„Hör auf mitzusingen, du singst fürchterlich schief“, meckert Iwan und hält es mittlerweile doch für angebracht, sich auf der Couch zumindest einmal aufzurichten. Im Fernsehen spaziert der Herr des Winters singend durch den verschneiten Zauberwald und sorgt mit seinem magischen Zepter dafür, dass alles herrlich weißgezuckert aussieht und die Bäume sich unter der Schneelast biegen.
Und seine Schwester Nastja… singt - sehr zu seinem Leidwesen - lauthals mit.
Sie tut es auch dann noch, als Iwan stöhnend aufsteht und schweren Schrittes in die Küche tapst, um sich einen weiteren Kaffee für die matten Lebensgeister zu holen. Anastasia lässt sich davon in keinerlei Weise beirren. Sie kennt das Gemeckere schon und hat bereits vor Jahren aufgehört, sich darum zu scheren.
Sie summt das Lied auch dann noch leise mit, als der Mann in dem dicken, blauen Mantel mit Pelzbesatz und Eiszapfen als Kragen, sowie dem wallenden, weißen Bart, schon längt nicht mehr singt, sondern sich der Nastjenka im Film zuwendet. Besorgt fragt er sie, ob ihr nicht kalt sei – ihre böse Stiefmutter hatte sie viel zu dünn bekleidet im Wald ausgesetzt (typische böse Stiefmutter, da ging es Aschenputtel ja noch prächtig gegen).
Aber Nastjenka wird natürlich von dem freundlichen Großväterchen gerettet und bei sich aufgenommen.
Hach ja…
Der Herr des Winters ist natürlich niemand geringeres als Väterchen Frost.
Im russischen Morosko, auch Djed Moroz (Großvater Frost) oder Djeduschka Moroz (Großväterchen Frost) genannt.
Und genauso sieht er aus. Wie ein Großvater.
Die Haare und der ausladende Bart sind schlohweiß, sein Mantel ein strahlendes Blau mit eingestickten, weißen Schneeflocken. Zudem besitzt er eben jenes magische Zepter, das alles, was mit ihm in Berührung kommt, zu Eis erstarren lässt. Dieses Schicksal befällt im Film leider auch die arme Nastjenka, aber die Liebe Iwans kann sie aus ihrem eisigen Schlummer erwecken.
Anastasia schielt herüber auf den Kalender an der Wand. Schon Anfang Dezember, dann ist es auch im wahren Leben bald wieder soweit.
Denn in Russland bringen weder das Christkind, noch der Weihnachtsmann die Geschenke.
Die bringt Väterchen Frost. Und zwar am Neujahrstag.
Aufgrund westlicher Einflüsse hat er mittlerweile einen ähnlichen Stellenwert und eine ähnliche Funktion, wie der Weihnachtsmann eingenommen. Selbst der traditionell blaue Mantel wird mittlerweile gerne rot dargestellt. So oder so, ein jedes Kind in Russland kennt Väterchen Frost. Diese Entwicklung ist recht rasant, wenn man bedenkt, dass die Figur des Väterchen Frosts, wie wir ihn heute kennen, bedeutend jünger ist, als man glaubt.
Knapp hundert Jahre alt, um genau zu sein.
Zwar liegen die Wurzeln der Figur in der slawischen Mythologie begründet, in der Morosko ursprünglich ein Winterzauberer war, aber erst nach der Oktoberrevolution (die nach dem westlichen, gregorianischen Kalender übrigens im November stattfand und daher auch gerne Novemberrevolution genannt wird) wurde das Väterchen fester Bestandteil der russischen Weihnachtstradition.
Da die Bolschewiki die Religion und religiösen Bräuche der orthodoxen Kirche unterdrücken wollten, ersannen sie in den 1920ern mit der Rückbesinnung auf den traditionellen russischen Winterzauberer einen Gegenpol zu den klassischen christlichen Weihnachtsmotiven. Väterchen Frost, so wie man ihn heute in Russland kennt und liebt, ist also eine bewusst von den Kommunisten erdachte, aus slawischer Folklore hervorgegangene Figur.
