„Das ist der Ort?“
Ich nicke. „Zumindest laut dem Photo.“
Neil drückt wiederholt auf die Klingel, doch niemand aus dem alten Anwesen, sollte dort überhaupt jemand sein, reagiert darauf. „Lass uns lieber gehen, der Ort gibt mir Creeps.“
Kopfschüttelnd ignoriere ich die bitte meines Freundes. „Schönes Wort und nein! Hier ist sie verschwunden und ich werde nicht gehen, solange wir nicht zu 100% wissen, dass dieser Ort nichts damit zu tun hat!“
„Ihr Verschwinden ist bei der Polizei gemeldet, wir verschwenden hier nur unsere Zeit.“
Dass er recht hat, war mir klar, doch rational zu denken, wenn die eigene Tochter seit Tagen vermisst wird, ist ein Ding der Unmöglichkeit. „Es gibt bestimmt einen anderen Weg hinein. Komm mit!“
Vor uns erstreckt sich ein hoher Maschendrahtzaun. Vereinzelte Bäume umgeben das abgelegene Grundstück auf der einen, ein kleiner Fluss auf der anderen Seite. Mehrere Unterstände und kleine Schuppen sind hinter dem Gitter aneinandergereiht erkennbar. Doch von Selin fehlt jede Spur. Seit inzwischen drei Tagen suchen wir vergeblich nach ihr. Trotz der Vermisstenanzeige und dem Bild wartet die Polizei auf den Durchsuchungsbefehl, ehe Sie das Grundstück auf den Kopf stellen. Es sollte eine Geburtstagsfeier bei einer Klassenkameradin sein. Mit dieser Ausrede gaben wir ihr die Erlaubnis, bei ihrer Freundin zu übernachten. Natürlich hatte ich die Sorge, es könne sich um eine Lüge handeln, mit der Sie einen Freund aufsucht, um den selben Fehler zu machen wie ich damals. Deswegen hatte ich ihr extra ein paar Kondome in die Tasche geschmuggelt. Doch eine Art Mutprobe, die zu ihrem Verschwinden führen würde, hatte wohl niemand erwartet.
*****
„Selin, du schaffst es bestimmt nicht!“
„Sei still!“
„Jeder von uns hat das geschafft, heute bist du dran!“
Verzweifelt starre ich das alte Gemäuer an und höre die Bretter der baufälligen Schuppen im Wind klappern. Meine Angst zu leugnen fällt mir schwer. „Können wir nicht einfach wieder zu dir gehen und deinen Geburtstag feiern?“
Sichtlich betrunken zieht Cassi an dem Zaun und legt ein kleines, verstecktes Loch in dem Gitter frei. „Ne, komm schon Kleine, du bist schon lange 16 und hast noch nicht mal bewiesen, dass du reif genug bist! Jeder von uns musste so was vor seinem Geburtstag machen.“
Als ich versuche, mich durch dieses kleine Loch zu zwängen, schneidet mir der scharfe Draht leicht in den Arm.
„Du hast es geschafft, wenn die Sonne aufgeht! Hast du gehört, Kleine?“ Meine Tasche schiebt Cassi noch durch die Lücke, im Anschluss rennt sie schwankend weg.
Als erstes leuchte ich mit meinem Handy auf meine violette Handtasche, um etwas für die Wunde zu suchen. Zum Glück ist es Dunkel, denn beim Anblick von frischem Blut wird mir regelmäßig übel. Murmelnd ziehe ich ein paar Kondome aus der Tasche und werfe diese auf den Boden. „Na super, nur weil sie so dumm war, muss ich es doch nicht sein.“ Ich hasse meine Mutter für ihre Übervorsorglichkeit. Ja, als sie schwanger wurde, war sie gerade einmal 14. Ich bin jetzt schon älter als sie es damals war und hatte noch nicht einmal Sex. „Besser als nichts.“ Mit Hilfe der kleinen Nagelschere verwandele ich den Ärmel meines zweiten Shirts in einen Stofffetzen, der einmal um den Arm gebunden gerade ausreicht, um die blutende Wunde abzudecken. „Wohin jetzt?“ Es ist kalt und nass, als einzige Lösung erscheint mir, mich möglichst nahe an die alten Säulen zu stellen, welche das marode Dach stützen. Eine Nacht muss ich jetzt hier sein.
Plötzlich quietscht etwas in meiner Nähe. Panisch dränge ich mich hinter die Säule. Doch nichts folgt dem schrillen Ton, es war wohl nur der Wind der die offene Türe bewegte. Neugier baut sich in mir auf. „Ein kurzer Blick hinein schadet wohl nicht.“
Im Inneren des Gebäudes erwarten mich Finsternis und Kälte. Alte, verstaubte Möbel überall. Mein Handy gibt gerade genug Licht, um nicht gegen einen herumstehenden Hocker zu laufen. Ein Ende der langen Eingangshalle zu erkennen, ist mit dem schwachen Schein aber unmöglich. Eine offene Türe auf der linken Seite führt schließlich in eine alte Küche. Der Versuch, das Licht einzuschalten, war ohne Erwartungen, umso mehr überrascht es mich, als es funktioniert. „Selbst für meine Oma wären das Antiquitäten.“ Eine seltsame, aber definitiv neue Flasche auf dem vermoderten Holztisch lässt das Bild nicht gerade weniger unheimlich erscheinen. „Vielleicht von Cassi,“ frage ich mich, als ich mich an dem Verschluss zu schaffen mache. An der braunen Flasche erkennt man, wie sie wohl versucht hatte, das Etikett mit ihren Fingernägeln zu entfernen. Der Gedanke, dass es hier eigentlich gar nicht mal so ungemütlich ist, kommt mir, als ich mich in das staubige, aber erstaunlich bequeme Polster werfe. Während ich einen großen Schluck Wasser aus der Flasche nehme, betrachte ich entspannt die Zeitreise in das letzte Jahrhundert. Das Telefon mit Wählscheibe, das unheimliche Hirschgeweih über der Steinplatte, die wohl als Herd fungiert hatte, unzählige, inzwischen weiße Hocker und die große, staubige Lampe, die mir hilft, hier überhaupt etwas zu erkennen. Als ich da so sitze, überkommt mich ein seltsames Gefühl und Schwindel. Nur eine einzelne Spinnwebe verbindet die Wand mit einem der kleinen Schränke. Beim Versuch aufzustehen bricht mein linkes Knie weg. Die Wasserflasche verschwimmt vor meinen Augen und gleitet mir aus den kraftlosen Fingern.