Im grellen Licht unregelmäßig zuckender Blitze erschienen die bedrohlichen Wolkengebilde, die den Himmel verdeckten wie das Gewölbe einer gigantischen Höhle. Darunter wurde das pechschwarze Meer vom wütenden Wind aufgewühlt, sodass sich darin meterhohe Wellen zu einem lebendigen Gebirge aufbäumten.
Mitten in diesem Kampf der Elemente trieb ein einsames Floß. Mit seinen rund 8 Metern wirkte es fast wie Treibholz, das hilflos von einer Welle zur nächsten geworfen wurde. Es war rechteckig, mit einem niedrigen Unterschlupf in der Mitte und einem Mast am Bug, dessen zerfetztes Segel nutzlos im Wind flatterte.
Trotzdem klammerte sich ein einzelner Ork verzweifelt ans Ruder, als wolle er sich allein der zerstörerischen Kraft des Sturmes stellen. Er bot einen erbarmungswürdigen Anblick, wie er unter den durchnässten Mammutfellen vor Kälte zitterte. Die Kapuze war ihm zurückgerutscht und entblößte einen bis auf den langen Zopf am Hinterkopf kahlrasierten Schädel. Seine ohnehin kleinen Augen waren zu winzigen Schlitzen verengt, während ihm die Windböen aus allen Richtungen schmerzhaftes Salzwasser ins Gesicht peitschten.
Erneut festigte er den Griff um das Ruder, stemmte sich mit aller Kraft gegen den Druck der tobenden See. Unter der grünen Haut an seinen Fingergelenken trat schon deutlich das Weiß der Knochen hervor. Die groben Lederstiefel fanden Halt an den dicken Tauen, welche die Baumstämme zusammenhielten, aus denen das Floß gebaut war.
Eine besonders hohe Welle beförderte ihn weit hinauf und Gan nutzte die Gelegenheit um hinaus auf den Ozean zu blicken. Weit und breit konnte er nichts als Wellen und die grotesken Schatten dazwischen sehen. Es gab keine Spur von den tausenden anderen Flößen, die mit ihnen gemeinsam nach Norden aufgebrochen waren. Der Sonne entgegen.
Ihm drehte sich der Magen um als sein Floß über den höchsten Punkt der Welle schoss und wie ein Stein in den schier bodenlosen Schlund dahinter geworfen wurde. Über das Tosen des Sturms wehten entfernte Schreie aus der kleinen Hütte. Dort hatten die drei Familien, die mit ihm reisten und für die er verantwortlich war, vor dem Wetter Schutz gesucht.
Mit einem harten Klatschen trafen sie im Tal zwischen den Wellen auf. Das Wasser spritzte überall um ihn herum und umspülte seine Füße. Dabei brannte das Salz auf der frischen Wunde am Bein, wo ein Holzsplitter seinen Weg in die Ritze zwischen den Stiefeln und der robusten Lederhose gefunden hatte. Der Schmerz ließ Gan aufkeuchen, doch er erinnerte ihn wie nichts anderes daran dass er am Leben war.
Anders als sein Freund Medekhgui, dessen verzweifelte Hilfeschreie und Versuche gegen die Kraft des Meeres, die ihn vom Floß wegzog, anzukämpfen sich fest in Gan´s Gedächtnis gebrannt hatten. Ihm war nichts übrig geblieben als das Amulett aus Wollechsenzähnen, das um seinen Hals hing zu umklammern und seinen Gott Nergüi im Stillen zu bitten die Seele seines Freundes sicher zu leiten.
Hoffentlich würde er nicht noch mehr Opfer verlangen.
Während er sich auf den nächsten Aufstieg bereit machte erinnerte sich der Ork an die Hoffnung, mit der sie die große Überfahrt begonnen hatten. Aus dem Süden waren die Eismassen immer weiter vorgerückt und hatten die Stämme, die dem Wild folgten Mit jedem Jahr weiter nach Norden gezwungen. Bald hatte es Konflikte gegeben und die Eisstämme hatten begonnen immer größere Gebiete seines eigenen Volkes, der Sumpfstämme, für sich zu beanspruchen.
Gan schauderte bei der Erinnerung an sein erstes Zusammentreffen mit einem der großen, violetthäutigen Orks aus dem tiefsten Süden. Damals hatte er nur knapp und dank der Hilfe seines Freundes Medekhgui überlebt.
Doch auch die Flucht nach Norden half nichts, denn dort lebten die Küstenstämme der Odelkhaner und Odenizier. Nach mehreren langen und grausamen Kriegen hatte ein Mann, der Odenizische Häuptling Khenbish den verwegenen Plan gefasst eine Flotte zu bauen um dem sicheren Tod durch Krieg und Kälte zu entfliehen. Die Seher hatten von einem Land jenseits des Ozeans gesprochen, in dem noch kein Ork lebte. Die Neuigkeit hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet und so waren ganze Stämme aus allen Ecken des Kontinents angereist um sich ihm anzuschließen.
Gan konnte sich noch genau daran erinnern wie er nach der beschwerlichen Reise durch die Wälder des Nordens im Lager des Khenbish angekommen war und von der Menge der anwesenden Orks überwältigt war. Nie im Leben hätte er sich erträumt dass so viele Vertreter seiner Rasse überhaupt existierten. Doch sie taten es und sie hatten sich zusammengeschlossen um gemeinsam eine noch nie dagewesene Reise anzutreten. Die große Überfahrt.
Das riesige Opfer von hunderten Kleintieren, mehreren Mammuts und einem ganzen Wal hatte ihnen die Gewissheit gegeben dass die Götter auf ihrer Seite waren. Die ersten Tage waren auch noch gut verlaufen, doch dann waren sie in eine Flaute geraten. Zwar hatte er auf den verzweigten Flüssen seiner Heimat das Rudern gelernt, doch auf hoher See war es unglaublich demotivierend. Von einem Horizont zum Nächsten erstreckte sich das ewige Nass, ohne einen Anhaltspunkt, der ihre Reisegeschwindigkeit verraten hätte.
Jetzt vermisste er diese Langeweile.
Am vierten Tag der Flaute war dieser Sturm aufgezogen, der die Flotte innerhalb kürzester Zeit zerstreut hatte. Er fragte sich ob dies das Werk der Götter war, ob die Opfer zu wenig oder die Überfahrt selbst falsch gewesen war. Doch diese Gedanken halfen ihm nicht weiter. Alles was zählte war das Steuer gerade zu halten damit er die nächste Welle überlebte.
Und die Nächste.
Und die danach.
Bildete er es sich nur ein oder wurden die Wellen mit der Zeit immer leichter? Die Windböen immer mäßiger? Auch der Donner rollte lange nicht mehr so regelmäßig über die Weite des Meeres.
Nach einigen weiteren Wellenritten gab es keinen Zweifel mehr. Der Sturm begann nachzulassen.
Als sich das Meer langsam beruhigte und auch die Wolken zögerlich die wärmende Sonne freigaben verließen Gan endlich die Kräfte und er sackte auf den salzverkrusteten Stämmen zusammen. Dort fand ihn seine Frau, die sich als Erste hinaus traute.
Tränenüberströmt.
Tränen für den Verlust von Medekhgui, Tränen für den Verlust seiner Heimat und Tränen für den Verlust seiner Hoffnung.
Sie waren noch lange nicht an ihrem Ziel.