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Nach dem Prompt „Ginkgo“ der Gruppe „Crikey!“
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"Gut", sagte der alte Lehrer. "Versuchen wir es mal damit."
Gebeugt, schlurfend, mit vorsichtigen Schritten, trat er vor den jungen Magier und reichte ihm ein großes, fächerartiges Blatt, das der Elf mit beiden Händen andächtig entgegen nahm. "Was ... ist das, Meister?"
Der alternde Elb schlurfte umständlich wieder hinter das Pult, das mit einigen Schutzzaubern versehen war. Währenddessen erklärte er: "Das Blatt eines Ginkgos. Eine einmalige Pflanze. Man bezeichnet sie auch als lebendes Fossil, da sie schon in der Urzeit wohl nahezu unverändert wuchsen."
"Unverändert?", fragte der junge Elf mit glänzenden Augen.
Der Elb lächelte. Er trug, statt der offiziellen Uniform, eine blaue Robe mit goldenen Stickereien und auf dem schütteren Haar einen spitz zulaufenden, grauen Hut, dessen Muster einem Urzeitwesen nachempfunden war, einem Ammoniten. Obwohl die Zeichen des Alters so deutlich zu sehen waren: Die gebeugte Haltung, die papierne Haut, das schlohweiße Haar; obwohl er so offensichtlich alt war, hatte sich der Lehrer ein jugendliches Lächeln bewahrt.
"Eines meiner liebsten Objekte, mein Junge. Wobei ich dich warnen muss: Pflanzen sind weniger leicht zu lesen als Gestein. Aber ich denke, du bist bereit für diese Herausforderung." Langsam ließ sich der Lehrer auf den Stuhl sinken.
Der Schüler leckte sich nervös über die Lippen. Er fühlte sich nicht bereit, doch das Vertrauen seines Mentors ermutigte ihn. Entschlossen hielt er das Blatt am ausgestreckten Arm vor sich und konzentrierte sich auf dieses. Sofort spürte er die Magie. Energie, die hinter seinen Augen drückte und sich wie zwei kleine Speere auf das Ziel zu richten schien, auf das Blatt. Ein strömendes Pulsieren in seinem Arm. Die freie Hand nahm er ein Stück zurück, sodass die Brust offener lag, und so konzentrierte sich der Schüler darauf, die Energie im Arm mit der in seinem Kopf zu verbinden. Es wurde immer einfacher, diese Lücke zu überwinden. Und dann, als der Kreis geschlossen war, verengte er die Augen und versuchte, in das Blatt hinein zu starren.
Während er bei Steinen oft fühlte, wie sein magischer Blick sofort hineindrang, traf er diesmal auf weichen, ledrigen Widerstand, kühl und lebendig. Ein Blatt war so anders als ein Stein! Sein Lehrer hatte recht gehabt. Doch der Schüler konzentrierte sich weiter, auch als der Druck um seine Stirn unangenehm wurde, während sein Mentor schweigend zusah.
Dann spürte der Junge eine Art Kippen, als würde er in das Blatt stürzen. Gleich darauf entfalteten sich Farben rings um ihn und das Klassenzimmer verschwand hinter dichtem Nebel, der sofort Formen bildete.
Der Junge stand auf weichem, dunklem Erdboden. Um ihn her befanden sich die Stämme hoher, eher schmaler Bäume, deren Blätter er sofort erkannte.
