KOHANA
Eines schönen Frühlingabends war es, dass sich die bisher größte Expeditionsgruppe in der Residenz Kohana zusammenfand. Aufgeregte Stimmen füllten den offenen Raum, der in japanischem Stil groß und minimalistisch eingerichtet war, sodass die unterschiedlichen Belletristicans dort gut Platz finden konnten. Es waren einige Neulinge dabei, die von der Expedition gehört hatten, und sich aus Neugier anschlossen. Während der Rest geübt seine Rucksäcke packte, wurden die Neuen über die bisherigen Abenteuer aufgeklärt - und über die Cor-de-rosa, die das Ziel der heutigen Expedition werden sollte.
Schließlich trat ein Grauwolf mit nervös zuckenden Ohren vor das ungewöhnlich große Publikum. "Hallo zusammen! Ich freue mich, dass so viele Helfer zusammengekommen sind. Ihr wisst es vermutlich alle, aber ich möchte noch einmal das Ziel unserer heutigen Reise zusammenfassen: Wir wollen einen sicheren Zugang nach Belletristico erschließen. Die Parallelwelt wird von einem riesigen, wildgewordenen Buggo terrorisiert, doch wir haben bereits eine Höhle ausfindig gemacht, wo wir unser Lager in Belle-O aufschlagen wollen. Um dorthinein wechseln zu können, müssen wir die Höhle jedoch auch in Belle-A finden und betreten. Das sollte kein allzu großes Problem sein - nach allem, was wir wissen, haben Belletristica und die Parallelwelt genau die gleiche Geografie - also, außer dort, wo das Monster von Belle-O den Boden aufgerissen hat und so."
Die Teilnehmer nickten ernst. Ein paar der Neueren wiederholten flüsternd: "Monster?!"
AUFBRUCH
In einer bunten, lustig plauschenden Truppe zogen die Belletristicans los, allen voran Marv, Felix und Katana, die sich die Expeditionsleitung teilten. Gemeinsam mit denjenigen, die schon die letzte Expedition er(und über-)lebt hatten fanden die drei bald die Stelle, an der auch in Belletristico der Eingang zur Höhle lag. Und wie sie gehofft hatten, klaffte auch in Belletristica eine große Öffnung in der Flanke des Berges.
"Das ist sie!", verkündete Marv aufgeregt und die Meute kletterte die Bergseite hinunter, noch ehe Katana mit einem seiner Schwerter einen sicheren Weg formen konnte.
Alles sah danach aus, dass diese Expedition rasch vorüber sein würde - bis die Belletristicans vor einer Wand aus grünen, sich windenden Ranken standen.
"Was ist das?"
Ihre mitgebrachten Waffen prallten von den Pflanzen ab, oder die Ranken wuchsen sofort nach, wenn sie abgeschlagen wurden. Nicht einmal essen konnte man sie effektiv (und sie schmeckten auch nicht!), und wer sich hindurchzuquetschen versuchte, musste mit vereinten Kräften befreit werden.
Offenbar war hier kein Weiterkommen. Grübelnd holte Felix die Systema hervor und durchsuchte sie nach den merkwürdigen Pflanzen.
"Ah, ich hab sie!", rief er dann aus. "Legendenranken! Mal sehen ... eine Planzenart aus der Familie der Kürbisgewächse ... nicht durch Feuer oder Schwerter zerstörbar ..."
https://belletristica.com/de/books/2062/chapter/167218
Eine kurze Lektüre später stand für die Expedition fest, dass sie Hilfe brauchen würden. Suchend sahen sie sich um und erblickten eine kleine Hütte im nahen Wald, am Fuße des Berges. Als sie diese erreichten, hämmerten sie wild gegen die Tür. Zornig öffnete ein großes, braunes Wesen mit einem langen Bart und einer Kette aus grünen Perlen. Buschige Brauen verdeckten die Augen, und zwei Hauer ragten aus sein Seiten seines Mauls. Wenngleich von aufrechtem Gang war es nicht menschlich, was die borkenartige Haut und die spitzen Ohren (oder ohrähnlichen Fortsätze) verrieten.
"Wer stört mich hier?", donnerte der Fremde. "Was wollt ihr, Belletristicans?"
"Das ist ein Mori no tanjō no ki!", hauchte Felix und verbeugte sich ehrfürchtig. "Ein Wächter des Waldes. Es heißt 'Der Baum, der den Wald geboren hat', oder auch ein 'Erster Baum'."
