Der nächste Tag war extrem trocken und für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Hitzeschlieren bildeten sich in der Ferne über der Straße, als sie mit dem Transporter in die Richtung fuhren, die ihr singender Freund ihnen gesagt hatte. Was auch immer es mit dem „Casino“ auf sich hatte … irgendwie glaubte sie nicht, dass sie eine Glücksspielhalle vorfinden würden.
Sie waren zu zweit. Murphy hatte erst später Zeit und Pakhet war dankbar dafür. Sie war sich nicht sicher, was sie finden würden, doch ging sie jede Wette ein, dass der Junge es nicht unbedingt sehen sollte.
Sie hatten den Transporter genommen, da er weniger auffiel. Nicht zuletzt, da er schon wieder mit Sand verklebt war und verdreckt wirkte.
Mit Blick auf das Navi, stupste sie Heidenstein an. Er fuhr. „Such dir hier etwas zum Parken“, wies sie ihn an.
Sie wollte nicht zu Nahe an das Gebäude heran.
Er nickte stumm. Seine Miene war für ihn ausgesprochen grimmig. Er war nicht begeistert von der Aussicht, hatte aber drauf bestanden mitzukommen. Etwas, wofür sie dankbar war.
Letzten Endes hielt er den Wagen hinter der noch genutzten Ruine eines der frühen Wohnungsbauprojekte, die zu Beginn der Apartheit errichtet worden waren. Ein altes Gebäude aus roten, unversiegelten Ziegeln, das heruntergekommen wirkte, wahrscheinlich aber noch von irgendeinem armen Schlucker bewohnt wurde..
Sie waren am südostöstlichen Ende der Flats. Es lag nicht viel zwischen ihnen und dem Farmland.
„Wollen wir?“, fragte sie Heidenstein.
Er öffnete die Wagentür, seufzte. „Ja. Lass uns.“
Sie tat es ihm gleich, sprang auf die Straße und sah sich um. Niemand war in der Nähe – was gut war, denn ihr Plan involvierte nicht zuletzt die Armreife, die Heidenstein geschaffen hatte. Es wäre für die meisten normalen Menschen auffällig, sie einfach verschwinden zu sehen.
Pakhet umrundete den Wagen, da er mit der rechten Seite am Haus stand, gesellte sich zu Heidenstein.
Er seufzte noch einmal. Er hatte eine Kamera dabei. Eine von diesen Action-Cams, die in letzter Zeit mehr und mehr genutzt wurden. Die Hoffnung war, dass sie sich eine Übersicht über den Aufbau des Gebäudes verschaffen konnten.
„Wenn wir sie finden“, begann Heidenstein vorsichtig und sprach dabei fraglos über Dené, „reicht es eigentlich, wenn wir die Adresse an diesen Tutu weitergeben, oder?“
Auch Pakhet hatte darüber nachgedacht. Ihre Aufgabe war eigentlich nur, herauszufinden, wo Dené war. Natürlich war impliziert, dass sie sie zu Tutu bringen sollten, oder? Eigentlich reichte es, herauszufinden, wo sie war. Sie könnten Bescheid sagen, es die Gangs regeln lassen, die fraglos für Tutu arbeiteten. Immerhin war er bekannt für seine „Security“.
Eigentlich hätte es gereicht, ihm zu sagen, was sie nun wussten. Doch Pakhet hasste es, auf die Worte des Scouts zu vertrauen. Sie wollte Bestätigung. Denn auch, wenn er nicht gelogen hatte, wenn er Dené wirklich dahin gebracht hatte, so hieß das noch lange nicht, dass sie sich auch jetzt dort befand.
Sie hasste es darüber nachzudenken.
„Ja“, murmelte sie matt, schluckte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus.
Noch immer gab es vieles, was ihr an der Sache nicht gefiel. Der Auftrag selbst war ein Teil davon. Sicher, Tutu war dafür bekannt, einer der respektvolleren Pimps zu sein. Seine Mädchen waren sicher, seine Mädchen wurden bezahlt. Aber es waren auch vorher Mädchen verschwunden, das hatte man ihr erzählt, warum also die Bezahlung für Dené? Warum war sie so besonders? Es war eine Menge Geld, um ein einzelnes Mädchen wiederzufinden, wenn er doch andere hatte, die für ihn arbeiteten.
Hatte Dené eine besondere Verbindung zu ihm oder hatte er Hintergedanken?
