Fortsetzung zu „Schwindelig“
„Kate, komm da raus!“ Sein leises kritisches Flüstern hätte er sich auch sparen können.
Fußabdrücke führten uns zu einem kleinen Loch im Zaun. Wenn man ihn kräftig anhebt, kann man sich gerade so hindurchzwängen. Ein seltsamer Fleck an einer der Spitzen des Stacheldrahtes hat erwähnenswerte Ähnlichkeit mit getrocknetem Blut, zumindest bilde ich mir das ein. Neil wartet noch auf der anderen Seite und flucht leise vor sich hin. Scheinbar hat er Probleme damit, in ein fremdes, aber offensichtlich leerstehendes Haus einzubrechen. Gesetzestreu war er schon immer, hier zeigt sich aber ein komplett neues Extrem.
„Jetzt komm endlich rein!“
Nach langem, wiederholten Schnaufen reißt er sich endlich zusammen und zwängt sich ebenfalls unter dem Zaun hindurch.
„Shit!“, entfährt es ihm.
„Was ist los?“
Kaum durchgeschlüpft, starrt er auf seinen linken Ärmel, an dem sich langsam ein roter Fleck abzeichnet. „Siehst du, hier ist nichts. Lass uns gehen. Außerdem wird es dunkel.“
Seine zitternde Stimme ignorierend schweift mein Blick über das alte Gemäuer. Säulen aus grauem Gestein erstrecken sich vor der einst beeindruckenden Villa. Eine Ruine, mehr ist davon heute leider nicht übrig geblieben. Während ich ängstlich dem Geräusch der quietschenden Türen lausche, die im Wind leicht gegen ihre Rahmen schlagen, folge ich dem Kiesweg hinein.
„Das ist Hausfriedensbruch, wir sollten schleunigst hier weg! Kate, hörst du mir überhaupt zu?“
„Was hat sie wohl an diesen Ort getrieben? In ihrem Alter hätte ich mich nicht einmal in die Nähe dieses Grundstücks getraut.“
Ein langer Flur lag vor uns. Ein dunkler Raum, der lediglich über die wenigen Fenster leicht erhellt wird, wobei das Sonnenlicht zunehmend verblasst und wir uns bald im Angesicht der Finsternis wiederfinden werden.
„Kate, ich bitte dich. Lass uns gehen!“
Erneut ignoriere ich die inzwischen winselnde Stimme meines feigen Freundes. Dieser Ort faszinierte mich. Eine angelehnte Türe auf der linken Seite führt uns in eine Art Küche.
„Neil, siehst du das?“ Einige umgeworfene Hocker liegen am Rand und im staubigen Boden erkennt man eine leichte Spur, es wirkt als wäre etwas durch den Gang geschleift worden.
„Lass uns dieser Spur folgen!“
Anstatt erneutem Gewinsel erwiderte Neil nichts.
„Neil? Komm raus, das ist nicht Lustig. Neil? Neil!“
*****
„Oh, du bist wach?“
Ein leises Kichern ertönt, als ich meinen Kopf langsam von dem kalten, harten Boden hebe.
„Wer bist du? Was ist hier los?“ Meine Frage bleibt ohne Antwort, aber ich spüre einen leichten Luftzug an meinem nackten Körper. Zögerlich tasten meine Hände die Umgebung ab, es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen. Um mich herum sind unzählige Metallstangen und hinter mir fühle ich eine kalte, steinige Wand. Knarrend öffnet sich eine Türe oberhalb und spendet ein wenig Licht. Ein leiser Aufschrei entweicht mir beim Anblick der mich umgebenen Gitterstäbe. Eine Art Kerker mit mehreren Kammern. Ob sich in den umliegenden Zellen ebenfalls Menschen befinden, kann ich nicht sehen. Schritte erschallen über mir und stampfen lautstark quietschende Stufen hinab, begleitet von einem unruhigen Lichtschein. Im ersten Moment bin ich geblendet, aber dann erkenne ich langsam Umrisse. Ein Kreischen ertönt neben mir. Eine alte Frau, deren Haut einem schrumpligen Apfel ähnelt, starrt mir in die Augen. Ein unheimliches Grinsen formt sich auf ihrem bleichen Gesicht. Die Schritte kommen näher und ein nicht weniger blasses, männliches Gesicht taucht gebückt im Schein einer alten Öllampe vor meiner Zelle auf.
„Was willst du von mir?“
Er antwortet nicht und schiebt seine Brille zurecht. Nach ein paar Sekunden entfernt er sich wieder und läuft die anderen Käfige ab. In einen wirft er eine seltsame Flasche hinein. Immer wieder hebt der Bucklige seine Laterne und beobachtet die eingesperrten Gestalten. Übelkeit steigt sich in mir auf. Dem ersten fehlen beide Arme, einer jungen Frau sind Augen und Mund zugenäht. Mehr kann ich nicht erkennen, bevor die Gestalt im langen Korridor verschwindet.
„Du bist die Nächste“, kichert die alte Frau neben mir. „Du bist die Nächste!“