Eilig ahmten die Belletristicans den Bellologen nach und der grimmige Blick des Ersten Baumes wurde etwas weicher. Er schnaufte. "Nun, was wollt ihr?"
"Wir möchten sehr gerne die Grotte dort oben betreten. Könntet Ihr uns den Weg öffnen?", baten sie ihn.
Doch der Erste Baum schüttelte den Kopf. "Das ist ein gefährliches Begehr. Doch ich kann es nicht gewähren, selbst, wenn ich wollte. Die Hüter des Waldes haben diese Ranken erschaffen, es ist ihre Macht, die die Höhle verschlossen hält."
Enttäuscht blieben die Belletristicans zurück, während der Erste Baum sein Heim wieder betrat.
"Was sollen wir jetzt machen?", grübelten sie. "Vielleicht nach einer anderen Höhle suchen?"
"Oder nach den Waldhütern", schlug jemand vor. "Ähm, Herr Erster Baum, wo finden wir ...?"
Die Belletristicans starrten auf das Gestrüpp, das sich vor der Hütte wieder geschlossen hatte. Das Haus selbst war fort.
DIE RÄTSEL DER KEICHEL
Jedoch brauchte es keine lange Suche, und sie trafen auf einige kleine, rundliche Wesen, die die Systema als Keichel (auch Kreischel) erkannte. Sie hatten Größe und Form einer Eichel, jedoch kleine Arme und Beine, ein grünes Blatt auf dem Kopf und große, leere Augenhöhlen.
Dies waren die kleinen Hüter des Waldes.
Als die Belletristicans sie ansprachen, antworteten die Keichel mit einem wortlosen Hauch: "Hm, hm, hm." Doch dennoch verstanden die Expeditionsteilnehmer ihre Worte, wenn auch auf einer anderen, tieferen Ebene.
Ihr habt uns gefunden! Könnt ihr noch mehr finden? Wir suchen etwas ... doch wir wissen nicht, was es ist.
"Was genau sucht ihr denn?", fragten die Belletristicans ratlos, und die Keichel antworteten: "Ah ah ah ..."
Was ist der Anfang der Ewigkeit, das Ende der Stunde, der Anfang allen Endes und das Ende aller Tage?
Zögerlich lösten die Belletristicans das Rätsel. "Der Buchstabe E?"
"Ah. Ah ah? Ah ah ah." Das scheint möglich. Könnt ihr es uns bringen? Wir möchten es so gerne haben, all unsere Freunde haben es schon.
Eine schwierige Aufgabe, in der Tat! Doch Belletristicans wären keine Belletristicans, würden sie nicht auf jedes Rätsel eine Lösung finden. Und so bastelten sie ein E, das sie den Keicheln überreichten. Überschwänglich bedankten sich die kleinen Waldgötter. "Hm hm hm!" Vielen Dank! Ihr seid wahre Freunde der Keichel. Wir werden allen, aaallen unseren Verwandten von euch erzählen, falls sie auch etwas brauchen.
Und so begann eine wilde Odyssee quer durch den urwüchsigen Wald. Die Expedition ging von Keichelgruppe zu Keichelgruppe und bastelte über mehrere Tage hinweg: Schatten, Drachen, Spiegel, Feuer, Küken und Sterne. Es wurde eine Uhr aus der Taverne gestohlen, um den Keicheln die Zeit zu bringen, doch noch weitere Gruppen wollten wieder und wieder 'Zeit', und die Belletristicans mussten zunehmend kreativer werden. Außer den Keicheln machten ihnen noch andere merkwürdige Wesen zu schaffen: Bäume im Nebel, die auftauchten und verschwanden, und sie um Essen betrogen (ein furchtbares Verbrechen!), und grimmige Rampel, die Kreuzungen bewachten und jeden bestraften, der diese bei Rot überquerte.
Doch schließlich, nach einer Woche Suchen, Rätseln und Basteln, schickten die Keichel sie zurück zum Ersten Baum. Falls, so betonten sie, die Belletristicans bereit für das wären, was kommen würde.
Das letzte Rätsel verriet ihnen, wo sie den Wächter des Waldes finden würden: "Versammelt euch unter dem Ältesten, was ihr im Wald finden könnt."
Verzeichnis meiner Rätsel: https://belletristica.com/de/chapters/160012-ratsel-caro/preview?token=0Ck2htEvkVoZziOGGUQ-jA (Beigetragen von Caro, in der Runde ergänzt von Felix)
DIE LEHRE DES ERSTEN BAUMES
"Bevor wir beginnen, benötige ich noch einige Zutaten", berichtete der Baum. Er war den Belletristicans nun freundlicher gesonnen. Auf einer großen Lichtung, unter dem Licht der Sterne - dem Ältesten im Wald - macht er letzte Vorbereitungen.
