Kapitel 22
Die letzten Stunden
Nach einer erstaunlich erholsamen Nacht im Krankenhaus werde ich durch eine Schwester geweckt. Die Schlaftablette von gestern Abend hat mir überraschend gut dabei geholfen, durchzuschlafen. Anstatt wie sooft wach zu liegen und mich immer wieder mit denselben rasenden Gedanken zu quälen, habe ich schnell meinen Frieden gefunden. Ich habe gar nichts mehr mitbekommen, sondern bin ungewohnt schnell in den Schlaf gedriftet. Schade, dass es nicht immer so sein kann. In manchen Nächten wäre es nicht schlecht, darauf zurückgreifen zu können.
„Guten Morgen, Sebastian“, werde ich freundlich begrüßt. Es dauert zwar einige Sekunden, doch dann erinnere ich mich an die Schwester. Sie war auch anwesend, als ich mit Max und Dad ein Vorgespräch mit Dr. Martinez geführt habe.
„Morgen…“ Müde strecke ich meine Glieder. Als ich meine Augen erneut öffne sehe ich die hübsche, junge Frau an. „Bekomme ich noch einen Kaffee oder ist das schon verboten?“
„Heute ist er leider schon verboten, tut mir leid“, antwortet sie mir.
„Ach, verdammt…“
„Das Frühstück fällt auch aus. Wie gestern besprochen, kein Essen, kein Trinken, kein Rauchen“, erinnert sie mich.
„Wird kein Problem sein, auch wenn mir mein Morgenkaffee jetzt schon fehlt.“ Ich seufze. „Oh Mann, ich bin so nervös.“
„Das kann ich mir gut vorstellen“, meint sie mit einem Lächeln. „Aber mach dir keine Sorgen, du bist in den besten Händen. Dr. Martinez ist der beste auf dem Gebiet.“
„Das müssen Sie doch sagen“, meine ich schmunzelnd.
„Nein, ich meine es so“, bestärkt sie ihre Aussage grinsend. „Entspann dich. Du kannst noch eine Dusche nehmen. Dein OP-Hemd liegt schon im Badezimmer. In ein paar Stunden geht es los.“
„Danke.“ Ich setze mich auf und ziehe die Beine an meinen Oberkörper. Die Aufregung kocht schneller wieder auf, als ich dachte. Die Schwester sieht mich etwas mitleidig an. Ich muss meine Angst mehr als deutlich ausstrahlen, wenn ich dafür diesen Blick bekomme.
Sie tritt an mein Bett heran und lächelt, bevor sie wieder spricht: „Das wird schon, hab keine Angst, Sebastian.“
„Schade, dass ich nicht für jede Aufmunterung ein Geldstück bekomme. Ich könnte mir fast schon eine Kuh davon kaufen“, scherze ich, um mich selbst von meiner Nervosität abzulenken.
Die Schwester lacht über meinen dummen Spruch. „Eine Kuh also. Interessante Wahl.“
„Liegt wohl daran, dass ich ein kleines Landei bin. Ich lebe mit meinem Verlobten auf einer Farm. Max wünscht sich Kühe… wird aber wohl noch dauern, bis wir uns welche zulegen. Vor allem jetzt in der bevorstehenden Heilungsphase ist es besser, weniger Arbeit zu haben“, erzähle ich.
Die Schwester setzt sich zu mir, sie sieht mich interessiert an, ehe sie fragt: „Habt ihr denn viele Tiere?“
„Bis jetzt noch nicht“, antworte ich. „Wir haben ein paar Hühner und auch eine Katze. Max hat aber schon überlegt, ob wir uns nicht ein paar Laufenten besorgen sollten. Im letzten Jahr hatte er einige Probleme mit Schnecken, die haben ziemlich viel Salat gefressen und einen großen Teil seiner ersten Ernte vernichtet.“ Die Schwester nickt. Sie sieht mich interessiert an, dabei schlägt sie eines ihrer Beine über das andere. „Laufenten fressen Schnecken, das wäre eine perfekte Lösung für das Ungezieferproblem. Max hält nichts von chemischer Schädlingsbekämpfung.“
„Meine Schwester hatte auch ein Schneckenproblem“, erzählt sie. „Mein Neffe spielt gerne mit den Dingern, also ist es jetzt seine Aufgabe die Pflanzen von den Viechern zu befreien.“ Sie verzieht etwas das Gesicht. „Er fasst sie mit bloßen Händen an, aber das wäre nichts für mich. Ganz und gar nicht.“
„Für mich auch nicht“, stimme ich ihr ohne groß zu überlegen zu. „Die Schnecken mit dem Haus sind noch okay, die kann man hochheben und wegtragen, aber die Nacktschnecken...“ Nun verziehe auch ich angeekelt das Gesicht. „Wi-der-lich.“
„Ich weiß ganz genau, was du meinst“, stimmt sie mir lachend zu.
