Als ich das erste Mal diese Stufen hinaufgestiegen bin, sind mir die Blumen nicht aufgefallen.
Mit Umzugskartons in den Armen und einem Rucksack voller Erwartungen habe ich den Weg durch ein graues, stickiges Treppenhaus gesucht, bis ganz nach oben, in eine kleine Dachwohnung, die hinter beschlagenen Fensterscheiben einen windigen Oktoberabend verbarg und so viele Türen hatte, das man keine öffnen konnte, ohne eine andere damit zu verschließen.
Ich mochte das.
Ich mochte die Kratzer in den Küchenfliesen, die immer ein wenig aussahen wie Dreck, mochte das winzige Bad, in dem es vom Spülkasten tropfte, wenn zu viele Menschen in der Wohnung waren, mochte die Dachfenster, unter denen ich jeden Abend einschlief und die morgens das erste Licht auf mein Gesicht sandten.
Am nächsten Tag war ich das erste Mal in der Uni und ich war aufgeregt. Saß früh schon in der Küche, auf dem Boden, weil ich noch keine Stühle hatte, mit einer dampfenden Tasse Tee in der Hand und habe Radio gehört.
Ich kannte noch niemanden, nicht einmal die Stadt, in der ich die nächsten Jahre leben würde, aber ich traf viele wunderbare Leute an diesem ersten Tag und als ich tief in der Nacht, oder besser in den frühen Morgenstunden, wenn man schon helle Streifen am Himmel erkennen kann, aber noch glaubt, die müden Augen würden einem einen Streich spielen, die grauen Stufen nach oben gegangen bin, da hab ich die Orchideen gesehen.
Ein großer Kübel mit sieben weißen Orchideenblüten stand neben der Türmatte der Wohnung, die direkt unter meiner lag.
Es waren Kunstblumen, doch ich habe sie trotzdem gezählt, weil ich mir nicht sicher war. Ich wollte es merken, wenn eine verschwinden würde weil sie eingegangen ist.
Ich wusste nicht, wer hinter dieser Tür und dem gestreiften Vorhang wohnte, der verhinderte, dass man durch das Fenster einen Blick in die Wohnung erhaschen konnte, doch mein Vermieter erzählte mir von einer älteren Dame.
Frau Fleury. Sehr schnell reizbar sagte er, ich solle Acht geben, nicht zu viel Lärm zu machen.
Ich habe sie nie gesehen, nur ihren Rollator, den sie im Erdgeschoss an das Geländer schloss, doch jedes Mal, wenn ich die Treppen hinauf zu meiner Wohnung ging, zählte ich die Orchideen nach und hatte das Gefühl, die Welt könne nicht so durcheinander sein, wenn noch alle Blumen in dem Kübel standen.
Ich lebte über ein Jahr so, Frau Fleury hat sich niemals beschwert. Überhaupt habe ich nie etwas von ihr gehört, nur manchmal wenn ich in meinem Bett lag, in einen sternenlosen Himmel sah und die Nachtluft durch das gekippte Fenster hereindrang, um die Schwere aus meinem Zimmer zu vertreiben, dann konnte ich auch ein wenig Rauch riechen.
Ich stellte mir vor, wie sie auf ihrem Balkon sitzen musste, eine Decke um die Schultern liegen und vielleicht ein Glas Rotwein in der Hand. Die Kippenstummel sammelte sie in einem alten Blumentopf oder sogar in einem Aschenbecher, den sie vor Jahren in einer kleinen Bar am Mittelmeer eingesteckt hatte, zusammen mit einem jungen Mann, dem Locken in die Stirn fielen, der ihr gesagt hat, sie sei etwas ganz besonderes und von dem sie seitdem nie wieder etwas gehört hat. Wie war noch sein Name?, denkt sie und muss dann grinsen, während sie ihre Zigarette ausdrückt.
Ich habe manchmal überlegt bei ihr zu klingeln, auf den kleinen weißen Knopf zu drücken, der sich direkt über den Blumenköpfen befand, doch ich habe mich nie getraut.
Ich war am Meer mit ein paar Freunden, als mein Vermieter mich anrief um mir zu sagen, dass Frau Fleury vor einigen Tagen im Krankenhaus verstorben sei. Ihr Bruder wollte die Wohnung nicht durchsehen, deshalb würde sich der Staat darum kümmern und jemanden vorbeischicken um sie zu räumen.
Als ich zurück kam, war der Vorhang an ihrer Tür schon weg und auch die Orchideen. Es war wieder wie an meinen ersten Tagen hier, das Haus kam mir fremd vor und ich dachte viel an Frau Fleury. Meine Welt schien ein wenig aus ihrer Bahn geraten, allerdings fand sie sich schnell wieder.
Ich lernte, mich an anderen Dingen festzuhalten, doch noch immer halte ich gelegentlich nach einem weißen Kübel Ausschau, wenn ich mit einer Hand auf dem Geländer und schwerem Atem an der Tür vorbei laufe, als könnte sie einfach zurückkehren.