"Die Keichel sollten auch bald ankommen", murmelt der Mori. "Ich brauchte noch einige letzte Zutaten von ihnen. 1000g Gram Federn, 200 Kiesel, ein halbes Kilo Schneckenhäuser, einen Samen von jeder Blume im Wald ... Sie sollten bald da sein, aber vielleicht helfen wir einfach der Gruppe, die am schwersten zu Schleppen hat. Dann geht es schneller."
Die Belletristicans grübelten einen Moment, ehe sie loszogen, um den Keicheln mit einem wirklich riesigen Berg Daunen zu helfen. Der Erste Baum sah erfreut zu. "Sehr schön! Jetzt können die Keichel ein neues Versteck bauen. Ihr müsst nämlich wissen, die Legendenranken waren ihr Unterschlupf. Da wir sie jetzt entfernen, brauchen sie eine Alternative. Aber das machen sie gerne für euch, nachdem ihr ihnen so viel geholfen habt. Sie werden sich andernorts verbergen und auch die vielen Schätze, die ihr ihnen gebracht habt, aufbewahren."
Langsam begriffen die Belletristicans die größeren Zusammenhänge hinter dem mühsamen Rätsellösen ...
"Aber warum wollten so viele von ihnen Uhren?"
"Mit den Uhren, oder vielmehr der Zeit, hat es tatsächlich eine Bewandtnis", erzählte der Erste Baum, während er der Gruppe voran durch den Wald wurzelte. Bäume schienen respektvoll Platz zu machen, obwohl sie sich natürlich nicht bewegten. "Ihr kommt sicher von selbst darauf, wenn ihr euch die Frage stellt: Was genau IST Belletristico? Die Welt, die ihr erreichen wollt."
"Eine Parallelwelt?"
"Nein. Nicht nur."
"Ein Glitch?"
Der Erste Baum nickte. "Der Mandala-Effekt des Glitchcubes öffnet die Tore: ... löst einen Mandela-Effekt aus. \"Belletristico\" wird fortan \"Belletristica\" heißen und unsere Erinnerungen werden so abgeändert, als wäre es schon immer \"Belletristica\" gewesen. Belletristico ist eine Vergangenheit, eine Alternative, wie Belletristica hätte aussehen können. Und wenn ihr nicht aufpasst, kann es gefährlich werden, dort zu viel zeit zu verbringen."
Doch offenbar hat der Erste Baum Vertrauen zu uns gefasst. An der Höhle angekommen hebt er die Wurzelarme und die Legendenranken, das ehemalige Heim der kleinen Keichel, lösen sich. Wenigstens konnten die kleinen Hüter mit den vielen Daunen sicherlich ein neues Versteck auspolstern.
Gähnende Dunkelheit erwartet die Belletristicans hinter den Ranken. Zögerlich betreten sie die Höhle. Ihre Windungen sind vertraut, doch keine Schweinchen und keine rosa Lichter begrüßen sie, und in der großen Haupthöhle gibt es auch keinen Teich. Ein trostloser Anblick, ganz anders als in Belle-O. War es die große Katastrophe durch das Monster, die eine Schönheit wie die Cor-de-rosa erschaffen hat?
Damit steht ein neuer Punkt auf der Liste der Belletristicans: Die Cor-de-rosa will aufgehübscht und erschlossen werden!
RÜCKKEHR
Katana war in der Zwischenzeit nicht untätig. Er hat eine Treppe vom Plateau zum Höhleneingang geebnet und mit dem Sternenschwert mit schimmernden Lichtern besetzt, sodass keine weiteren Kletterpartien notwendig sein werden. Endlich haben die Belletristicans einen sicheren Zugang nach Belletristico, nun können sie über neue Forschungen nachdenken.
Als die Truppe in Kohana ankam, erwartete sie jedoch eine Überraschung. Katana öffnete die Tür zur Eingangshalle, um seine Gäste zu bewirten - und sie starrten auf eine riesige Masse an Daunen, die das Zimmer in Kohana ausfüllte.
Verwirrt starrten die Belletristicans darauf. Nur hier und da erklang ein verzücktes "Flausch!"
Offenbar hatten die Keichel einen neuen Wohnort erwählt ...