Begrüssungen
Es ist schon ein paar Tage her, seit Stöff bei mir war und ich warte ungeduldig darauf, dass er wieder an meine Schreibstubentür klopft.
Ich möchte ja wissen , was es mit den Tänzen auf sich hat und Neues von seinen Liebsten hören.
Gerade gieße ich meine frisch gepflanzten Mittagsblümchen in den Töpfen auf den Fensterbrettern, als ich hinter mir näherkommende Schritte höre. Ich drehe mich um und sehe Stöff mit einem großen Korb den Gartenweg entlang kommen. Er winkt schon von weitem und lacht über sein ganzes bärtiges Gesicht. Als er vor mir steht, will ich ihn wie immer mit der offenen Hand auf dem Herz begrüssen. Er aber legt seine rechte Hand auf meine Schulter und küsst mich auf beide Wangen. Ich muß ihn wohl sehr verdutzt anschauen, denn er lächelt und erklärt: "So werden eigentlich nur ältere weibliche Verwandte begrüsst, aber für mich nehmt Ihr schon den Platz einer Tante ein. Wenn Ihr erlaubt, werde ich Euch in Zukunft so begrüssen, Frau Dirgis."
"Ach ja, sehr gern, aber nur, wenn du mich duzt und auch Tante zu mir sagst, mein Junge." Stöff strahlt : "Gerne, Tante Dirgis. Aber nun lass uns hinein gehen, damit wir wieder plaudern können." Er nimmt mir die Gießkanne aus der Hand und stellt sie neben den Brunnen. Dann wartet er, bis ich in die Stube getreten bin, folgt mir mit dem Korb in der Hand und schließt dann die Tür hinter uns.
"Was bringst du mir denn da Schönes?" frage ich und deute auf seinen Korb, der mit einem schön bestickten Tuch abgedeckt ist.
"Schiegenwolle, handgekämmt, handgesponnen und gefärbt. Hulda dachte, ein schönes dunkles Grün würde dir bestimmt gefallen," erklärt er, während er mir den Inhalt des Korbes offenbart. "Deshalb war ich auch länger nicht da, denn ich wollte doch die Wolle mitbringen." Er drückt mir einen gewickelten Strang in die Hand und ich staune ob der Feinheit und schönen Farbe. Dann lege ich die Wolle vorsichtig zurück.
"Bitte setz dich doch, Stöff. Magst du wieder einen Kaffee? Vielleicht ein Stück Kartoffelküchlein mit Mohn dazu?" "Oh gern, Tante, da sag ich nicht nein," freut sich der junge Zwerg. "Dann nimm doch einstweilen Platz, ich bin gleich wieder da." Schnell hole ich Kaffee und Kuchen aus der Küche und stelle alles auf den kleinen Tisch zwischen uns. Stöff beißt ein großes Stück des Mohnküchleins ab und macht einen herzhaften Schluck vom heißen Kaffee.
Als er alles geschluckt hat, meint er: "So, worüber wollten wir heute reden? Die Vorstellungstänze?"
"Wärst du mir böse, wenn wir doch ein anderes Thema nehmen ? Die verschiedenen Arten der Begrüssung unter Zwergen würde mich sehr interessieren," bitte ich ihn.
"Natürlich, ich werde versuchen, dir es so gut wie nur möglich zu erklären. Es ist nicht einfach, alles zu verstehen, wenn man nicht damit aufgewachsen ist." Er nimmt noch einen Schluck vom Kaffee, setzt sich gerade hin und beginnt zu erzählen: "Bei den Zwergen gibt es viele verschiedene Begrüssungsrituale, die je nach Alter, Stand, Geschlecht und Verwandtschaft verschieden sind. Das Wichtigste ist, dass der Jüngere immer zuerst grüßt.
Wenn sich zum Beispiel zwei Frauen, wie meine Mutter und Tante Lise, begrüssen, umfassen sie gegenseitig ihre Schultern und legen ihre Wangen aneinander oder küssen sich auch. Da ist es egal, welchen Stand sie bekleiden oder wie alt sie sind. Wenn eine Frau aber einen Mann begrüsst, besonders wenn dieser höher gestellt oder älter ist, legt sie ihre rechte, offene Hand auf das Herz und neigt kurz den Kopf. Bei verwandten Männern wird das Herz und die eigene Stirn mit der rechten Hand berührt. Der Mann ergreift dann die Hand der Frau und gibt ihr einen kleinen Kuss auf den Handrücken.
Wenn ich meinen Vater oder meine Brüder begrüsse, umfassen wir unsere Schultern und legen unsere Stirne kurz aneinander. Jüngere Zwerge schlagen schon mal aus Übermut fester mit den Köpfen aneinander, manchmal so stark, dass es Verletzungen gibt.
Einen höher gestellten Zwerg oder Ehrwürdigen begrüsst man, indem das eigene Herzen und die Stirn mit der Faust berührt wird und dann die Stirn des anderen. Bei älteren , verwandten Frauen ist es so, wie ich es vorher gemacht habe: Hand auf die Schulter und Küsse auf Stirn und oder Wangen." Stöff lächelt, nippt vom Kaffee und knabbert ein wenig am Kuchen.
"Frauen, die nicht blutsverwandt, aber gut bekannt sind, bekommen einen Handkuss, wie zum Bespiel Huldas Mutter. Aber das ändert sich ja bald." Der junge Zwerg strahlt über sein ganzes Gesicht. Ich lächle ebenfalls, denn ich weis ja um seine Freude.
"Alle anderen Frauen werden mit der Faust auf dem Herzen und Neigen des Kopfes begrüsst," fährt er dann fort.
"Wie ist das bei sehr jungen Zwergen oder Kindern?" will ich noch wissen.
"Gibt es da auch etwas Besonderes?"
Stöff schluckt den Bissen hinunter, den er gerade im Mund hat. "Ja, natürlich. Kieselchen*, mit denen man verwandt ist, küsst man auf die Stirn oder Wange. Die anderen stubst man mit den Fingerknöcheln an der Stirn."
"Das war jetzt sehr interessant, wie viele Regeln es bei Begrüssungen gibt," wundere ich mich. "Aber eigentlich ist es gar nicht so schwer."
Stöff stimmt mir zu. Dann deutet er auf den Korb. "Ich wünsche dir viel Freude mit der Wolle. Den Korb nehm ich das nächste Mal mit. Diesmal dauert es bestimmt nicht so lang, bis ich wieder komme." Er trinkt seinen Kaffee aus und isst den letzten Bissen vom Kuchen. Dann steht er auf und möchte sich verabschieden. "Einen Moment," bitte ich ihn. Eilends begebe ich mich in die Küche, wo der Rest des Kuchens steht. Schnell schlage ich ein grosses Stück in ein Tuch und bringe es Stöff. Der nimmt es erfreut an.
Herzlich legt er mir seine schwielige Hand auf die Schulter und küsst mich schmatzend auf beide Wangen und ich berühre mein Herz und Stirn mit meiner Rechten und reiche sie ihm noch zu einem abschließenden Kuss.
Dann begleite ich Stöff zur Tür und sehe ihm nach, bis das Licht seiner Laterne zwischen den Stämmen des Waldes verschwindet.
*als Kieselchen werden sehr junge Zwerge ,also Zwergenkinder, bezeichnet