Die Schwester steht auf. „Ich muss leider weiter, aber wir sehen uns heute bestimmt noch einmal. Nimm dir ruhig Zeit beim Duschen. Es ist das letzte Mal für eine ganze Weile.“
Ich nicke. „Ja, darauf freue ich mich so gar nicht…“
„Ich bin sicher, dass dein Verlobter sich gut um dich kümmern wird. Er macht einen sehr netten Eindruck auf mich“, antwortet die Schwester lächelnd.
„Ja, er ist auch sehr nett. Er ist der beste, um genau zu sein. Ich hoffe, dass ich ihm nicht auf die Nerven falle, wenn ich hilflos bin.“
„So hilflos wirst du nicht sein, versprochen. Die Zeit vergeht schneller als du denkst und gegen die Schmerzen bekommst du Medikamente, damit du im Alltag gut zurechtkommst.“
„Ich kann es kaum erwarten, das alles hinter mir zu lassen“, meine ich aufgeregt.
Als die Schwester das Zimmer verlassen möchte, räuspere ich mich, ehe ich wieder spreche: „Eine Frage hab ich noch.“
Sie dreht sich zu mir. „Und die wäre?“
„Morgen darf ich aber wieder Kaffee trinken, oder?“
Sie nickt lächelnd. „Aber natürlich. Falls noch etwas sein sollte, betätige einfach den Knopf an deinem Bett.“ Sie deutet auf den Notrufknopf, der mir bereits gestern erklärt wurde. „Deine Familie wird bestimmt bald hier sein.“
„Danke.“
…
Die letzte Dusche ist etwas ganz besonderes für mich. Es ist nicht nur die letzte Möglichkeit, mich vor der Operation zu waschen, sondern auch das letzte Mal, dass ich meine Brüste zu Gesicht bekomme. Ich bin froh, dass ich sie endlich loswerde. Mein Leben wird so viel besser sein, sobald ich diese Operation hinter mich gebracht habe und dieses zusätzliche Gewicht im Operationssaal zurücklassen kann.
Das warme Wasser läuft meinen Körper entlang. Auf meinem blauen Schwamm verteile ich etwas Duschgel, gleichzeitig stelle ich das Wasser mit meinem Oberarm aus. Mit den letzten Wassertropfen aus dem Duschkopf lässt sich das Duschgel gut aufschäumen, ehe ich meinen Körper gründlich einseife. Ich beginne mit meinen Armen, meinen Schultern und mit meinem Nacken, ehe ich mich schon ein letztes Mal meinen Brüsten widme. Diesen Anblick nur noch ein einziges Mal ertragen zu müssen verschafft mir bereits jetzt einen großen Schub an Selbstbewusstsein. Wenn ich nach der Narkose aufwache, werden sie verschwunden sein.
Ich schäume meinen Bauch ein, ehe ich mich meinen Beinen, meinem Hintern und auch meinem Rücken widme. Die Füße sind wie immer zum Schluss dran.
Mit einer simplen Bewegung stelle ich das Wasser wieder an. Ich muss etwas nachregulieren, doch die Temperatur ist schnell wieder perfekt. Ich spüle den Schaum von meinem Körper. Bei dem Gedanken, dass ich meine Brüste tatsächlich das letzte Mal sehe, muss ich etwas grinsen. Das ist die aufregendste und spannendste Dusche, die ich jemals genommen habe!
Wie von der Schwester vorgeschlagen nehme ich mir viel Zeit, um mich zu waschen. Auch meine Haare bekommen eine gründliche Wäsche und ein wenig Pflege. In den nächsten Wochen werde ich darauf angewiesen sein, mir bei diesen einfachen Tätigkeiten helfen zu lassen. Mit Max an meiner Seite weiß ich, dass ich darauf vorbereitet bin.
Meine Gefühle zu benennen und einzuordnen ist im Moment unmöglich. Es sind so viele auf einmal. Hoffentlich ist dieses Chaos bald vorbei, ich will wieder klar denken können.
…
Als ich aus der Dusche komme, sind meine Eltern, Maru und auch Max schon wieder hier. Ich bin erleichtert, als ich meine Familie erblicke. Mein Outfit ist mir zwar ein wenig peinlich und unangenehm, aber niemand scheint sich daran zu stören, abgesehen von mir natürlich.
„Da ist ja mein wunderschöner zukünftiger Ehemann“, begrüßt Max mich aufgeregt. „Du hast mir so gefehlt.“ Er kommt gleich auf mich zu, schnappt mich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Max trägt mich durch das Zimmer, dabei strahlt er, als wäre es der glücklichste Tag seines Lebens. Als er mich auf dem Krankenbett absetzt, rutschen meine Hausschuhe von meinen Füßen und fallen zu Boden.
