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Nach dem Prompt „Nebelparder“ der Gruppe „Crikey!“
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"Eigentlich doch ein schönes Tier", murmelte Shymron und beugte sich vor.
Fauchen drang aus der wassergefüllten Wange. Siscas legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter und zog ihn zurück. "Schön vielleicht, aber vor allem zornig."
"Sie ist nicht zornig!", widersprach Shymron. "Sie hat nur Angst." Er hockte sich dicht vor das Gitter. "Ich tue deinen Kindern doch nichts. Du tapfere, tapfere Mama. Naaa? Du bist so hübsch!"
Siscas rollte mit den Augen. "Lass dir nicht die Augen auskratzen, in Ordnung?"
Sein Zwillingsbruder winkte ab, ohne zu ihm zu sehen. Shymron setzte sich im Schneidersitz vor den Käfig und gurrte das Fischparder-Weibchen liebevoll an.
Siscas hatte seinen Bruder noch nie verstanden. Shymron liebte Tiere jeder Art. Er hatte auch den gefräßigen Moosdrachen angeschleppt, und würde vermutlich einen Tigerkoi umarmen wollen, sollte sich herausstellen, dass das Monster wirklich existierte.
Siscas als dem Älteren oblag es offenbar auch, der Vernünftigere von ihnen beiden zu sein.
Er hörte das Geräusch einer Tür und sah, dass General Rashadhi den Seitenturm der Akademie soeben verlassen hatte und zu ihnen kam. In der Hand trug er einen mächtigen Schlüsselbund - sie konnten das gefangene Tier endlich in die Gartenanlage bringen! Er atmete erleichtert auf.
"Shymron!", donnerte der General schon von Weitem. "Zurücktreten!"
Etwas weniger militärisch als es ihr Befehlshaber sich vielleicht gewünscht hätte wich Shymron von dem Käfig zurück. Siscas nahm Haltung an, als könnte er die schlampige Position seines Bruders dadurch ausgleichen.
"Willst du deine Nase verlieren?", fragte der General streng. "Nein? Dann halte Abstand zu Raubkatzen!"
"Sie tut doch gar nichts!", rief Shymron - mal wieder.
"Das ist kein zahmer Drache, sondern ein Fischparder. Sie mag kuschelig aussehen wie dein Mibbi, aber sobald du ihr den Rücken zudrehst, wird sie angreifen. Glaub mir, Junge." Der Waldelb musterte seine beiden Rekruten eine Weile. Shymron und Siscas waren mit gerade einmal 51 Jahren noch richtige Jungspunde und im ersten Jahr ihres Wachdienstes. Der heutige Auftrag war eine Probe gewesen und Siscas hatte das dumpfe Gefühl, dass sie nicht bestanden hatten. Vermutlich würden sie die nächsten Jahrzehnte an den Toren Wache schieben müssen, bevor sie wieder einen Tierangriff untersuchen dürften.
"Ihr seid eben noch jung", brummte Rashadhi, der offenbar keinen Grund darin sah, weiter mit den Zwillingen zu schimpfen. Er öffnete das schwere Gitter im hohen Zaun, vor dem sie gewartet hatten.
"Dann kommt." Er packte die hinteren Enden der beiden Stangen, die oben auf beiden Seiten vom Käfig herausragten. Shymron und Siscas nahmen jeweils eine der vorderen und so konnten sie den länglichen Käfig nach oben stemmen. Es platschte und die Zwillinge schwankten, als der Fischparder sich in der Wanne seines zu engen Gefängnisses drehte. Die graue Fischflosse stieß mit einem Platschen gegen das Gitter. Hohes Maunzen verriet, dass die Jungtiere geweckt worden waren.
Taumelnd kämpften sich die Zwillinge über die verschlungenen Wege des Gartens. Kelche und große Blüten voller Wasser standen zu beiden Seiten des Weges. Kolibris schwirrten in der Luft, Pfaue huschten über den Pfad. An einer größeren Kreuzung stand ein Axishirsch, der die Eindringlinge empört anblickte und dann mit großen Sprüngen in die dichte Vegetation eintauchte.
