieg kämpfte, hatte er gelernt dass die Tirrchun listig waren und niemals so leicht aufgaben. Er wollte nicht an der Spitze stehen wenn sie ihre nächste Taktik durchführen würden.
Und richtig, im nächsten Augenblick hallte die Schlucht wieder von einem markerschütternden Schrei aus hunderten Kehlen, als ihre Gegner zum Sturzflug ansetzten. Den Menschen blieb kaum Zeit zur Vorbereitung, da hatten sie ihre Gegner schon erreicht und hieben mit messerscharfen Klauen auf sie ein.
Der junge Krieger, der sich vorher noch so voller übermut an ihm vorbeigeprescht war wurde von einer feindlichen Kriegerin mit wildem, schwarzen Haar im vorbeiflug erfasst und in die Tiefe gestürzt. Sein Schrei vermischte sich mit denen von hundert weiteren Soldaten, die ein ähnliches Schicksal ereilte.
Cato folgte der Tirrchunerin mit den Augen, als sie ihren Fall elegant abbremste, wobei sie einen weiteren Soldaten bei den Schultern packte und in die Tiefe schickte. Dann flog sie mit wenigen, kraftfollen Schwüngen zur anderen, sonnenbeschienen Seite der Schlucht und stieg mit der Thermik weit hinauf, bevor die Menschen überhaupt reagieren konnten.
Irgendwo hatte sich ein Offizier wieder gefasst und begann Befehle zu brüllen. In Cato übernahm der angelernte Gehorsam die Führung und er nahm die Steinschleuder von seinem Gürtel und legte eine der schweren Bleikugeln hinein, die er immer in einer Tasche bei sich trug.
Ihre Feinde ließen mit der nächsten Welle nicht lange auf sich warten. Als der wohlbekannte Kriegschrei ihr herannahen ankündigte begann Cato seine Schleuder kreisen zu lassen, um genügend Schwung aufzubauen. Wie in Zeitlupe sah er die gefiederten Körper vom Himmel fallen, während er auf den Befehl des Offiziers wartete. Erneut entdeckte er die schwarzhaarige Kriegerin, die mit angelegten Flügeln direkt auf ihn zustürzte. Erst als er schon die grimmigen Gesichtsausdrücke auf den Gesichtern der Gegner erkennen konnte hörte er das Kommando: "Schießen!"
In einer tausendfach eingeübten Bewegung ließ er den Lederriemen, aus dem seine Schleuder bestand, los und ließ sein Geschoss nach oben sausen. Es erwischte die Kriegerin an der Schulter und brachte sie ins trudeln, sodass sie wie ein Ball aus hilflos um sich schlagendem Gefieder und Fleisch vom Himmel fiel.
Cato konnte sich nicht mehr schnell genug zurück in seine Deckung werfen und so wurde er von der verletzten Tirrchunerin getroffen. Ein Flügelschlag warf ihn mit voller Wucht gegen die Felswand. Benommen spürte er wie ihre scharfen Klauen sein Kettenhemd durchdrangen und sich in seinen Arm gruben. Beinahe wäre er von ihrem Schwung mit in die Tiefe gerissen worden, doch mehr aus Glück als Reflex bekam er eine herausstehende Wurzel des Baumstumpfes zu fassen und schaffte es so den Fall abzubremsen. Unter tritten und Flügelschlägen versuchte er sich aus ihrem Griff zu befreien, doch sie hatte ihn viel zu fest gepackt. Mit jeder Bewegung schienen sich ihre Klauen tiefer in sein Fleisch zu bohren. Schon begann der Baumstumpf unter dem Gewicht der beiden Ringenden nachzugeben.
Verzweifelt versuchte er mit der verletzten Hand sein Schwert zu erreichen, doch es war hoffnungslos. Aber während er von ihren unkoordinierten Flügelschlägen hin und her geworfen wurde fühlten seine Finger plötzlich den Griff seines Dolches. Unter aufbringung all seiner Kraft riss er ihn aus seiner Scheide und rammte ihn so gut es ging in das Bein seiner Widersacherin.
