KOHANA
Ambience-Musik: https://www.youtube.com/watch?v=J18x-qQBsKQ & https://www.youtube.com/watch?v=vz91QpgUjFc (von Felix)
Es war ein milder Abend in Uta. Der Winter, der große Teile Belletristicas mit eisiger, unberührt-weißer Hand im Griff hatte, war auch auf Kohana zu spüren. Eine dünne Schneesicht ruhte auf den Wegen und den Blättern der Bäume, dennoch war der Wind im Fell des Grauwolfs mild. Was womöglich auch daran lag, dass Marvins Luftschiff bis eben noch in der eisigen Umarmung der Wolken geschwebt hatte.
Nun war das Holzschiff neben dem Berg vor Anker gegangen. Knatternd schlugen die Segel, wie die Schwingen eines Vogelschwarms. Der Bellologe Felix begrüßte sie, als Marvin und der Flauschfuchs Sira-la von Bord stiegen.
"Wie gut, dass ihr kommen konntet. Hat die Reise gut geklappt?"
Marv nickte. "Wir sind nur einmal fast abgestürzt. Kommt noch jemand?"
"Bella will mitkommen und Doro kommt hoffentlich auch noch", antwortete Felix, während er den weißen Fuchs und den grauen Wolf durch die Gartenanlage führte, vorbei an stillen Teichen, in denen Fische stumm ihre Bahnen zogen, und an den Gebäuden mit ihren Pagodendächern.
Ihr Ziel war ein einzelnes Gebäude auf der Insel im großen See: Die Zeitkammer des Hauptsitzes.
Hier wartete Bella bereits.
"Schöner Hut!", grüßte Sira das Kreaich, das mit Säbel und Piratenuniform angetreten war.
Felix packte noch eine Rolle Duct Tape in seinen Reiserucksack, der für die Expedition bereitstand.
Marv spitzte die Ohren. "Vefe, warum flüstert dein Ruck... oh nein, du nimmst deine lebendigen Bücher mit, oder?"
"Nur die Systema, die Astronomia, die Historia", zählte Felix auf, "und den Artefakt-Almanach."
Marv schüttelte den Kopf. "Wir wagen eine möglicherweise tödliche Expedition - mit einer halben Bibliothek!"
"Ich muss meine Erkenntnisse doch aufschreiben!", verteidige sich Felix. "Was, wenn wir neue Tierarten entdecken?"
"Ich hab auch Notizblock und Stift dabei", warf Sira ein.
"Und ein Taschenmikroskop, Angel, Lupen brauche ich auch", murmelte Felix.
"Und Verpflegung und zwei Blotpunnys von Satan", führte Sira aus.
"Ich hab Enterhaken, ein paar Taler und natürlich meinen Hut", zählte Bella auf.
Jetzt sahen alle zu Marvin.
"Ich habe eine Packung Brotchips." Stolz zeigte der Wolf sein Gepäck vor. "Will jemand?"
"Oh ja!", meldete sich Sira begeistert und Marvin warf ihr einen zu.
Dann sah der Wolf in die Runde. "Damit sind wir bereit, richtig?"
"Wir können schon einmal alles vorbereiten, dann können wir aufbrechen, sobald Doro da ist", schlug Felix vor.
Marv nickte und holte den Glitchcube aus dem Brotchips-Paket. "Das hier ist der Belletristica-Glitchcube. Ich habe mir nämlich was für den Rückweg überlegt ... ähh, hat jemand einen Faden?"
"Hier, Sekunde ..." Felix musste nicht lange wühlen, um das Gewünschte zu finden.
Marvin suchte den Würfel nach Ergebnis 14 ab. ("... löst einen Mandela-Effekt aus. "Belletristico" wird fortan "Belletristica" heißen und unsere Erinnerungen werden so abgeändert, als wäre es schon immer "Belletristica" gewesen.") Als er es endlich gefunden hatte, stellte er den Würfel so auf, dass er fast auf der Seite mit dem Ergebnis zum Liegen kam. Fast.
Felix knüpfte den Faden daran, sodass ein kleiner Ruck ausreichen sollte, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten.
Dann zog Marvin einen zweiten Glitchcube hervor. Den, der eigentlich gar nicht existieren sollte. Er sah absolut unverdächtig aus, und doch zog er alle Blicke auf sich.
"Ich denke, der gehört dir", sagte der Wolf und reichte den Würfel an den Bellologen.
