"Papa?", frage ich. Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Ich weiß aber, dass du nicht antworten wirst. Die Maschinen um dich herum arbeiten. Der Tropf läuft langsamer als gestern. Der Schlauch in deinem Hals gibt dir Luft, sagen die Ärzte. Eine Schwester kommt rein. Noch immer überfordert mit der Situation, frage ich sie, was das alles ist. Dieses Piepsen und Surren, das Rauschen der ganzen Geräte um dich herum. Das eine beatmet dich. Eine andere Maschine hält deine Lunge offen oder so. Eine Maschine ist dafür da, dein Blut zu waschen. Deshalb siehst du auch so aufgequollen aus, literweise Wasser ist in dir, das da eigentlich nicht hingehört.
Wieder piepst es irgendwo. Dein Pulsmesser ist abgerutscht, als die Schwester deine Temperatur messen wollte. Jetzt steht da, du hast keinen Puls. ich bekomme kurz Angst, doch die Schwester klippst das Ding wieder an dein Ohrläppchen. Doch noch Puls. Ich bin erleichtert.
"Papa. Du musst aufwachen." Eine Träne läuft meine Wange hinunter. Ganz still bahnt sich das warme Salzwasser einen Weg über mein Gesicht, bis sie lautlos auf meinem Pullover landet.
"Ihr Vater wird erstmal nicht aufwachen." Die Schwester schaut mich mitleidig an. Ich weiß, doch das sage ich nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Papa. Du bist noch nicht aus dem Schlimmsten raus. Aber wir brauchen dich. Die Schwester versichert mir erneut, dass du in besten Händen bist. Dann verlässt sie den Raum. Wir sind wieder allein.
Früher habe ich es vermieden, mit dir allein in einem Zimmer zu sein. Das gab dann immer Streit. Heute nicht, versuche ich wenigstens einen Vorteil aus deiner Sprachlosigkeit zu ziehen.
"Papa. Das ist echt scheiße von dir. Sei halt krank, wenn du das unbedingt willst. Aber dieses Koma ist echt blöd. Mama isst kaum noch. Die steht voll unter Stress. Und alle Kinder sind hier, im Warteraum, und alle deine Enkel. Du weißt, wie wir sind. Wir verstehen uns nicht immer gut. Aber jetzt, in diesem Stress. Kannst du nicht ganz kurz die Augen aufmachen und sagen, dass alles gut wird? Oder wenigstens einmal mit dem Finger wackeln." Ich nehme deine Hand. Sie ist eiskalt, so kenne ich dich nicht. Aber es ist schön, deine Hand zu halten. Das letzte Mal ist so viele Jahre her. Ich versuche noch ein wenig, dich davon zu überzeugen, mir dein Passwort für den Laptop zu geben, doch auch darauf reagierst du nicht. Mama will wissen, ob alle Rechnungen bezahlt sind, ob die Daueraufträge eingerichtet sind. Sie macht sich Sorgen. Ihr Konto ist leer, du bist immer der, der die Finanzen verwaltet. Eigentlich.
Auch beim nächsten Versuch bekomme ich kein Passwort aus dir heraus. Du scheinst dieses Koma echt zu genießen. Ich weiß natürlich, dass du das nicht tust, aber ich brauche diese stumpfe, sarkastische Art, um damit klarzukommen.
"Papa, du hast vier Kinder. Ich bin die Dritte. Wieso genau muss ich eigentlich immer die Starke sein? Mama isst nicht mehr. Was soll ich machen? Gibst du mir dein Rezept für die Feiertagssuppe? Die mögen alle."
Du kochst gerne und die Schwester hat gesagt, ich soll dir schöne Sachen erzählen. Ich mache eine Playlist am Handy an, ein bisschen Jazz, das magst du. Ich nicht. Aber egal. Ich will dir etwas erzählen, aber was? Etwas schönes. Es regnet, nicht so schön. Alle streiten sich, auch nicht schön. Der Heizungsmonteur hat eine Rechnung geschickt, die Mama nicht bezahlen kann, weil sie keinen Zugriff auf dein Konto hat. Auch nicht die tollste Nachricht des Tages.
"Papa, ich hab überlegt, mir meine Haare kurz zu schneiden." Das interessiert dich zwar nicht, aber ist immerhin keine schlechte Nachricht. "Wenn du was dagegen hast, sag das jetzt. Sonst ist das beschlossene Sache." Manchmal ist auf dich Verlass, denn du bleibst weiter stumm, schlafend, regungslos.
