Wehmütig sah er auf all das zurück, was hinter ihm lag. So vieles musste er nun zurücklassen. Doch er hatte sich für diesen Neuanfang entschieden und wenn er ehrlich war, freute er sich auf diesen neuen Lebensabschnitt. Auch wenn dieses den Abschied von seiner Familie, seinem Dorf und seinem ganzen bisherigen Leben bedeuten würde.
Ein letztes Mal sah er zurück, ehe er in der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschwand. Die Stille der Nacht begrüßte ihn und die Bäume streckten ihre Äste aus, als wollten sie den Neuankömmling umarmen. Doch dieser ließ sich davon nicht beirren, sondern folgte seinem Weg, welchen er sich so oft vorgestellt hatte. Bisher hatte er einfach noch nie den Mut und die Kraft gefunden, diesen Weg zu gehen und all das hinter sich zu lassen.
Jetzt, wo er an seine Vergangenheit zurückdachte, fragte er sich, warum er diesen Neuanfang nicht schon viel früher gewagt hatte. Er war niemals wirklich glücklich gewesen. Er fühlte sich wohl, war zufrieden. Hatte alles, was man sich wünschen konnte. Lebte mit einer wunderbaren und bildhübschen Frau zusammen; bald sollten sie eine Familie gründen. Sie war die tollste Frau, die er sich jemals hätte vorstellen können – hatte er sich zumindest gedacht. Gespannt hatte er all ihren Geschichten gelauscht und sich schon darauf gefreut, wenn sie diese Geschichten auch den gemeinsamen Kindern erzählte. Sie war so wunderbar, hatte er geglaubt. Mit ihr hatte er sein gesamtes Leben verbringen wollen. In diesem Haus, in diesem Dorf.
Alles hätte er für sie getan, wirklich alles. Er hätte sich selbst völlig aufgegeben, damit sie glücklich wird. Niemals hätte er sie enttäuschen können. Dafür war sie viel zu perfekt. Viel zu perfekt für jemanden wie ihn. Schließlich fühlte er sich selbst alles andere als perfekt. Sie war exakt, wie er es sich gewünscht hatte. Und doch...nun war er sich sicher, dass er mit ihr niemals sein ganzes Leben glücklich werden könnte. Spätestens, als er zum ersten Mal dem Ruf der Freiheit gelauscht hatte, war es ihm bewusst geworden. Er brauchte mehr als dieses kleine Dorf. Er brauchte sein Leben. Seine Unabhängigkeit. Niemandem, dem er sich verbunden fühlte. Niemanden, vor dem er sich schuldig fühlte, wenn er mal wieder einen Fehler begannen hätte. Nicht, dass er sich ständig hätte schuldig fühlen müssen, doch sie war zu perfekt. So perfekt, dass ihm seine eigenen Fehler immer mehr ins Auge stachen. Je mehr er sie liebte, desto weniger liebte er sich selbst.
Dabei wollte er doch bloß glücklich sein. Lachen und weinen. Leben! Das Leben in all den Facetten genießen. Mit ihr war er immer bloß zufrieden. Er konnte sich nicht beschweren, aber wirklich glücklich, dass war er auch nicht. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er das letzte Mal mit ihr wirklich gelacht hatte.
Ganz anders war es gewesen, als er diesem Mädchen gelauscht hatte, dass auf dem Dorfplatz gestanden und von der unendlichen Freiheit gesunken hatte. Niemand sonst hatte ihr Beachtung geschenkt – fast als könnten all die anderen sie nicht wahrnehmen – doch er selbst konnte sich nicht mehr von ihr lösen. So stand er Tag um Tag alleine vor ihr, während sie selbst ihre fröhlichen Lieder zum besten gab und ihn regelmäßig zum Lachen brachte.
Jeden Abend um die gleiche Uhrzeit verschwand sie im Wald, um am nächsten Tag pünktlich auf dem Marktplatz zu erscheinen.
