Lucille stand vor dem großen Spiegel und betrachtete sich in ihrem dünnen Hemd und musste kichern. Ihre neue Freundin hatte recht, sie sah wirklich wie ein Geist aus, wenn sie dieses Hemd trug. Kein Wunder, dass sie Sophie für einen solchen gehalten hatte. Sie kämmte ihr weißes Haar glatt, dass ihr bis zum Hintern reichte und kontrolliert nochmal den ordentlichen Sitz der roten Kontaktlinsen, die Sophie besorgt hatte. Dann wartete sie ungeduldig an der Tür, dass Sophie endlich kam.
Noch bevor die junge Frau am Glockenseil ziehen konnte, riss Lucille die Tür auf. Sophie erschrak prompt, lachte dann aber, viel der älteren in die Arme und sagte: "Du bist perfekt."
Dann trat sie auch in den Flur und stellte ihren schwer beladenen Rucksack ab. Skeptisch sah Lucille zu, wie Sophie eine Lampe nach der anderen aus der Tasche holte.
"Keine Angst, Tante Lucille, das sind alles UV lose Lampen. Die habe ich im Internet bestellt und alle kontrolliert. Aber die werden hier alles perfekt ausleuchten. Für oben, wo die Fensterläden zugewachsen sind, dafür sind die Hallogen. Das ist fürs Finale."
Sophie setzte ein sehr breites Lächeln auf. Die heutige Nacht war das Ergebnis einer einmonatigen Vorbereitung. Nachdem Sophie sie vor drei Monaten quasi als lebendige Nachbarin wiederentdeckt hatte - Lucille lebte auf Grund ihrer Lichturtikarie sehr zurückgezogen - besuchte sie Sophie fast täglich. Sie sagte, es wäre auch eine Art Wiedergutmachung, weil sie ihr ein Jahr die Zeitung vorenthalten habe. Und natürlich war da noch der Kuchen mit der geheimen Zutat, die Lucille noch immer nicht herausgerückt hatte. In dieser Nacht würde sie es lüften, hatte sie versprochen. Jedenfalls waren Sophies Besuche nicht bei ihren Klassenkameraden unbemerkt geblieben. Die lästerten noch immer. Sie wäre ja ein Feigling. Würde nur bei Tag zu dem Haus gehen und nicht bei Nacht, wenn der Geist dort umgehen würde. Eigentlich die gleiche Leier wie vor Monaten, als sie sich noch nicht bis zum Haus vorgewagt, geschweige denn es durch das alte verrostete Tor gewagt hatte.
Da wird es wohl Zeit für eine Mutprobe, hatte Lucille gescherzt und Sophie war sofort Feuer und Flamme. Sie hatten noch Sophies beste Freundin Rebecca mit ins Boot geholt, die ja direkt neben an wohnte und die nun seit einem Monat von immer stärkeren werdenden Geräuschen und von seltsamen Lichtern in der Klasse zu berichten wusste. Auch die kam gerade, komplett in Schwarz gekleidet, zu den beiden. Sie hatte eine große Rolle Kabel, einen Koffer voller Lautsprecher und einen MP3-Player dabei.
Damit uns keiner dazwischen funkt, erklärte Rebecca.
Schon begannen die drei, das schon an sich gruselige alte Haus in seinem zugewucherten Garten mit dem vielen Mossüberwachsenen Statuen und den riesigen 200 Jahre alten Buchen mit der Technik für die Nacht auszustatten. Dass sie einer dabei in der Dämmerung sah, war unwahrscheinlich. Der Zaun zum Grundstück war Meterdick mit Efeu zugewachsen. Nur vom Tor aus hätte man vielleicht was sehen können, aber die geschwungene Auffahrt mit den wuchernden Hecken verstellte auch dort die Sicht. Der einzig gepflegte Bereich des Hauses war der Gemüse- und Obstgarten und der lag hinterm Haus. Bis dahin würden die "mutigen" Jungs wohl kaum kommen.