Dann wich der dichte Blätterdschungel zurück und den jungen Wächtern offenbarte sich eine größere Wiesenanlage, die sie oft genug aus den Fenstern der hohen Gebäude gesehen, jedoch noch nie zuvor betreten hatten. Die verschlungenen, eingezäunten Gebiete waren größtenteils durch Pflanzen verdeckt, doch von den Wegen aus konnte man plötzlich bis weit in das Gebiet der umzäunten Bereiche blicken.
Ein Lippenbär trat eilig den Rückzug ins Unterholz an, als er sie bemerkte, während eine Hyäne mit Beinschiene keckernd zum Tor gelaufen kam und schwanzwedelnd um Futter bettelte. Am Ufer eines umzäunten Teiches sonnten sich Ghariale, viele noch mit frischen, gerade versorgten Wunden.
Eines der Gehege bot einen künstlichen Bachlauf und dichtes Unterholz. Hier gab Rashadhi das Kommando, den Käfig abzusetzen.
Siscas streckte dankbar den Rücken durch. Das Gewicht eines Fischparders samt Jungtieren und Käfigwanne war nicht zu unterschätzen.
Rashadhi zeigte den jungen Wächtern, wie sie den Käfig so positionierten, dass die kurze Seite vor dem Tor des Geheges lag. Dazu mussten zuerst die Tragestangen abmontiert werden - und zwar ohne dem Gitter zu nahe zu kommen, denn das junge Fischparder-Weibchen hatte schmale, graue Pfoten, die durch die faustgroßen Löcher des Käfigs passen würden.
"Wird ja höchste Zeit", murmelte Rashadhi mit einem Blick auf den bedenklich niedrigen Wasserstand im Transportkäfig. Das tobende Weibchen hatte fast alles verspritzt. Aber die kleinen Kätzchen, deren Körper wie bei der Mutter ab der Mitte in einen graumelierten Fischschwanz übergingen benötigten die Feuchtigkeit dringend.
Rashadhi öffnete zuerst die Gehegetür, dann die Käfigtür.
Grollend fuhr das Muttertier nach draußen und tauchte mit einem eleganten Schwung in das Wasser des Baches. Mit den Vorderpfoten zog sich die Raubkatze über die Steine ins tiefere Wasser, dann peitschte der leicht schillernde Schwanz, der das gleiche, große Fleckenmuster wie der restliche Körper hatte.
"He! Du hast deine Kinder vergessen!", rief Shymron.
"Sie wird sie holen, keine Sorge", sagte der General tröstend.
Tatsächlich streckte der Fischparder bereits den Kopf aus den Wellen. Das klägliche Maunzen der verlassenen Jungtiere weckte den Instinkt der noch unerfahrenen Mutter. Flinker als man es einem Tier ohne Hinterbeine zutrauen würde sprang das Parder-Weibchen wieder an Land. Knurrend flitzte sie auf das Tor zu und schlug nach dem General - doch der Zaun fing ihre Pranken ab. Dann jagte sie in die Wanne, schnappte eines der kleinen Kätzchen und schleppte es in den Bach.
"Siehst du? Wir sind gar nicht so übel", sagte Shymron. "Hier hast du genug Wasser, um deine Kinder aufzuziehen. Da draußen wäre es viel zu trocken gewesen! Und Futter gibt es auch genug. Viel besser als eure olle Pfütze draußen. Die wäre schon bald völlig ausgetrocknet gewesen."
"Sie hört dir nicht zu", kommentierte Siscas lachend, als das Parderweibchen mit neuen Drohgebärden versuchte, die drei Elfen von ihren Jungtieren fortzujagen.
"So ist das oft mit den Nachzüglern", murmelte der General und ein Lächeln spielte um seine Lippen. "Sie wollen einfach nicht hören - sie haben ihren eigenen Kopf."