Doch eines Tages sang sie andere Lieder. Lieder in denen sie von einem Neuanfang erzählte und erklärte, dass der beste Zeitpunkt, um dem Ruf der Freiheit zu folgen, in der Dunkelheit der Nacht sei. Außerdem sang sie davon, dass sie bald weiterreisen müsse. Mehr von der Welt sehen und all die Wunder erleben.
Er wollte sie aufhalten – blieb aber erfolglos.
Als der Dorfplatz am nächsten Tag leer blieb, zerriss es ihm beinahe das Herz. Doch in seinen Träumen hörte er sie weiterhin singen. So ging er immer früher schlafen und stand später auf, sodass sich seine Frau immer mehr Sorgen um ihn machte.
Eines Tages fasste er endlich den Entschluss. Er schrieb einen Brief an seine Frau, in dem er erklärte, dass er gehen müsse. Sie habe besseres verdient als ihn. Er sei es nicht wert und müsse dem Ruf der Freiheit folgen, um glücklich werden zu können.
Während sie noch schlief, platzierte er diesen Brief auf seinem Bett, um den Ruf der Freiheit zu folgen.
Unbeirrt bahnte er sich seinen Weg zwischen den Bäumen hindurch, erstaunlich sicher trotz der Dunkelheit. Doch er kannte sein Ziel, es war fast, als würde er sie singen hören.
So folgte er ihrem Gesang immer weiter durch den dunklen Wald. Er selbst hatte die Orientierung schon lange verloren, doch das war ihm auch nicht mehr wichtig. Er musste nicht wissen, wo er war. Dieser Weg fühlte sich gut an und er war glücklich, diesen Neuanfang gewagt zu haben.
Nach einiger Zeit entdeckte er in der Ferne ein Flackern und als er näher kam, erkannte er ein flackerndes Lagerfeuer.
***
»Ich habe auf dich gewartet«, begrüßt sie ihn. »Du bist also dem Ruf der Freiheit gefolgt!«
Langsam kommt er näher und findet sich in einer wortlosen Umarmung im flackernden Schein des Feuers wieder.
»Ich bin so froh dich wieder zu sehen«, erklärt er schließlich.
Die beiden setzten sich neben das Feuer und blicken sich einige Zeit schweigend in die Flammen.
»Das ist also der Neuanfang«, murmelt er nach einiger Zeit. »Willst du mir etwas vorsingen?«
Sie nickt, als hätte sie nur darauf gewartet. Leise vermischt sich ihre Stimme mit dem Knistern des Feuers und breitet sich immer weiter aus, bis der Scheint ihrer Stimme den ganzen Wald erleuchtet. Die Äste der Bäume beginnen im Takt hin und her zu wippen. Es raschelt kurz und ein kleines Eichhörnchen huscht aus dem Baum und bleibt wenige Meter von ihr entfernt stehen. Kurz darauf erscheint ein Reh. Er steht auf und das Reh stupst vorsichtig gegen seine Hand, als er sie ausstreckt. Während er das Reh streichelt, versammeln sich immer mehr Eichhörnchen, um der wunderschönen Melodik zu lauschen, die nun von einem vielstimmigen Vogelchor begleitet wird. Auch einige Wildschweine und Rehe haben sich versammelt; es scheint als sei der gesamte Wald zusammengekommen, um ihrem Lied über Freiheit und den Neuanfang zu lauschen.
Langsam schieben sich die ersten Sonnenstrahlen durch das Blätterdach und beginnen die ganze Szenerie in ein magisches Licht zu tauschen.
Viel zu schnell hat sie ihr besonderes Lied beendete. Sanfte Stille bereitet sich auf der Lichtung aus und das, obwohl sie von unzähligen Tieren bevölkert ist.
Ein letztes Mal erhebt sie ihre Stimme und ihre Worte werden von den Vögeln weitergetragen: »Jedes Ende ist auch ein Neuanfang.«