Kurz vor elf lagen sie alle in einem der oberen Fenster auf der Lauer. Es war das einzige in der Sonnige Forderfront, deren Fensterläden noch zu öffnen waren.
"Was machen wir, wenn sie nicht kommen?", wollte Rebecca wissen.
"Wir essen Kuchen und lästern und Filmen das mit unseren Handys. Das stellen wir dann bei YouTube rein."
"Wollten wir das nicht sowieso?"
"Ja, aber dann liegen wir nicht die ganze Nacht hier unnütz rum. Wenn die nicht in einer halben Stunde kommen, gehen wir sofort zum gemütlichen Teil über", bestimmte Sophie. Lucille lächelte.
Weiter blieben die drei Frauen auf ihrem Horchposten. Nach weiteren zwanzig ungeduldigen Minuten kündigte ein Quietschen des Tores die nächtlichen Besucher an.
"Los geht's", frohlockte Rebecca und sprang auf. Auch Sophie und Lucille begaben sich in Position. Unten hinter der Haustür warteten die Beiden auf das Zeichen, dass ihr Auftritt kommen sollte. Sie mussten sich die ganze Zeit das Lachen verkneifen, während draussen Äste knackten, Uhus Zeit genau aufschrien oder plötzliche Lichtquellen bemoste Kopflose Statuen beleuchteten, wie zB die der Medusa. Lucille's Vater mochte die Klassiker von Homer. Es gab zwölf von diesen im ganzen Garten verteilt.
Aber der plötzlich angestrahlte Kopf der Medusa war wohl genauso furchterregend wie der vier Meter hohe Zyclop, der an der Hauswand lehnte und einen nicht ganz so unschuldigen Gefährten von Odyssos fraß. Immerhin stellte der sich ja als gemeiner Dieb und Gewalttäter heraus.
Aber bevor dieser Riese erstrahlte hatte erst Lucille als weisser Geist und Sophie als der Tod höchst persönlich ihren Auftritt.
"Oh meine Liebste", trällerte aus den Lautsprechern. "Wie schön, dass du dich wieder zum Tanz mit mir in meinem Garten eingefunden hast. Musik!"
An den hinterleuchten Fenstern der Villa erschienen Gestallten mit Instrumenten, die nur bei näheren Hinsehen mit viel Mühe ausgeschnittene Scherenschnitte darstellten, statt echte musizierende Skelette. Jetzt im Dunkeln sahen die Zuschauer nur, was die Frauen wollten. Und das war eine Geisterfrau, die mit dem Tod tanzte. Und immer mehr fahle Gestalten, die aus den Wiesen stiegen und im sanften Wind hin- und herwiegten.
Der mutigtste von ihnen kam bis kurz vor die beiden Tanzenden. Aber als sich dann ein roter Succubus aus einem Busch erhob und seinen Namen rief und zur gleichen Zeit die Hallogen-Lampen im Haus und im Garten auch die ganzen Gruseligen Statuen wie den Zyklopen anstrahlen, verließ auch ihn der Mut und er lief schreiend seinen Kameraden hinterher.
Rebecca lachte hell auf, als alles wieder dunkel war.
"Habt ihr gesehen, wie der gerannt ist."
"Wir steckten gerade im Mantel", ließ Sophie wissen.
"Ohja, stimmt, das Licht. Aber macht nichts, ich hab alles auf Video."
Sie gingen zur Veranda hinterm Haus, wo eine Tafel mit Kuchen und Kerzenständer auf sie wartete. Und während sie auf einem Laptopbildschirm entschieden, welche Szene für ihren Film "Spuck am Haus Nr 13" genommen werden sollte, fragte Sophie endlich nach der besonderen Zutat von Lucilles Kuchen.
Die alte Frau lächelte in die Kamera:
"Angstschweiss von jungen Männern."