Dann war da die Sache, dass sie nicht sicher sein konnten, was sie an dem Casino finden würden. Sie wusste zu wenig über die Leute, hatte kaum Möglichkeiten, mehr herauszufinden. Informationen kosteten Geld – oder sehr viel Aufwand und Zeit. Sie hatte nichts davon. Gut, sie hatte Geld, doch Geld ausgeben, um einen Auftrag, für den sie bezahlt wurde, auszuführen, war widersprüchlich.
Und dann war da noch eine Sache: Heidenstein hatte ihr gesagt, dass die Scouts nach aktueller Beweislage nur vierundzwanzig Stunden lang festgehalten würden. Nicht genug. Und dann? Dann konnte das ganze viel komplizierter werden, vor allem nachdem ihr Singvogel sie erkannt hatte. Es wäre wahrscheinlich einfacher gewesen, sie zu töten.
„Pakhet?“ Heidensteins fragende Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Sie holte tief Luft, nickte. „Lass uns gehen“, murmelte sie. Sie konnten es nicht länger verschieben.
Er musterte sie besorgt, nickte selbst und aktivierte den Zauber. Er verschwand.
Auch sie berührte den Armreif, wurde unsichtbar.
Für einen Moment stand sie so dort, dann bemerkte sie Heidensteins Hand, die nach der ihren tastete.
Instinktiv wollte sie die Hand wegziehen, beherrschte sich aber. Sie wusste, dass es klug war, um sich unsichtbar nicht zu verlieren. Da die Artefakte den Zauber hielten, würde es nicht leicht sein, den anderen wiederzufinden, selbst wenn er ausgeknockt wurde. Also erlaubte sie es ihm, nach dem Gelenk ihrer Prothese zu greifen.
Sie atmete durch, roch den Sand und Staub der Straße. Dann machte sie die ersten Schritte, spürte, wie Heidenstein ihr folgte. Sie waren knapp vierhundert Meter von dem Gebäude entfernt, das laut GoogleMaps ein etwas älterer, langgezogener Bau war. Sie vermutete nach den Satellitenbildern, dass es ebenfalls eins jener Reihenhäuser war, die man überall in den Flats gebaut hatte. Eventuell ein altes Obdachlosenheim. Straßenaufnahmen von vor dem Gebäude hatte sie nicht gefunden.
Während sie unsichtbar die Straße entlangschlichen, sahen sie kaum jemanden. Ein einzelner Straßenjunge – dreizehn oder vierzehn Jahre alt – stahl sich über die Straße, darauf bedacht im Schatten der Gebäude zu bleiben. Sonst war da niemand. Keine Wagen. Nichts. Es war, als wäre dieser Teil des Ghettos komplett verlassen.
Sie gingen weiter, bogen rechts ab.
Das Gebäude – es musste das Gebäude sein – kam in einiger Entfernung in ihr Blickfeld.
Sie hatte sich geirrt. Das Gebäude war keine der Standartunterbringungen, sondern wirkte viel eher, wie eine längliche Lagerhalle mit weißmetallenen Flachdach. Die Wände waren geweißt, doch die Farbe blätterte ab. Es hätte genau so gut verlassen sein können, wären da nicht die vier Wagen gestanden, die auf der freien, steinigen Fläche vor dem Eingang standen.
Das Haus stand etwas Abseits von den anderen Häusern – nicht das es ungewöhnlich war. Die Häuser hier waren mal in unregelmäßigen Abständen errichtet. Ungewöhnlich war jedoch, dass in knapp fünf Metern Entfernung zum Gebäude ein zweieinhalb Meter hoher Maschendrahzaun in die Höhe wuchs.
„Da ist jemand paranoid“, flüsterte sie.
Heidenstein murmelte eine Zustimmung. Seine Stimme klang belegt. Seine Hand griff die ihr Handgelenk fester.
Wie kamen sie rein?
Sie hatte keinen Zweifel daran, dass ihre Sprungkraft sie über den Zaun bringen würde. Allerdings saß da ein vielleicht dreißigjähriger Schwarzer vor dem Haus, rauchte. Wenn sie nicht irrte, war der längliche Gegenstand neben ihm ein Gewehr.
„Lass uns ums Haus herum laufen“, flüsterte sie.
Das Gebäude hatte einmal Fenster gehabt. Mittlerweile waren diese mit Brettern vernagelt. Das ganze wirkte von außen bereits zwielichtig.
„Wie kommen wir rein?“, hauchte Heidenstein.