Er erreichte die erzielte Wirkung. Mit einem schmerzerfüllten Aufschrei ließ die Schwarzhaarige von ihm ab und stürzte in die Tiefe, den Dolch weiterhin tief in ihrem Bein versenkt. Cato ließ sich keuchend zurück unter den Baumstumpf fallen. Er beobachtete wie sie weiter trudelte und verzweifelt versuchte ihren Fall abzubremsen. Erst knapp vor dem Aufprall auf den spitzen Felsen am Grund gelang es ihr die Flügel auszustrecken und ihrem sicheren Tod zu entkommen. Als sie sich mit kraftvollen Schwüngen wieder in die Lüfte erhob erkannte Cato dass seine Schleuder kaum Schaden angerichtet hatte. Nur ein kaum merkliches Zucken ihrer Schulter bei jedem Flügelschlag deutete auf eine leichte Verletzung hin.
Seine Kameraden schienen ähnlich wenig Erfolg gehabt zu haben. Auf den Leichenhaufen am Ufer des Flusses lagen nun kaum ein Dutzend gefiederte Körper, während ihre Verluste weiter gestiegen zu sein schienen.
Angespannt erwartete er weitere Befehle, doch sie kamen nicht. Der Offizier musste von einem der Feinde erwischt worden sein. Die Erkenntnis verbreitete Panik unter den Sodaten. Einige begannen bergab zu klettern, als können sie so dem Unheil entfliehen.
Cato kauerte sich tiefer denn je in seiner Deckung zusammen. So konnte es nicht weitergehen. Sie brauchten unbedingt verstärkung, sonst wären sie alle verloren.
Eine weitere Welle ergoss sich über die hoffnungslosen Menschen, dann noch eine und noch eine. Catos Welt bestand nur noch aus Federn, Klauen, Schwerthieben und den kurzen Atempausen dazwischen. Er konnte nicht sagen wie lange er da kauerte und um sein Leben kämpfte. Irgendwann tauchte neben ihm ein anderer Soldat auf, der in einer kurzen Pause einen provisorischen Verband um seinen Arm legte. Er war zu benommen um ihn wirklich zu registrieren. Im nächsten Augenblick schien der Soldat verschwunden. Cato konnte nur hoffen dass er noch am Leben war.
Dann schob sich auf einmal ein Schatten über die herabsinkende Sonne. Erschöpft und blutbesudelt blickte Cato hinauf, zu den glänzenden Objekten, die in perfekter Formation über den Himmel glitten.
Beinahe hätte er vor Glück zu weinen begonnen. Die Paladine Celestias waren am Himmel aufgetaucht, getragen von der Macht ihrer Göttin. Ihre Plattenrüstungen glänzten im Sonnenlicht und hinter ihren Rücken flatterten die weißen Umhänge, die mit dem goldenen Symbol Celestias bestickt waren.
An ihrer Spitze flog Quintiel, das leuchtende Schwert des Propheten hoch erhoben, sodass er mit seiner glänzenen Rüstung beinahe so hell wie die Sonne selbst schien.
Aus den Reihen der Soldaten drangen Jubelschreie, als die Paladine in geordneter Flugformation auf ihre Feinde herabstürzten. In der Luft waren die Klauen der Tirrchun den Schwertern und Speeren der Menschen weit unterlegen und so dauerte es nicht lange bis die leblosen Körper ihrer Feinde die menschlichen Leichenhaufen bedeckten, wie als Wiedergutmachung für ihre grausamen Verluste.
Gemeinsam mit dem Rest der Armee preschte Cato nun vorwärts. Es lag noch ein langer und beschwerlicher Aufstieg vor ihnen, doch die Gefahr von oben war nun gebannt.
Als sie endlich den Hort nahe des Gipfels erreichten war die Schlacht schon lange geschlagen. Viele der nestförmigen Hütten standen in Flammen, dazwischen marschierten Paladine allein oder in kleinen Gruppen und hielten Ausschau nach Überlebenden. in der Mitte des Hortes hatte man die Leichen auf einen Haufen geworfen. Zwischen Kriegern lagen hier Alte, Schwache und Kinder. Ganz oben lag ein Säugling, der noch im Tod durch einen schartigen Speer an der Brust seiner Mutter festgehalten wurde. Es schien als wäre jeder einzige Bewohner dieses Hortes grausam abgeschlachtet worden.