„Hi, Leute“, begrüße ich alle Anwesenden.
Das Wiedersehen mit meiner Familie entspannt mich etwas.
„Max und ich waren in dem kleinen Coffeeshop, der dir so gut gefällt. Ich hätte dir zu gerne einen Kuchen mitgebracht“, erzählt Dad.
Schmollend sehe ich ihn an. „Du reibst gerade Salz in eine tiefe, tiefe Wunde, Dad.“
„Gut, dass wir schon im Krankenhaus sind, was?“ Mein beleidigter Blick soll ihm deutlich machen, dass ich es nicht lustig finde. „Entschuldige, Sebby“, meint Dad halbherzig, sein Grinsen verrät, dass er es nicht so meint. Arsch. „Dafür bringe ich dir morgen zwei mit, versprochen.“ Doch kein Arsch.
„Ich verzeihe dir“, antworte ich besänftigt. „Aber nur, wenn es guter Kuchen ist.“
„Ich bemühe mich.“
„Wie geht’s dir? Wie hast du geschlafen?“, erkundigt Maru sich interessiert. „Du siehst ausgeruht aus.“
„Danke. Naja, nach der Tablette bin ich recht schnell eingeschlafen. Heute Morgen wurde ich geweckt und dann war ich auch schon duschen. Bis jetzt ist nicht viel passiert.“
„Aber es wird bald losgehen“, erzählt Mum lächelnd.
„Ja, dein Termin wurde vorverlegt“, unterbricht Dad sie schnell, worauf Mum ihn böse ansieht.
Überrascht sehe ich zwischen den beiden hin und her, ehe ich frage: „Wie? Mein Termin wurde vorverlegt?“
„Na vielen Dank, dass du mich aussprechen lässt, Dan.“
„Oh, entschuldige“, antwortet Dad sarkastisch. „Ich wusste nicht, dass du die guten Nachrichten für dich gepachtet hast.“ Er verschränkt seine Arme, als Mum ihre Augen verengt und ihm dadurch einen tödlichen Blick zuwirft.
Meine Halbschwester versucht den Streit schnell zu schlichten. „Mum? Dan? Vielleicht solltet ihr euch einen Kaffee holen“, schlägt sie entwaffnend vor. „Ich hätte ehrlich gesagt auch Lust auf einen Kakao.“
„Keine schlechte Idee.“ Dads Arme lockern sich. Mit seinem Arm zeigt er zu Tür. „Nach dir, du rothaarige Hexe.“
„Ich bin vielleicht die Hexe, aber du bist derjenige, der heute noch brennen wird“, entgegnet Mum ihm giftig. Meine Eltern begeben sich zu Tür, die Dad gleich für Mum aufhält. Anstatt sich zu bedanken, boxt sie ihm gegen den Oberarm.
„Au… Ich sag’s doch: Ein Glück, dass wir schon im Krankenhaus sind…“
„Sei nicht immer so ein Weichei.“
Maru schüttelt den Kopf. Sie sieht den Beiden nach, doch dann sieht sie mich an. „Ich sorge dafür, dass sie sich nicht die Köpfe einschlagen“, entschuldigt sie sich. Maru umarmt mich fest. „Du wirst sehen, die Modifikation ist schneller abgeschlossen, als du denkst. Die nächste Sebastian-Version wird die beste von allen sein.“
„Danke Maru“, antworte ich mit geschlossenen Augen, als ich meine Halbschwester fest drücke. Ich kann Sebastian2.0 schon vor mir sehen.
„Bis dann“, verabschiedet Maru sich, ehe sie den Raum verlässt.
Max setzt sich zu mir auf das Bett. Er greift nach meiner Hand.
„Dein… Hemd ist ziemlich süß.“
„Ach hör doch auf“, antworte ich lachend auf dieses Pseudo-Kompliment.
„Nein, ehrlich. Du siehst zum Anbeißen aus“, führt er sein Kompliment weiter aus.
„Du bist so ein Arsch. Du weißt ganz genau, dass ich sowas niemals freiwillig tragen würde“, erkläre ich gespielt beleidigt.
Mein Verlobter legt seinen Arm um mich, er küsst meine Schläfe. Nun greift seine andere Hand nach meiner Hand. „Du kannst glauben, was du willst. Ich für meinen Teil finde dich in deinem Krankenhaushemdchen sehr süß.“
„Danke.“
„Wie aufgeregt bist du schon?“, erkundigt er sich nun in fürsorglicherem Tonfall. Ich begreife schnell, dass das Kompliment dazu gedacht ist, dass ich lockerer werde.