Felix umschloss den Belletristico-Glitchcube mit der Faust. Er atmete tief durch.
Was sie heute versuchen würden, grenzte an Wahnsinn. Noch allzu gut waren ihm die Bilder aus Belletristico präsent. Die zerstörte, trostlose Landschaft, verwüstet von einem mächtigen, gewaltigen Buggo. Doch er musste unbedingt herausfinden, was es mit dieser Parallelwelt auf sich hatte. Sorge und Vorfreude ließen ihn aufgeregt zappeln.
Bella ging es kein Stück anders. Der Grauwolf hatte vor Spannung begonnen, Brotchips zu knabbern (nachdem er Sira einen abgegeben hatte, war die Packung immerhin offen gewesen ...). Beruhigend flauschten Felix und Sira Marvin.
Heute würden sie als Pioniere in eine vollkommen unerforschte Welt vordringen ... Belletristico, die Trümmer einer früheren Version von Belletristica.
Die restliche Zeit vertrieb sich die Gruppe mit einer kleinen Zeitmanagement-Diskussion und Brotchipskunststückchen, die alle darin endeten, dass Marv einen Brotchips aß.
Schließlich, die Vorräte waren schon bedenklich geschrumpft, tauchte Doro auf. Die Seerose hatte noch einige wichtige Dinge zu erledigen gehabt und eilte gehetzt in das Zimmer in Kohana.
"Auch wenn ich keine Ahnung habe, worauf ich mich einlasse - ich lasse mich ein."
BELLETRISTICO
Nickend hob Felix den Glitchcube und warf ihn. Kohana verschwand fast sofort. Die fünf Pioniere fanden sich auf einer Bergkuppe wider. Wilde Blumen blühten auf einem leeren Plateau. Der Wind flüsterte melancholisch über ihnen. Ringsum gab es kein Anzeichen von Leben mehr, wenn man einmal von den drei tiefen Furchen im Berg absah, die an gewaltige Krallenspuren erinnerten.
Beim Anblick der Spuren verwurzelte sich Doro fest in der Bergkuppe und sah sich ängstlich um.
"Immerhin ... scheint die Sonne?", meinte Marv unsicher.
Sira schnaubte. "Schwacher Trost."
Nichts rührte sich. Zu den Seiten ging es beunruhigend tief hinab.
"Gibt es hier wilde Tiere?", fragte Doro besorgt.
Felix hob das Fernglas an, das um seinen Hals hing. "Hmm ... ich sehe da unten einen Sumpf, und ich glaube auch einige Spuren."
"Ein Sumpf klingt toll!", schwärmte Doro sofort. "So flach."
"Lasst uns dorthin!", schlug Felix vor.
"Jaaa! Sumpf!", krähte Bella. Marv nickte entschlossen.
"Sumpf klingt schmutzig ...", murmelte Sira, sprach sich aber nicht dagegen aus.
Doro dagegen schwieg. Sie bebte vor Höhenangst.
"Soll ich dich tragen?", bot die Flauschfüchsin mitleidig an.
"N-nein, geht schon. Nur bringt mich heil hier runter."
"Wenn das hier der gleiche Berg wie in Belletristica ist, müsste sich hier eigentlich irgendwo eine flache Stelle befinden", murmelte Felix und begab sich auf die Suche. Es dauerte nicht lange, und er hatte seine Begleiter zu einem Pfad geführt, der sie nach unten bringen könnte - wäre er nicht von einer Schlammlawine verschüttet worden.
"Auch das noch ...", murmelte Marv.
Felix besah sich das Malheur. "Wir könnten drüber klettern. Oder es wegräumen."
"Oder einen Schlitten basteln", schlug Doro vor.
Bella zog ihren Enterhaken hervor. "Ich hab noch den hier."
"Helfen uns Brotchips weiter?"
"Marv, hast du auch was anderes dabei?", fragte Doro.
"Nein, hat er nicht", sagte Felix.
Die Gruppe grübelte einige Zeit. Schließlich befestigten sie den Kletterhaken oben und nutzten ihn als Abstiegshilfe. Bella ging als Erste und erreichte den Boden unversehrt. Die Odyssee hatte sie auf genau solche Momente vorbereitet.
Sira, Felix, Doro und dann Marv folgten ihr ohne Probleme.
Auf ebenem Boden atmeten die Freunde erst einmal auf. Hoffentlich würde der Sumpf keine unangenehmen Überraschungen bereithalten ...