Die sich allerdings auch im postsowjetischen Russland nach wie vor größter Beliebtheit erfreut.
So wie bei Anastasia.
Diese sieht gebannt dabei zu, wie Väterchen Frost die halb erfrorene Nastjenka in sein Gefährt verfrachtet. Das Väterchen fährt bevorzugt mit einem Schlitten, der je nach Version entweder von einer Troika (dem traditionellen russischen Dreigespann) gezogen wird, oder von… unsichtbaren Pferden, die schneller sind als der Wind.
Ähnlich wie bei Nikolaus und Knecht Ruprecht, kommt das Väterchen ebenfalls nicht allein zu den Kindern. Er hat oftmals seine Tochter (oder je nach Variante auch Enkelin) Schneeflöckchen (Snegurotschka) dabei. Ein hübsches, junges Mädchen, mit Haut so weiß wie Schnee, das den Kindern zusammen mit ihrem Vater die Geschenke überreicht. Der Ursprung von Schneeflöckchen variiert stark. So gibt es eine Märchenvariante, in der sie aus einer geschmolzenen Schneekugel entstanden ist, eine andere Variante besagt, sie sei eine durch den Zauber Moroskos lebendig gewordene Schneeskulptur. Aber auch die Variante, dass Väterchen Frost das halb erfrorene Kind, das er im Wald fand, bei sich aufnahm und adoptierte, ist weit verbreitet.
Anzumerken sei noch:
Ähnlich wie der Weihnachtsmann in Rovaniemi Finnland, hat auch Väterchen Frost ein hochoffizielles Weihnachtspostamt, an das Kinder ihm Briefe und Wunschzettel schicken können – und darauf auch tatsächlich eine Antwort erhalten. Das offizielle Morosko Postamt ist in Weliki Ustjug in der Oblast Wolgograd (warum nicht in Sibirien… man weiß es nicht).
Anbei ein Bild des Väterchens aus Anastasias Lieblingsfilm:
https://weltenfieber.de/wp-content/uploads/2016/12/vaeterchen-frost.jpeg
General Winter (General Moroz)
Väterchen Frost hat, wenn man so will, übrigens noch einen militärisch angehauchten Bruder. General Winter (wörtlich übersetzt General Frost) ist der personifizierte russische Winter, der der russischen Armee schon oft zum Sieg verholfen hat, da die harten Witterungsbedingungen den russischen Streitkräften in die Hände spielten und feindliche Angriffe verschleppten oder gleich unmöglich machten.
Dies bezieht sich vor allem auf den Napoleonischen Krieg, in dem Napoleons Armee vor Moskau im Schnee steckenblieb, den ersten Weltkrieg und natürlich besonders: auf den Großen Vaterländischen Krieg, wie man in Russland den 2. Weltkrieg nennt, als die 6. Armee vor Stalingrad von der Roten Armee eingekesselt wurde.
General Winter wird, anders als Väterchen Frost, entweder mit einer roten Militäruniform oder mit einem grauen Feldmantel dargestellt. Auch ist General Winter in dem Sinne keine Sagen- oder Märchengestalt, sondern eher eine Art Symbol dafür, wie der Winter dem russischen Volk hilft. Und im Vergleich zum freundlich singenden Väterchen: der General ist nicht freundlich. So überhaupt nicht. Er gilt als kalt und verhärmt. Eben wie der russische Winter.
Anbei eine Zeichnung des Generals aus der französischen Zeitschrift Le Petit Journal aus dem Jahre 1916 als Russland gegen die Mittelmächte Österreich-Ungarn und das Deutsche Kaiserreich kämpfte:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b4/General_Winter.jpg
Wer noch etwas mehr zu General Winter – wenn auch in leicht abgewandelter Form - lesen möchte, dem seien meine Kurzgeschichten „General Winter und Fräulein Frühling“ und „Fräulein Herbst und General Winter“ ans Herz gelegt. 😉
https://belletristica.com/de/books/21734-general-winter-und-fraulein-fruhling/chapter/92295-
https://belletristica.com/de/books/29793-fraulein-herbst-und-general-winter/chapter/144031-fur-saki