„Es hält sich in Grenzen seit du da bist…“
„Ehrlich?“
„Mhm“, antworte ich knapp, ehe ich meine Antwort ausführe: „Vorhin war ich noch nervös, aber irgendwie stellt sich langsam ein ganz anderes Gefühl ein. Irgendwie… sowas wie Akzeptanz? Ich weiß nicht recht, wie ich es beschreiben soll. Auf jeden Fall bin ich froh, dass es so gut wie vorbei ist. Also eigentlich bin ich auch noch aufgeregt, aber es ist keine nervöse, ängstliche Aufregung, sondern fast schon so etwas wie Freude. Ich bin einfach froh, dass ich meine Brüste loswerde, von den nervigen Organen, die nur Platz verschwenden, ganz zu schweigen.“ Ich atme tief durch. „Nie wieder Bauchschmerzen, nie wieder Krämpfe und nie wieder unnötige Blutungen, die nur dazu da sind, mich daran zu erinnern, dass ich nicht schwanger bin. Scheiß Erfindung…“ Max hält sich ein Grinsen zurück. „Yoba sei Dank können die gleich alles auf einmal erledigen, dann muss ich nicht nochmal herkommen…“
„Naja…“
„Ich weiß“, antworte ich. „Aber bis dahin dauert es ja ohnehin noch… leider…“
„Es kommt noch einiges auf uns zu“, meint Max recht neutral. Er drückt meine Hand etwas fester. „Aber ein Schritt nach dem anderen. Jetzt ist das wichtigste, dass du dich entspannst und du die letzten Momente mit mir genießt.“
„Ja“, stimme ich ihm leise zu.
Bedürftig nach Max’ Nähe, kuschle ich mich an meinen Verlobten. Dass er heute bei mir sein kann bedeutet mir viel. Ich wüsste nicht, wie es mir gehen würde, wenn ich mich nicht auf seine Stärke und Bodenständigkeit verlassen könnte.
Wir überbrücken die Zeit mit ein wenig Smalltalk, einigen süßen Küssen, Liebesbekundungen und innigen Umarmungen. Auch der Rest meiner Familie findet sich wieder in meinem Zimmer ein. Mum und Dad scheinen sich wieder vertragen zu haben. Ich bin ziemlich sicher, dass Maru ihren Beitrag geleistet hat und dafür gesorgt hat, dass sie sich daran erinnern, dass es heute nicht um ihre gescheiterte Ehe geht. Es wird Zeit, dass dieses Gezanke endlich ein Ende findet, immerhin sind sie schon ewig geschieden…
Je näher ich meinem Operationstermin komme, desto aufgeregter werde ich. Die Ruhephase von vorhin ist beinahe wieder vollkommen vergessen. Ich bin fertig mit der Welt…
Ungefähr eine Stunde bevor es losgeht bekomme ich eine Beruhigungstablette, die ich meiner Meinung nach mittlerweile bitter notwendig habe, ich bin ein nervöses, aufgekratztes Wrack, das mit seinen Emotionen kaum umgehen kann. Ab jetzt heißt es im Bett bleiben und warten bis es losgeht.
Es dauert nicht lange, bis mir die Wirkstoffe in den Kopf steigen. Ich merke, dass meine Reaktion ein wenig nachlässt, mein Körper fühlt sich ziemlich schlaff an. Es ist schwer, den Gesprächen meiner Familie zu folgen oder mich gar daran zu beteiligen. Es ist beinahe unmöglich die Küsse von Max zu erwidern… Ich fühle mich kuschelig und flauschig. Dieses Zeug hätte ich in den letzten Wochen auch ziemlich oft gebrauchen können…
Die letzten aufmunternden Worte meiner Umgebung nehme ich kaum wahr, ich bin müde und versinke immer wieder in meinen immer wirrer werdenden Gedanken. Ich kann sie nicht mehr ordnen.
Ich bekomme noch wage mit, dass sich meine Familie von mir verabschiedet.
„Ich liebe dich“, verabschiede ich mich müde, als Max meine Hand loslässt.
„Ich liebe dich auch, Baby. Wir warten auf dich.“
Mein schlaffer Körper wird auf eine andere Liege verfrachtet. Ich bekomme eine Decke. An meinem linken Arm wird ein Zugang gelegt. Der Anästhesist plaudert noch ein wenig mit mir, alles, was ich jedoch verstehe ist, dass er mir eine gute Nacht wünscht.
Meine nächste Angst wird geweckt. Ich habe Panik, dass die Narkose nicht wirkt und dass ich jede Minute der Operation mitbekomme und die Schmerzen fühlen könnte. Ich schließe die Augen. Ich rechne damit, dass ich schnell das Bewusstsein verliere, doch es tut sich nichts. Die Zeit zieht sich beinahe unendlich in die Länge.
Verdammt, die Narkose setzt nicht ein.
Was stimmt nicht mit mir? Wieso funktioniert das ni-