Vorbei an alten, knochigen Bäumen und Sumpfkraut führte Felix die Gruppe zu den Spuren, die er gesichtet hatte. Überall blubberte und quakte es, und seltsame Vogelstimmen erklangen. Sira wimmerte leise, als sich der Matsch in ihrem Fell festsetzte.
"Da sitzt eine Mücke auf meinem Blatt!", quiekte Doro plötzlich. "Aua! Seit wann stechen Mücken Blätter?!"
"Das könnte eine Pflanzmücke sein", murmelte Felix nachdenklich.
Doro flauschte sich an Sira, um etwas Matsch abzubekommen. Allerdings wollte der Schlamm nicht haften. "Blöder Lotuseffekt", murrte sie.
Nachdem sie über weichen, nachgiebigen Moosboden gewandert waren, erreichten sie die Spuren und beugten sich darüber.
"Hmm, vielleicht ein Sumpfhase ...", überlegte Felix.
Bella nickte. "Das könnte hinkommen, aber ein verdammt großer!"
"Ein bisschen sehr groß, oder?", gab Doro zu bedenken.
"Das riecht aber sehr schuppig", stellte Sira zweifelnd fest. "Die anderen Spuren sind von meinem Plotbunny." Sie fing das Tier schnell wieder ein und machte den Rucksack fest zu.
"Krokodil!", rief Marv alarmiert, als er die Spuren erkannte.
"Gut, dass ich Duct Tape dabei habe!", sagte Felix zuversichtlich. Genau wie Doro folgte sein Blick dem Verlauf der Spuren, jedoch mit viel mehr Optimismus und viel weniger Sorge.
Obwohl Dororose nicht begeistert war, nahmen sie die Verfolgung der Spuren auf. Marv sprang in eine Pfütze neben dem Weg. Während der Rest noch seinen Schlammspritzern auswich, folgte Bella ihm mit einem noch größeren Platscher ... nun, das war es wohl mit schneeweißen Fell, entschied Sira, und machte mit.
Jedenfalls, bis sie an den Rand eines größeren Tümpels kamen, wo die Spuren endeten. Totes Holz trieb im Wasser, die Ufer waren vor lauter Schilf kaum zu erblicken. Die Bäume zu allen Seiten beugten sich weit über die Wasserfläche, sodass der Tümpel fast in einer düsteren Höhle zu liegen schien.
"Krokodile haben doch Zähne ...", murmelte Doro beunruhigt.
Nur sehr langsam, das Fernglas vorm Auge, wagte Felix sich weiter vor.
"Da!", zischte Doro plötzlich. Sie deutete mit einem Blatt auf einen im Wasser treibenden Baumstamm. Nichts daran deutete darauf hin, dass es ein Tier war. Geborstene Äste ragten vom Stamm ab. Allerdings blinzelte etwas in der Rinde - der einzige Hinweis.
Mit trägen Bewegungen näherte sich der Baumstamm, als plötzlich ... der Glitchcube in Felix' Tasche zu summen begann und sich gleichzeitig ein schwarzer Teppich aus dem Boden erhob und drohend vor dem Krokodil aufbaute.
Es waren tausende kleiner Ameisen, die das Krokodil erst einmal vertrieben. "Arr! Zum Klabautermann mit dir, du toter Baumstamm!", piepste es vor den erstaunten Blicken der Belletristicans. So schnell, wie der Spuk gekommen war, wimmelte er auch schon ins Unterholz davon.
"Ich wollte das Krokodil doch noch flauschen!", wimmerte Felix.
Sira horchte auf. "Oh, ich will auch flauschen!"
Felix überlegte kurz und flauschte Sira.
Dennoch wollte er nicht so leicht aufgeben - nicht umsonst war er Bellologe. Und so begaben sie sich weiter auf die Suche. Wenig später entdeckten sie ein Krokodil im Unterholz, das sich offenbar sonnte. Begeistert - aber wenigstens trotzdem vorsichtig - führte Felix seine Freunde näher heran.
Das fast zwei Meter lange Reptil döste friedlich, sodass die Expedition einen guten Blick auf seine rindenartigen, mit Moos bewachsenen Schuppen werfen konnte.
"Das sieht schon cool aus", musste Doro anerkennen. "Und es ist wirklich gut getarnt."
"Richtig hübsch!", schwärmte Felix.
"Hoffentlich liegen hier nicht noch mehr, die wir nicht sehen." Sira schauderte.
