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Nach dem Prompt „Beo/Liebe-dein-Haustier-Tag“ der Gruppe „Crikey!“
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Wenn der Zirkus in die Stadt kam, war es jedes Mal ein besonderes Ereignis. Da spielte es keine Rolle, ob sie in einem verschlafenen Provinznest von Lirhajn waren, in einer der reichen, märchenhaften Hochburgen von Celyvar oder in einem trostlosen Fleckchen entlang der verregneten, kiveharischen Küste - überall zogen Kinder aufgeregt an den Ärmeln von Eltern oder Gouvernanten und deuteten auf die rumpelnden, bunt bemalten, wild zusammengewürfelten Karren.
Wenn der Zirkus kam, war es immer ein Fest. Vielleicht war das der Grund, warum Nathi dieses Leben so genoss. Er lebte ständig in dieser von einem besonderen Zauber erfüllten Atmosphäre aus Wundern und Freude. Auch wenn er hinter die Kulissen sah, konnte ihn die Show immer noch mitreißen. Es war perfekt.
Die Namen der einzelnen Orte konnte sich der Junge schon lange nicht mehr merken. Das tat nur der Ansager, und auch nur lange genug, um dem Publikum während der ersten Ansage honigsüße Komplimente zu säuseln. Dann lief die Show wie immer ab.
Der vinpallische Barserkr Hafgrim demonstrierte seine Stärke, indem er immer größere Steinbrocken stemmte. Die bunten, magischen Verzierungen in der Manege kaschierten dabei das Kribbeln des Zaubers, mit dem der Erdmagier Hafgrim nachhalf.
Die Schlangenfrau und der Clown und die Drillinge mit ihrer Trapeznummer führten ihre Tricks auf, der 'Bärtige Elf' und der 'falsche Zentaur' mit Pferdekopf und Menschenkörper ließen sich bestaunen. Ein magisch vollkommen unbegabter Zwerg ging herum und zog den Zuschauern Münzen aus den Ohren. Die castianische Kriegerin mit ihren wilden Hyänen zeigte die dressierten Tiere vor. Ein Abend in der Manege war oft wie ein Fiebertraum aus Farben, Musik und dem Geruch der gebrannten Mandeln, die es zu kaufen gab.
"Ein Zirkus ist Realitätsflucht", sagte Malte, ihr Direktor, immer. Er war der einzige dieser Truppe aus Verlorenen und Weggelaufenen, der als normal durchgehen würde. Ein Mensch mit unauffälligem, dunkelbraunem Haar, normalen Proportionen und normaler Kleidung. Deshalb stach er aus ihrer Gruppe heraus wie ein Beo unter Papageien.
Er hatte keine Talente, außer, dass er verkaufen konnte. Den Zuschauern verkaufte er die Illusion einer besseren Welt und lockte ihnen damit die Münzen aus den Taschen. Seinen Leuten verkaufte er sie selbst. Er sah ihnen in die Augen und erzählte ihnen, was er sah. Er machte aus Schwächen eine Stärke, mit der sie jeden Abend für einige Minuten ganz alleine im Rampenlicht stehen konnten, und lockte ihnen damit das Selbstbewusstsein aus der Seele, es zu versuchen.
Malte war ihr Vater, der für jeden Streuner, der an seine Zeltplane klopfte, ein offenes Ohr und einen Platz fand. Nicht zuletzt seinetwegen war ihr bunter Haufen zum erfolgreichsten Zirkus von Korr'dai geworden.
Nicht alle kamen in die Manege. Zum Zirkus gehörten auch viele, die im Schatten blieben und das Licht ausrichteten. Oder die Musik spielten. Oder den Eintritt einsammelten.
Oder hinter einem Vorhang standen, um während Hafgrims Vorstellung die Steine magisch etwas mit anzuheben, damit der Zwerg nicht von der Last erdrückt wurde.
