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Nach dem Prompt „Blauschnegel [Tierische Berggeschichten mit der Farbe Blau]“ der Gruppe „Crikey!“
Land: Euwren
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Das Wort 'trostlos' schien eigens für diesen Landstrich erfunden worden zu sein, und wurde ihm doch nicht gerecht.
Ika betrachtete Flecken aus gelblichem, kurzem, kargem Gras und nacktem Geröll, die die Hänge bedeckten. Die Bergspitzen waren grau, gedrungen und bucklig. Das Tal ein Flickwerk aus verhungertem Gras und spröder Erde, zwar eintönig flach, aber gleichzeitig so gewellt, dass kaum an einer Stelle eine Hütte genug ebenen Boden für ihre Existenz fand. Das Schattenspiel der Wolken, die vor der Sonne dahinglitten, ließ das Land noch zerrissener, noch weniger einladend erscheinen.
Alles in Ika schreckte vor diesem Ausblick zurück. Dabei sollten Berge und Hänge im Sonnenschein doch ein Gefühl von Ehrfurcht erwecken! Sie fand nichts dergleichen im leeren Tal oder in den windzerfressenen Tannen weiter oben.
Sogar die Burg wirkte trostlos. Das Gestein war bräunlich, gezeichnet vom Alter. Die Fenster waren zu schmal und zu hoch, mehr Schießscharten als Einlässe für das Licht, selbst im Wohnbereich, dem sie heute für einige Stunden entflohen war. Ika hatte gehofft, hier draußen jene Freiheit zu finden, die sie seit Längerem vermisste.
Der Wind war träge, der Himmel leer wie eine Leinwand, die zu bemalen sich noch kein Künstler aufgerafft hatte. Sogar die Sonne war blass.
Sie drehte den Kopf, als Schritte im Gras flüsterten. Serafim hatte sein Pferd weiter oben grasen gelassen und lächelte, ehe er anhielt.
"Darf ich mich zu dir gesellen?"
Ika zuckte mit den Schultern. Dann besann sie sich, dass Serafim der Sohn ihres Retters war. Mit schiefgelegtem Kopf nickte sie. "Gerne. Wenn Ihr wollt."
"Wir sind doch beim Du." Serafim bewegte die weißen Schwingen unruhig. "Du bist ein Teil der Familie."
Ika hätte beinahe geschnaubt. Sie, ein Teil der Adeligen, die über diesen zugegebenermaßen großen Landstrich herrschten? Ein Mädchen aus Casta?
Serafim schien ihre Zweifel zu spüren. "Unsere Eltern sind in einer Blutschuld verbunden. Das ist ... wie ein Blutschwur der Indianer von Wajbaqwinat. Es macht dich zu Familie."
Ika seufzte. Sie hatte keinen dieser Leute vor zwei Wochen gekannt. Nicht, bevor ihr Vater sie fortgeschickt hatte, da er um ihr Leben fürchtete. Jener Vater, der einst Serafims Vater vor dem Tod gerettet hatte.
Wann sie heimkehren durfte, ob, das stand in den Sternen. Sterne, die in diesem fremden Land sogar blasser wirkten. In Casta waren sie nachts strahlend hell und nah gewesen.
Ika vermisste ihre Heimat. Die Hitze der Tage. Die Wüstenstriche, die Dschungel, die endlose Abwechslung. Hinter jedem Hügel lag etwas Neues, Aufregendes. Jeder Tag war anders, aber gleichzeitig erfüllt vom Odem der Vergangenheit, weil in Casta gleichzeitig die Zeit stillstand. Sitten und Gebräuche überdauerten in ihren Dörfern für Jahrtausende.
"Hey. Kann ich dir was zeigen?", fragte Serafim.
Ika, aus ihren Gedanken geschreckt, sah auf die Hand, die der Junge ihr hinhielt. Sie ergriff sie, denn abzulehnen wagte sie nicht. Auch dann nicht, als Serafim sie die Berghänge hinaufführte, in den dunklen Tannenwald.
Als reisende Nomadin kannte sie viele Gefahren. Serafim erschien ihr zwar nicht wie jemand, der ihr etwas antun würde - aber nervös war sie trotzdem, als ihr bewusst wurde, dass nicht einmal die beiden Pferde sie hier schreien hören würden.
Serafim lief hin und her, spähte unter Blätter, strich Rindenstücke auf der Erde beiseite. Ika folgte seinem wirren Lauf langsamer, verwirrt.
Dann lachte Serafim auf. "Ika! Hier!"
Sie eilte zu ihm. Der junge Adelige winkte sie zu der Stelle, wo er auf der Erde hocke, aufgeregt wie ein kleines Kind. Grinsend zeigte er auf etwas auf der Erde.
Ika riss die Augen auf, als sie etwas intensiv Blaues sah. Ein fingerlanger Flatschen - eine Schnecke! Überrascht kniete sie sich neben Serafim. "Die ... sind nicht giftig, oder?"
"Nein, nein, auch wenn sie so aussehen." Serafim grinste stolz. Es war das erste Mal, dass er nicht so steif wirkte, wie er im Schloss immer auftrat. "Die gibt es nur hier, wusstest du das? Sie können so blau sein, aber auch lila oder violett. Wenn man genau hinsieht, haben sie individuelle Muster, an denen man ein Tier immer wiedererkennt. Dieses hier ist zwei Jahre alt."
"Unglaublich!", flüsterte sie. Unter ihren Blicken kroch die blaue Schnecke weiter, überraschend schnell. Ihre Fühler tasteten über die Erde. Serafim brach ein Stück aus einem nahen Pilz und legte es knapp eine Handlänge neben die Schnecke - die sich sofort in die Richtung drehte und sich nur etwas später über den Pilz hermachte.
Andächtig beobachteten die Schicksals-Geschwister, wie die Schnecke den Pilz mit ihren Zähnen zerraspelte. Ika und Serafim sprachen kein Wort. Doch an diesem Tag begann es.
Ika lernte, dieses fremdartige Land zu lieben. Nach und nach offenbarte Serafim ihr ein anderes kleines Wunder. Sie unternahmen immer längere Streifzüge durch das Tal, in die Berge und Wälder von Euwren.
Ein Land gesprenkelt mit gelbem, kurzem Sommergras und rauem, braunem Geröll, welche die Hänge bedeckten wie das Fell eines Hirsches. Bergmassen, mächtige Beschützer vor der Weite des Himmels. Ein Land, gewellt wie die Falten eines Kleides, besetzt mit vereinzelten Hütten wie ausgewählte Edelsteine. Ständig huschten die Wolkenschatten hinüber, ein Wellengang aus Licht, als wäre das ganze Land in Bewegung.
Und Ika merkte, dass ihr die Zeit an diesem Ort gar nicht mehr lang werden konnte.