Cato blieb vor dem Leichnam einer ihm wohlbekannten schwarzhaarigen Kriegerin stehen. In ihrem Bein steckte immer noch sein Dolch, aber nun war auch ihre Kele von einem Schwerthieb aufgetrennt worden. Sein Blick blieb auf ihrem Gesicht haften. Ihre Züge waren für immer in dem grimmigen Gesichtsausdruck erstarrt, mit dem sie in den Tod gegangen war, doch er konnte sehen dass sie sehr schön gewesen sein musste.
Aus einem Impuls heraus beugte er sich zu ihr herab und schloss ihre bronzefarbenen Augen.
Plötzlich hörte er ein Klirren von Rüstungsteilen, als vor ihm ein Paladin elegant landete. Cato sah zu ihm auf und fiel sofort auf die Knie als er Quintiel, den Prophet höchstpersönlich, erkannte.
"Soldat, wie ist dein Name?", fragte er mit einer sanfter Stimme, bei deren Klang sich Cato vorstellen konnte dass er alles tun würde, das ihm dieser Mann sagte.
"C-Cato, oh Herr", antwortete er nervös. Würde man ihn nun dafür disziplinieren dass er Sympathie gegenüber der Tirrchunerin gezeigt hatte?
"Du zeigst Trauer gegenüber deinen Feinden, Cato. Das ist ein sehr löbliches Verhalten, denn Celestia lehrt uns Gnade und Vergebung." Cato atmete auf. Die Weisheit dieses Mannes war unergründlich.
"Jedoch", fuhr der Prophet fort. "solltest du immer daran denken dass die Tirrchun diese Gnade trotz unserer Warnungen abgelehnt haben. Sie haben unsere Göttin verschmäht und verdienen somit ihre Gnade nicht." Er erhob die Stimme, sodass ihn die umgebenden Soldaten hören konnten: "Bedenket alle, die große Macht unserer Göttin. Sie gab uns diesen Sieg, sie gab uns ihre Gnade und sie gab uns die Fähigkeit zu fliegen. Jene Heretiker, welche ihre glorreiche Macht verschmähen, sollen auch nicht erlaubt sein ihre Gaben zu erhalten."
Mit diesen Worten zog er sein Schwert und ließ es auf die Leiche der Tirrchunerin herabsausen. Dann ein zweites Mal. Schließlich befahl er: "Cato, ich habe ihr die Flügel genommen, denn sie ist ihrer nicht würdig. Hebe sie auf und befestige sie an meiner Rüstung, aufdass dies ein Zeichen sei, das von der Macht unserer Göttin kündet."
Bereitwillig folgte Cato der Aufforderung. Als er die Flügel fest mit den Schulterblüttern der Rüstung des Propheten verschnürt hatte trat er zur Seite und betrachtete die Menschenmenge, die sich bereits um sie versammelt hatte. Mit einer majestätischer Eleganz schwebte Quintiel einen knappen Meter über dem Boden, sodass er für alle sichtbar war.
Nachdem der überschwängliche Jubel der Soldaten nachgelassen hatte drehte er sich zu Cato um, dem beinahe das Herz stehen blieb als ihm der oberste Diener Celestias direkt in die Augen blickte: "Soldat Cato, du hast Verständnis gezeigt für die Botschaft unserer Göttin und hast dich ihrer würdig erwiesen." Cato traute seinen Augen kaum als sich der Prophet zu ihm herabbeugte und ihm seinen Arm entgegenstreckte: "Nimm meine Hand und erhebe dich als Paladin, denn du bist dieser Ehre würdig. So ist es der Wille Celestias."
Cato kam sich vor als würde er sich selbst von außen betrachten während er wie benommen die Hand ausstreckte und mit überraschend fester Stimme erklärte: "So ist ihr Wille und ich gehorche."
Kaum berührten sich ihre Hände fühlte er einen Schlag durch seinen gesamten Körper fahren und plötzlich schien es als wäre ein Gewicht, dessen er sich bisher gar nicht bewusst gewesen war, von ihm herabgefallen.
Der Bewegung seines Herren folgend ließ er sich aufwärts ziehen, weg vom Boden, wo die Soldaten noch lauter zu jubeln begannen, hinauf in den Himmel, wo die restlichen Paladine schon warteten und ihnen mit auf die Brust gelegter Faust stillen Respekt zollten.