Erweckungsfest
Es war schon den ganzen Tag regnerisch und kühl und ich hole mir gerade noch einen Arm voll Holz aus der Holzhütte hinter dem Haus, als ich es vom Waldrand her plötzlich melodisch pfeifen höre. "Was ist das wohl für ein Vogel?" wundere ich mich. Dann erkenne ich die Melodie. So pfeift nur Stöff, der junge Zwerg. Erfreut drehe ich mich nach ihm um. Schnell kommt er näher, nimmt mir das Holz aus dem Arm und trägt es ins Haus. Dann erst begrüsst er mich nach Zwergenart. "Wie schön, dich endlich wieder einmal zu sehen, mein Junge," freue ich mich. "Mir geht es genau so, Tante Dirgis," lächelt er. Dann schliest er die Tür hinter uns , geht zum Kamin und deutet fragend auf den dort stehenden Polstersessel. Nickend bestätige ich seine unausgesprochene Frage und er setzt sich. Dann zieht er ein frisch gewaschenes und schön gefaltetes Stück Stoff aus seiner Tasche. "Hier, dein Tuch vom Kuchen. Hulda hat er ausgezeichnet geschmeckt und sie lässt um das Rezept fragen." "Leg bitte das Tuch auf die Truhe. Was das Rezept betrifft, ich such es dir später heraus und schreib es für Hulda neu auf," meine ich, "aber zuerst: Tee oder Kaffee?" "Ich denke, ich nehme heute mal Tee, es ist recht kühl. Darf ich dir helfen?" Ich nicke und Stöff folgt mir in die Küche. "Nimm doch bitte die grösseren Häferl und trag sie in die Stube, ich komme gleich mit dem Tee nach." Stöff macht, worum ich ihn bitte und ich folge einige Minuten später mit der grossen, geblümten Teekanne und einem Teller mit Keksen, die ich beide auf dem kleinen Tischchen vor dem Kamin abstelle, nachdem ich uns eingegossen habe. Ich biete ihm die Kekse an und er greift freudig zu. "Worüber wollen wir heute plaudern?" möchte Stöff dann wissen. "Ich denke, über das Fest der Göttin und den Vorstellungstanz," erinnere ich mich.
"Nun dann, beginnen wir. Ich hab es dir zwar schon kurz erzählt, aber bestimmt etwas dabei vergessen, also jetzt noch einmal genauer: Das Fest der Göttin oder Erweckungsfest ist am Tag der ersten Tag- und Nachtgleiche. Zugleich markiert dieser Tag den Anfang eines neuen Jahres. Nun muss ich ein wenig ausholen. Die Göttin Sylwa ist die Göttin des Wachstums, der Natur, Fruchtbarkeit und der Liebe. Sie wird eher von den Frauen verehrt. Nichts desto trotz gehört sie zum allgemeinen Glauben der Zwerge, denn sie und Herr Angorosch haben beide gleichermaßen zum Entstehen aller Geschöpfe beigetragen.*
Das Fest beginnt schon am frühen Morgen mit der Begehung der Felder. Die Ältesten, Priester, Musikanten und eine Gruppe Kieslinge gehen über die Äcker. Es werden beschwingte Weisen gespielt, die Kieslinge singen und tanzen. Dazu versprengen die Ältesten Opfergaben, wie Honig, Milch und Beerenwein. Das soll die Göttin wecken und sie für ihre Aufgaben im Jahr stärken. Die Priester rezitieren uralte Verse aus den heiligen Büchern, um der Göttin zu versichern, dass unser Glaube ungebrochen ist. Wenn die Felder abgeschritten sind, kehren alle wieder ins Dorf zurück. Dort wurde einstweilen alles vorbereitet und die Vorstellungstänze können beginnen."
Stöff nimmt einen großen Schluck vom etwas abgekühlten Tee und knabbert noch einen Keks. Ich trinke ebenfalls etwas, beuge mich zur Seite und lege einige Scheite Holz in den Kamin. "Ich denke, ich sollte dir noch Holz für die Nacht von draussen holen," bietet Stöff an. "Gern, junger Mann, ich schreibe dir einstweilen das Rezept für Hulda ab," freue ich mich. Schnell ist alles erledigt und das Erzählen kann weiter gehen.
*siehe °Schöpfungsgeschichte der Zwerge°, nachzulesen im Buch °Geschichten aus dem Zwergenwald°