Ginkgos! Er lachte überrascht auf und das Bild um ihn her flackerte. Er musste sich wieder an seine Konzentration klammern, auch wenn es ihm schwer fiel. Neugierig betrachtete er den Wald. Dichte Farne sammelten sich dort, wo die Baumkronen Licht hindurchließen. An den freien Stellen konnte er jedoch das Pult und seinen Lehrer erkennen, der ruhig dasaß, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Auch die Wände warne hier und da als transparente Fläche erkennbar. Der Junge spürte jedoch auch die feuchtwarme Schwüle der Luft, schmeckte einen klaren, schwefeligen Regen und hörte fremdartige Rufe. Nicht weit entfernt raschelten die Farne mit einem Mal und heraus kam ein schlankes, echsenartiges Wesen mit blauem Gefieder auf zwei Beinen, das dem Jungen kaum bis zum Knie reichte. Es legte den schlanken Kopf auf dem langen Hals schief, fast wie ein Vogel, stieß ein fragendes Gurren aus und blickte mit einem großen, gelben Auge genau dorthin, wo der Junge stand.
Nervös machte dieser einen Schritt zurück. Die Kreatur sollte ihn nicht sehen können. Und tatsächlich, der Blick der Echse strich über ihn. Das Tier witterte verwirrt. Dann hörte es ein Geräusch und huschte ins Gebüsch zurück.
Das Knacken wurde lauter. Nicht weit entfernt brach etwas Größeres durch das Unterholz, ein breites, niedriges Tier auf kurzen, dicken Beinen, mit einem Panzer und einem langen Schwanz, aber einem vergleichsweise kleinen Kopf. Wie ein Schatten war es vorbei, begleitet vom Bersten und Krachen der Äste.
Dichtauf folgte eine Art Sturmwind, der die Bäume bog. Flüchtig sah der Junge einen Schatten über die Baumkronen gleiten und hörte ein lautes, melodisches Brüllen ...
Er ächzte auf, als er spürte, wie seine Hände zitterten. Etwas in ihm rief ihn, diese Szene für immer festzuhalten. Die Energie pulsierte berauschend durch seine Adern, schien ihn emporzuheben ... Der Junge ließ das Blatt hastig los und unterbrach den Zauber, bevor der Sog ihn erfassen konnte.
"Großartig!", rief der Meister, als das Abbild der Vergangenheit verblasste. "Wunderbar! Das war einzigartig - nicht viele kommen so schnell mit Pflanzen zurecht."
"Danke", murmelte der Schüler mit einem scheuen Lächeln. Hastig beeilte er sich, das Blatt aufzuheben. Noch immer war Magie daran, die lockend an seiner Selbstbeherrschung zupfte. Er trat eilig vor das Pult, legte das Blatt darauf ab und trat zurück, die Hände ausgestreckt, als könnte das Blatt ihn eventuell noch anspringen.
"Sehr gut", wiederholte der Lehrer. "Deine Sogkontrolle wird auch immer besser. Ich denke, diese beeindruckende Vorführung sollte uns für heute genügen. Machen wir eine Pause!"
"Meister ...?"
"Ja, mein Junge?"
"Diese kleine Echse, sie ... sie schien mich gesehen zu haben."
"Das war ein Raptor." Grübelnd rieb sich der Lehrer das Kinn. "Ich müsste nachschlagen, was für einer. Es kommt vor, dass sie auf eine solche Demonstration reagieren. Sie scheinen die Magie zu spüren. Gerade, wenn man einen lebendigen Leiter nimmt, kein Gestein. Aber mach dir keine Sorge - es war nur ein Echo. Dieses Tier ist lange ausgestorben, es kann dich nicht wahrnehmen. Und auch andere Tiere jener Zeit können das nicht." Er sah den Jungen vielsagend an. "Ein Echomagier kann durch die Zeit reisen, jedoch nur als Beobachter. Nichts kann dich in der Vision verletzen, nichts außer dem Sog. Das darfst du nie vergessen."
"Ich werde es mir merken", sagte der junge Schüler demütig.
Der alternde Magier klopfte ihm auf die Schulter. "Du hast heute gute Arbeit gemacht. Genieße den schönen Sommertag noch, mein Junge. Für die Vergangenheit hast du noch genug Zeit, also nutze das Jetzt."
Nickend eilte der Schüler auf den Gang, in die wohlverdiente Pause.