„Eher: Wie kommst du rein“, murmelte sie. „Ich kann über den Zaun springen.“
Er schwieg. Dann: „Es muss ein Tor geben.“
Natürlich hatte er damit recht. Wie kamen sie sonst selbst rein, mit ihren Wagen?
„Also weiter.“ Sie schlich den Zaun entlang und stellte schnell fest, dass Heidenstein Recht hatte: Es gab ein Tor auf der Rückseite, von wo eine Schotterstraße zur M9 führte.
So sicher die Anlage mit dem Zaun auch wirkte, so lächerlich war das Tor: Es war ein einfaches, leicht angerostetes Tor aus weiß bemaltem Stahlrohr, wie es oft auf Schafsweiden verwendet wurde.
„Kommst du da rüber?“, fragte sie.
„Ja“, erwiderte er. Beinahe war eine Spur Beleidigung aus seiner Stimme zu hören.
Sie sagte nichts, sondern zog, damit er die Prothese losließ. Dann nahm sie Anlauf, sprang, setzte einfach über das Tor hinweg und wartete.
Sie hörte nichts und das verunsicherte sie. Wenn sie hier Leute gefangen hielten, sollte man nicht etwas hören?
Das Klappern des Tores ließ sie zusammenzucken. Einen Moment später hörte sie ein Flüstern in ihrer Nähe. „Pakhet?“
Still ging sie in die Richtung, tastete, bekam Heidensteins Hand zu fassen und zog ihn in den Schatten des Gebäudes. Sie wusste zu gut, dass man den Zauber im hellen Licht leichter durchschauen konnte.
Schritte.
Jemand kam um das Gebäude herum. Der Typ, der vorne gesessen war. Er ließ seinen Blick den Zaun entlang schweifen. Wahrscheinlich hatte er das Klappern gehört. Dank des Zaubers entdeckte er sie nicht, schüttelte schließlich den Kopf und setzte seinen Weg um das Gebäude herum fort.
Pakhet zog Heidenstein in die andere Richtung um das Gebäude herum. Sie wollte zur Vordertür, die sie zuvor gesehen hatte.
Was auch immer das Gebäude einmal gewesen war, sie war sich recht sicher, dass sich diese Typen erst später hier einquartiert hatten. Deswegen war auch das Tor nicht in Richtung der Fronttür des Gebäudes.
Sie kamen kurz vor dem Typen – war er eine Wache? – an der Vorderseite an, wo er sich wieder hinhockte.
Er beachtete sie nicht und die Tür war halb offen. Sie müssten vorsichtig sein, doch sie sollte weit genug offen sein, als dass sie sich durchquetschen konnten, ohne die Tür zu bewegen.
Vorsichtig schlich sie nach vorne, zog Heidenstein mit sich.
Seine Anspannung war deutlich zu spüren.
Sie hatten die Tür kaum erreicht, als zwei Leute rauskamen. Ein Mann und eine Frau. Er offenbar indischer Abstammung, sie mit schwarzer Haut und muskulös gebaut.
Sie redeten in einer Sprache, die Pakhet nicht verstand, schienen alles in allem in gelassener Stimmung zu sein. Sie hatte eine Flasche Alkohol in der Hand – billiger Rum. Es hatte keinen Sinn, sie zu belauschen – aber sie ließen die Tür weiter offen und verwickelten den Mann vorne ebenfalls in ein Gespräch. Sie verfielen in Afrikaans.
Kurz zögerte Pakhet, dann aber ging sie zur Tür und schlich hindurch.
Der Flur dahinter war mit Fliesen belegt. Diese waren einmal weiß gewesen, wirkten nun aber braun und versifft, viele von ihnen zeigten deutliche Risse. Der Flur bog nach zwei Metern um eine Ecke nach rechts. Auf der linken Seite war eine Tür.
Pakhet folgte dem Flur. Hier waren diverse Türen. Was auch immer das Gebäude einmal gewesen war.
Eine Tür führte dem Geruch nach fraglos zu einer lang nicht geputzte Toilette. Sie hielt den Atem an, ging weiter, spähte durch eine Angelehnte Tür aus altem, gammeligen Holz.
Dahinter lag ein zierdeloser Raum. Kein Bodenbelag, keine gestrichenen oder tapezierten Wände. Nur brauner Beton. Hier lagen einige Matratzen, die offenbar als notdürftige Nachtlager dienten.
Hinter einer geschlossenen Tür hörten sie Stimmen. Ein Gespräch in Afrikaans. „Nach Durban“, schnappte Pakhet auf.