Malte nannte sie die Realitätsweber und betonte immer wieder, dass sie ebenso wichtig wie die Darsteller waren. "Ihr seid die Attraktion, ja. Aber damit die Kunststücke wirken, müssen wir erst die Bühne vorbereiten. Das Licht muss stimmen, die Musik, die Atmosphäre - einfach alles. Nur dann können wir unsere Zuschauer mitnehmen in diese Welt, die wir ihnen zeigen wollen. Einen Ort, an dem alles möglich ist, wo ihre alltäglichen Sorgen keine Rolle spielen."
Nathavat - Nathi - verstand nicht viel von diesen Dingen. Er konnte es aber fühlen, wenn er selbst in das strahlende Licht trat.
Malte ließ die Musik für seinen Auftritt dämpfen und machte das Licht ein wenig ... weicher. Es bekam eine grüne Färbung, die Nathi ungemein an seine Heimat im tropischen Wald erinnerte, auch wenn es dort niemals so grün gewesen war, nicht einmal zur Regenzeit. Die bemalte Plane mit Bäumen und Blumen darauf weckte in ihm ein diffuses Heimweh, obwohl sein Zuhause hier war, und der Dschungel von Dhubayaana niemals ganz so dicht und bunt wie auf den Bildern gewesen war.
Es lag etwas Exotisches in diesen Bildern, etwas Verträumtes, und das war es, was Malte wollte.
In grün gefärbtes Licht getaucht, vor dem schrillen Hintergrund, fiel Nathi in seiner schwarzen Kleidung und mit der dunklen Haut perfekt ins Auge, und ebenso seine 'Mitarbeiterin': Kiloa, ein bildhübscher Beo, den Nathi nach einem Sturm gefunden und aufgezogen hatte.
Kil hatte ihn nicht mehr verlassen wollen, als sie flügge geworden war. Stattdessen war sie mit ihm mitgerannt und hatte sich mit ihm auf diese wahnwitzige Reise quer durch den Kontinent und immer weiter begeben. Sie hatten sich während der dunklen Zeit seines Lebens gegenseitig Halt gegeben, und nun waren sie unzertrennlich. Kiloa war sein Grund, weiterzumachen. Lange war sie die Einzige gewesen, die sich nicht von ihm abwenden würde, aber mit ihrer Hilfe hatte er auch hierher gefunden. In ein neues Zuhause.
Es wurde jedes Mal still im Publikum, wenn sie auf die Bühne kamen. Die Musik wechselte von dem üblichen schnellen, fröhlichen Tempo zu einer klagenden Weise, und dann sang Nathi eines der sehnsuchtsvollen Lieder, die seine Mutter einmal gesungen hatte, wenn ihn ein Sturm erschreckt hatte, und Kiloa, die diese Lieder längst kannte und liebte, fiel mit ein.
Er war sich sicher, dass sie es ebenso genoss wie er. Auf eine Art und Weise lebte er in dieser Zauberwelt, die sie für die Zuschauer erschufen. Es war nicht alles so glänzend, wie es für ihre Augen schien - aber das, was real war, war wunderbar. Die Flügel seines Kostüms mochten ihn nicht tragen, aber in dieser neuen Familie fühlte er sich so frei, als könnte er fliegen. Er hatte endlich einen sicheren Ort gefunden, einen Schwarm, mit dem er kreisen konnte.
Wenn sein kurzer Moment im Rampenlicht um war, ging er nach hinten und reichte Kiloa ein paar Rosinen, die er jedes Mal kurz vor der Show einweichte. Eine Leckerei, auf die sie sich immer wieder freute. Dann saßen sie oft irgendwo vor allen Blicken verborgen, unter den hölzernen Sitzreihen oder im Gebälk des Zeltes, und sahen dem Feuerspucker zu und lauschten den von magischen Bildern begleiteten Geschichten des Illusionistens, und teilten sich die Rosinen einträchtig.
Das Zirkusvolk waren schräge Vögel, aber nirgendwo sonst hatte sich Nathi zugehöriger gefühlt.