Felix wagte sich noch einen Schritt vor. "Alle rezenten Krokodile sind Lauerjäger", erklärte er. Leise zog er das Duct Tape hervor. "Die werden uns nichts tun, sondern eher flüchten."
Doro war nicht überzeugt. "Die können doch echt schnell werden, oder?"
"So Kleine wie das Kerlchen da auf jeden Fall, je größer sie werden, desto langsamer werden sie auch." Der Bellologe war in seinem Element. Konzentriert überlegte er, wie das wilde Tier am leichtesten einzufangen wäre.
"Sei bloß vorsichtig", bat Marv.
Felix war sich zwar ziemlich sicher, dass das Krokodil bei einer Störung flüchten würde, doch war er sich sicher genug, um seine Gliedmaßen dafür zu gefährden? Oder sollten sie das Krokodil besser erst einmal mit einem Stock aufschrecken und herausfinden, ob es sich um eine aggressive Art handelte?
Er wagte es trotzdem mit einem beherzten Sprung, landete auf dem Rücken des Krokodils und sicherte dessen Schnauze eilig mit dem Duct Tape.
Erleichtert jubelte die Gruppe und atmete auf - sie hatten das Tier gesichert! Ohne Zeit zu verlieren untersuchte Felix das Krokodil und übertrug erste Notizen in die Systema.
Während Doro und Sira lieber etwas Abstand hielten, stupste Marv das Krokodil neugierig an.
Bella streichelte über dessen Rücken. "Schuppig nice."
Um es nicht unnötig zu stressen, setzte Felix das Krokodil direkt wieder frei. Sobald er es losließ, schlitterte das Tier zurück in den Tümpel und tauchte unter.
"Zuckersüß." Felix grinste.
"Hoffentlich gibt es hier nicht noch mehr gut getarnte Raubtiere", murmelte Marv.
Doro wedelte mit einem Blatt. "Also, diese Pflanzenmücken sind schon mal nicht gut getarnt!"
Sira witterte aufmerksam. Sie konnte keine Feinde in unmittelbarer Nähe ausmachen, aber dafür ein fernes Donnern ...
Bumm ... bumm ... bumm ...
Kam das Geräusch etwa näher?
"Das klingt groß." Sira spitzte beunruhigt die Ohren. Die Blätter in den Baumkronen raschelten.
Jetzt nahmen auch Doro, Marvin, Bella und Felix das Geräusch war. Dem Bellologen kam es unheimlich vertraut vor. Ein Schauer lief über seinen Rücken. "LAUFT."
Verwirrt folgten die Anderem dem Bellologen zurück zum Berg. Marv nahm Doro auf den Rücken; Sira folgte ihm, die Seerose fest im Blick.
"Was ist das?", rief Doro.
"Das Wesen, das für die Kratzspuren verantwortlich ist!", antwortete Felix.
"Du hast keine Angst vor Krokodilen und rennst jetzt vor dem weg?!"
"Können wir nicht dagegen kämpfen?", fragte Bella kampfhungrig.
"Nix da!", rief Felix.
Die Erde bebte unter gewaltigen Schritten, als die Gruppe beim Enterhaken ankam, der ihnen den Weg zurück nach oben erleichtern sollte.
Nacheinander eilten sie wieder hinauf, wo Bella das Seil rasch einholte. "Meins."
"Los, los!", drängte Felix.
"Zurück zum Tor!", rief Marv. "Dort sollte der Faden noch liegen. Jemand muss daran ziehen."
Felix entdeckte das dünne Seil und streckte die Hand aus ...
KOHANA
Verdreckt und keuchend landeten die fünf im Hauptsitz in Kohana.
Felix sah sich um. "Katana bringt mich um."
Bis auf Doro sahen sie aus wie lebendige Schlammmonster. Sira wimmerte leise, denn unter dem Matsch war ihr Fell nicht mehr zu entdecken.
"Das war ein Abenteuer!", jubelte Bella begeistert.
Marv trat vorsichtig von einer Matschpfote auf die andere.
Doro sah den Bellologen an. "Felix, was war denn das für ein... Ding?"
"Eine große alles vernichtende Kreatur. Sie hat die meisten Bewohner Belletristicos auf dem Gewissen." Felix schauderte noch immer bei der Erinnerung an dieses Monster.
Die Anderen starrten ihn an.
"Und das sagst du erst JETZT?", fuhr Doro auf.