„Ich sag den Ninern Bescheid.“
„Das Arsch verbraucht sie auch.“ Ein verächtlicher Laut. Eine der beiden Stimmen war eine tiefe Frauenstimme.
Gerne hätte Pakhet einen Blick mit Heidenstein getauscht, doch sie konnte ihn nicht sehen. Also blieb ihr nichts, als selbst eine Entscheidung zu treffen. Sie konnte aus keinem der Zimmer Laute hören, die auf Gefangene hindeuteten. Sie war sich dennoch sicher, dass das Gebäude etwas damit zu tun hatte. Oder war es einfach nur eine Drogenküche?
Ein Gespräch von draußen. Schritte.
Pakhet packte Heidenstein, drückte ihn mit sich selbst an die Wand des Flurs. Doch umsonst: Die beiden, die sie vorher hatten rausgehen sehen, kamen rein. Der Mann ging zur Tür, die Pakhet dem Geruch nach, als Toilette identifiziert hatte, die Frau zur ersten Tür, rechts vom Eingang.
„Gib Mongo 'nen Tritt“, scherzte der Mann, halb in der Toilettentür stehend.
„Mach ich“, erwiderte die Frau. „Wetten, dass er schon wieder eine fickt.“
„Irgendwann bringt Jaco ihn um.“ Der Mann lachte, verzog sich dann in die Toilette, schloss die Tür.
Pakhet drückte Heidensteins Schulter und er griff nach ihrer Hand, machte einen leisen Laut, um zu zeigen, dass er verstand.
So schnell und leise wie möglich gingen sie zur Tür, durch die die Frau verschwunden war. Sie hatte sie wieder geschlossen, doch sie hatten keine Wahl.
Kurz drückte Pakhet ihr Ohr an die Tür, lauschte. Als sie keine Schritt hörte, öffnete sie die Tür weit genug, um hindurchschauen zu können. Dahinter lag ein leerer Raum, jedenfalls war nicht mehr durch den Spalt zu sehen.
Es schien ein Lagerraum zu sein. Noch immer lagen da Säcke. Säcke mit was? Es war auch egal.
Sie öffnete die Tür etwas weiter, schlich hindurch und fand den Raum verlassen vor. Was ging hier vor?
Doch als ihr Blick durch den Raum glitt, verstand sie. Die paar Säcke, die noch hier lagen, waren nur Teil von anderen Baumaterialien. Wahrscheinlich nicht, was ursprünglich in dem gute fünf mal fünf Meter großen Raum gelagert worden war. Doch im Betonboden, der erneut unversiegelt war, lag die Antwort auf die Fragen, die durch ihren Kopf kreisten:
Eine metallene Falttür.
Natürlich. Sie hatten ihre Opfer unter dem Haus versteckt. So verhinderten sie auch, dass man Schreie zu weit hörte. Es machte absolut Sinn. Und auf dem Video, das Michael ihr geschickt hatte, hatte es keine Fenster gegeben.
„Fuck“, flüsterte sie, als sie zur Tür hinüberschlich.
Metall, bereits etwas älter. Es würde sie nicht wundern, wenn die Tür quietschte. Sie blickte sich um.
„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte Heidenstein.
„Gute Frage“, erwiderte sie leise. Sollten sie es riskieren? Hatten sie überhaupt eine Wahl?
Sie holte tief Luft. „Wir gehen jetzt. Bevor der andere Idiot zurückkommt. So glauben sie vielleicht es ist er. Du gehst zuerst. Ich halte die Tür.“ Sie würden da unten gefangen sein, wenn sie nicht aufpassten.
„Okay.“ Er klang unsicher, diskutierte aber nicht.
Das mochte sie an Heidenstein. Er wusste, wann die Zeit war, über Dinge zu sprechen, und wann man schnell handeln musste.
Pakhet lauschte. Soweit hörte sie keine weiteren Schritte. Wenn jemand unter der Falttür stand, hatten sie ein Problem. Doch sie mussten einfach hoffen.
Also hob sie die Falttür an. Weit genug, als das Heidenstein hindurchpassen sollte. Sie war vorsichtig, hatte Glück. Es erklang ein Quietschen, aber es war nur leise.
Sie versuchte es positiv zu sehen. Wenn sie richtig lag, waren nicht mehr als sechs Wachen hier: Der eine Typ draußen, die beiden in der Küche, die beiden, die sie gesehen hatten und dieser Mongo.
„Okay“, hauchte Heidenstein.
Pakhet glitt durch die Tür, ließ sie hinter sich zufallen.