Ich lasse deine Hand los, zupfe ein bisschen an der Decke, was eine wahre Herausforderung ist. Bei all den Schläuchen und Nadeln und was da noch alles um und in deinem Körper steckt, muss ich aufpassen. Aber du sollst nicht frieren. "Papa, ich muss los. Mich um Mama kümmern. Falls", beginne ich, doch ich habe Angst, es auszusprechen. Der Arzt sagte mir, ich solle mich schonmal verabschieden, nur für den Fall. "Also, Papa, auch wenn wir uns das sonst nicht sagen. Ich hab dich lieb. Wirklich. Aber wenn du das hören kannst, trau ich mich nie, das auszusprechen. Du sagst das ja auch nie, deshalb weiß ich nicht, ob man das macht."
Ich wische die letzten Tränen aus meinem Gesicht und verlasse langsam den Raum. Ich trau mich fast nicht, die Hoffnung ist noch zu groß, dass du jetzt einfach deine Augen aufmachst und rufst "Überraschung", und uns allen nur einen Schrecken einjagen wolltest. Doch dafür liegst du hier schon zu lange.
Ich desinfiziere meine Hände, Arme, gehe in den Warteraum. "Wir können dann", sage ich zu Mama. Schweigend gehen wir zum Auto, fahren nach Hause. "Papa hat gesagt, er liebt dich", sage ich zu Mama. Sie schaut mich an. "Naja, er hat immerhin nicht gesagt, dass er es nicht tut." Ein schwaches Lächeln taucht in Mamas Gesicht auf.
Ich setze sie aufs Sofa und mache eine Kochsendung an. "Was soll das denn? Ich hasse diese Sendung", meckert sie. "Ja, aber Papa nicht. Und eigentlich ist jetzt seine Fernsehzeit." Sie antwortet nichts, doch ich höre, wie sie sofort umschaltet, nachdem ich den Raum verlasse.
Ich setze mich in die Küche und öffne Papas Laptop. Ein paar Versuche habe ich noch. Was könnte Papa als Passwort nehmen?
Während ich überlege mache ich Brote fertig. Mit Marmelade und Schokocreme. Papa sagt immer, abends wird nichts Süßes auf dem Brot gegessen. Und auch nicht getrunken. Also mache ich noch Kakao warm und bereite ein Tablett vor. Die Brote schneide ich in kleine Häppchen, so wie Mama das für mich immer macht, wenn ich krank bin.
Mit dem Tablett gehe ich ins Wohnzimmer, den Laptop in der anderen Hand. "Mama, wann ist euer Hochzeitstag?", frage ich. Ich decke sie zu, drücke ihr ein Brett mit Häppchen in die Hand und stelle eine Tasse mit warmen Kakao in ihre Reichweite. Sie schaut mich an, nennt das Datum. "Aber solange Papa nicht da ist, müssen wir kein kochen gucken?" Ich schaue zum TV, und Mamas und meine liebste Krimiserie läuft. "Nein, wir müssen es ihm ja nicht erzählen. Nur, wer den Wettbewerb gewonnen hat."
Während ich Häppchen für Häppchen esse, schaue ich mir Papas Kontodaten an. "Morgen können wir einkaufen", sage ich zu Mama, die erstmals ein wenig erleichtert wirkt. "Also, ich bin drin. Und so schlecht sieht es gar nicht aus." Wir gehen die einzelnen Punkte der Tabelle durch, kündigen Papas Zeitschriftenabos, bezahlen den Heizungsmonteur per Online-Banking. Zum Glück hat Papa seine Passwörter im PC alle gespeichert. Man müsste sich nur merken können, wann die beiden geheiratet haben.
"Mama, bevor der Täter gefasst wird, musst du noch mindestens zwei Häppchen essen", erinnere ich sie daran, dass Brot nicht nur hübsch aussieht. Widerwillig zwingt sie sich, alle Häppchen aufzuessen. "Gut gemacht. Jetzt der Kakao. Wir müssen doch ausnutzen, das Papa nicht da ist, um unsere Essgewohnheiten zu kritisieren", sage ich schmunzelnd.
"Du wärst eine gute Mutter", deutet meine Mama an. "Ja. Aber erst, wenn die großen Kinder selbstständig sind."
Das Essen scheint Mama gut zu tun, ebenso wie die Gewissheit, dass zumindest finanziell keine Sorgen mehr zu machen sind. Der Täter im Fernsehen wird gefasst. "Noch eine Folge vor dem Schlafengehen?", frage ich. "Aber nur, wenn ich noch Eis darf", antwortet Mama. Ich nutze die 30Sekunden Werbepause zwischen den Folgen, um in den Keller zu laufen, Eis zu holen, und wieder auf den Sessel zu stürmen. "Gerade noch rechtzeitig", sagt Mama. "Naja, ich hab Übung. Papa arbeitet ja öfter länger", sage ich. Mama muss grinsen. "Aber wir müssen gleich wirklich gucken, wer das kochen gewonnen hat. Wenn wir ihm das nicht sagen können", doch ich unterbreche sie. "Schh, die Serie geht los."