Nina schlägt die Augen auf. Die Stille dröhnt in ihren Ohren.
Die Bridge, die ihr Kopf spielt, hat sie geweckt. Als sie Luft holen will, wird ein lautes Seufzen daraus. Sie streicht sich einige verirrte blonde Strähnen aus der Stirn.
In ihrem Kopf setzt Gesang ein.
„'Cause I'm losing my sight, losing my mind ...“
Stumm formt Nina mit ihren Lippen die Silben. Während sie die Decke zurück schlägt, sucht sie in ihrer inneren Musikbibliothek den Titel des Songs. Wieder ein seufzen. Sie fährt sich durchs Haar, streicht es nach hinten. Das verleiht ihr immer den unvergleichlichen Albino-Maffioso-mit-Haarpomade-Look. Zum Glück kann sie gleich duschen.
Zum Glück?, echot es leise in ihrem Kopf.
Sie schüttelt den Gedanken ab.
Als Nina aufsteht, zuckt Schmerz durch ihre Füße. Hinauf bis in die Knie.
Ein Schritt.
Schmerz.
Ein weiterer Schritt.
Schmerz.
Beim dritten Schritt klingt der Schmerz ab. Beim vierten spürt sie ihn fast gar nicht mehr. Nicht, dass es sie kümmern würde. Längst hat sich Nina daran gewöhnt, dass die ersten paar Schritte des Tages weh tun. Es ist fast, als sei sie die kleine Meerjungfrau, der sich jeder Schritt wie einer auf Glasscherben anfühlt.
Ihr Weg führt sie in die Küche. Wie jeden Morgen. Sie lässt das Wasser laufen, während sie sich die Tasse mit der Zeichnung eines Otters greift, die neben der Spüle steht. Wie jeden Morgen.
Erst eine Tasse Wasser, dann der Rest des Tages.
„Wish somebody would tell me I'm fine ...“
Mit dem Fuß tippt sie den Takt mit. Singt den Text ohne Ton.
Wasser rauscht, als sie die Tasse kurz grob abspült. Dann klackt es leise. Die Tasse wird zum Abtropfen auf die Spüle gestellt. Ninas Weg führt sie ins Bad, wo sie sich für den Tag fertig macht. Zähne putzen, dabei den Blick in den Spiegel meiden. Sie stellt das Wasser in der Dusche an, damit es warm werden kann.
Ihr Kopf spielt wieder das Intro und wiederholt den Gesang. Nina sucht noch immer nach dem Titel.
Es ist nicht das Original, meint ihr Kopf – wenig hilfreich. Nina schnaubt. Dann steigt sie in die Dusche, ohne den Spiegel eines weiteren Blickes zu würdigen.
Das Wasser hilft die Müdigkeit zu vertreiben. Zumindest ein wenig. Wenn Nina sich bemüht, so zu tun als ob.
Sie seift sich ein, dann beginnt sie geübt sich zu rasieren. Die Beine, die Arme, die Brust, den Bauch, die Achseln … Das Gesicht.
Dabei konzentriert sie sich so gut sie kann nur auf ihren Rasierer. Die Stelle, an der sie die Klingen auf ihrer Haut spürt. Mit aller Willenskraft bemüht sie sich, nicht zwischen ihre Beine zu sehen.
Das Intro, das ihr Kopf noch immer spielt wird lauter. Es dröhnt zwischen ihren Ohren. Als sie zu ihrer Brust kommt, stellt sie sich einfach vor, sie hätte Doppel-A.
Vielleicht auch Trippel-A.
Nicht hinsehen.
Als sie ihr langes Haar einschäumt lächelt Nina. Es gleitet weich durch ihre Finger. Das Shampoo riecht gut nach Magnolie. Und ihr Haar wird noch bis zur nächsten Wäsche danach riechen. Sie liebt das.
„I can't go on living this way ...“
Während sie sich abtrocknet, schließt Nina die Augen. Konzentriert sich auf das Lied in ihrem Kopf. Ihre Lippen bewegen sich stumm zum Text, während die Instrumente fast so laut dröhnen, wie ihr eigener Herzschlag. Die Musik ist viel zu fröhlich für diesen Text.
Way too happy.
Mit dem Anziehen beeilt sich Nina. Sie weiß, dass der Slip schmerzen wird. Genauso wird sich der BH zuerst falsch anfühlen, aber sobald sie Strumpfhose und Kleid anhat wird es okay sein. Dann wird es weniger weh tun.
Als sie den Saum des hellen, geblümten Kleides um ihre Knie streichen fühlt, atmet sie erleichtert auf und lächelt. Zum zweiten Mal an diesem Morgen.
Sie greift nach ihrer Bürste und beginnt ihr Haar zu kämmen.
Dann erst blickt sie in den Spiegel und greift nach ihrem Eye-Liner.
Nur nicht den Adams-Apfel ansehen.
„Nothing's alrigh ...“
~
Ich habe mich hier des Liedes "Last Resort" bedient. Im Original von Papa Roach, in meinem Kopf spielte aber die "Way too Happy Accustic"-Version der Melodicka Bros: https://www.youtube.com/watch?v=O63HVfiiooY