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Nach dem Prompt „Tiger/Streifen/Orange“ der Gruppe „Crikey!“
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Der Priester führte Shogi in den dunklen Raum. Der Junge schluckte nervös.
"Lasse an der Schwelle jenen zurück, der du warst", sprach der alte Mann.
Der Waldmensch zögerte. Wie sollte man alles zurücklassen, was einen ausmachte? Das Leben bis hierher geprägt hatte?
Er streifte die Sandalen ab und versuchte, mit der gleichen Bewegung auch alles andere hinter sich zu lassen. Nur in das orange Gewand der Priester gekleidet trat er in den dunklen Raum.
Die Türen wurden hinter ihm zugeschoben, ohne dass er diejenigen sehen konnte, die das taten. Nun erhellten nur noch die schwachen Glühpunkte der Räucherstäbchen das duftgefüllte Zimmer.
"Es ist Zeit für deine letzte Prüfung", sagte der Priester.
Die Dunkelheit wurde von mehreren Kerzen erhellt, die gleichzeitig aufflackerten. Die niederen Priester huschten mit den Feuerstäben wieder hinaus, nicht ganz so unauffällig wie bei der Tür. Shogis Blick wurde jedoch von der gestreiften Bestie gefangen, die ihm mit einem Mal gegenüberstand.
Er schrie auf, als der Tiger brüllte und mit einem Satz sowie einem Hieb der breiten Pranke nach ihm schlug. Shogi konnte sich gerade noch zu Boden werfen. Er rollte zur Seite und riss eine der silbernen Schalen vom Altar. Die angerichteten Opfer darauf fielen zu Boden, als Shogi den behelfsmäßigen Schild erhob. "Was soll das? Wollt Ihr mich töten?"
"Bleibe ruhig", antwortete die Stimme des Hohepriesters irgendwo in der Dunkelheit jenseits der Kerzen. "Was siehst du?"
"Ich sehe einen verdammten Tiger!", brüllte Shogi. Manchmal ging ihm das Leben unter den ewigruhigen, ewigbesonnenen Priestern so dermaßen auf die Nerven! Hielt der Priester das hier für einen Scherz? Oder für einen guten Zeitpunkt, um ihm irgendwas von den Lehren der Achtsamkeit zu erzählen?
"Sieh hin, Shogi."
Widerwillig gehorchte er und sah der Raubkatze in die Augen. Er hörte Schreie aus der Ferne. Die große Katze fauchte ihn an und fuhr die Krallen heraus. Es war Shogi, als wäre mit einem Mal Blut auf dem Boden.
Blut. Wie damals in der Hütte seiner Familie. Als er zur Waise geworden und in den Tempel gekommen war.
"Du hast meinen Befehl nicht befolgt", tadelte der Priester ihn. "Ich hieß dich, an der Schwelle alles zurückzulassen."
Shogi schluckte, dann zwang er seinen Atem zur Ruhe. Er musste alles hinter sich lassen - auch seine schmerzende Vergangenheit. Instinktiv wählte er die Atemübungen der Mönche, die sie ihn in all den Jahren gelehrt hatten.
Ganz auf den Moment konzentriert sah er wieder zum Tiger. Zu seinem Erstaunen stand ihm die Raubkatze ganz ruhig gegenüber. Kerzenschein flackerte über ihr schwarzgestreiftes, goldenes Fell, und ruhig erwiderte sie Shogis Blick.
"Du bist nicht böse", flüsterte er, als er erkannte. "Du hast mich nur angegriffen, weil du meine Furcht spürtest."
Der Tiger senkte den Kopf wie um zu nicken. Vorsichtig ließ Shogi das Tablett sinken und streckte die Hand aus. "Es tut mir leid, mein Freund. Ich wollte dich nicht erschrecken - bitte verzeih mir." Behutsam trat er an die Raubkatze heran und berührte schließlich ihr Fell. Der Tiger stieg ein tiefes Brummeln aus - er schnurrte.
Shogi atmete auf, als ein Gong erklang. Helles Licht blendete ihn, und als es fort war, stand er alleine in der Mitte des Zimmers, ohne Tiger. Auch von den Kerzen war keine Spur zu sehen, und der Altar war unversehrt.
Der Priester trat vor ihn. "Sehr gut, mein Junge. Du hast die Prüfung bestanden."
Verständnislos sah Shogi sich um. "Wo ... wo ist der Tiger? Was ist geschehen? Warum ...?"
"Der Tiger ist hier." Der Priester berührte Shogis Stirn. "Und hier." Er tippte auf Shogis Brust. "Und hier." Er strich über Shogis Lider. "Und wenn du ihn brauchst, wird seine Stärke dir immer dienen."
Demütig senkte Shogi den Kopf. Ihm war, als spüre er die tröstliche Energie im Inneren. Geist, Herz und Seele des Tigers ... Er hätte nie geglaubt, dass es ausgerechnet diese von ihm gefürchtete Bestie sein würde, die ihn als spirituellen Führer begleiten sollte. Und doch erschien es ihm nun, nach der Prüfung, als hätte gar keine andere Option bestanden.
"Gehe nun, mein Sohn. Die anderen Priester freuen sich darauf, dich in ihren Reihen zu begrüßen."