Rating: P16 [CN: Tod, Verbrechen, Flucht]
Nach dem Prompt „Westlicher Kleiner Panda“ der Gruppe „Crikey!“
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Sein Atem ging schnell. Der tosende Wind rauschte in seinen Ohren, zerrte an Miskas Kleidung. Immer wieder blitzten die Bilder der letzten Sekunden vor ihm auf.
Athmayas weit aufgerissene Augen. Das gelbe Kleid, das zwischen den Nebeln verschwand. Ihre keifende Stimme, als sie ihn anschrie. Und das goldene Armband, mal auf seinem Samtkissen, mal an ihrem Handgelenk, mal im Schein der Sonne ihrer Freundschaft und mal verdunkelt von Regenwolken der Zeit, die sie auseinander gerissen hatten.
Alles wirbelte wild durcheinander, in der falschen Reihenfolge, ohne Sinn. Dann machte Miska einen Atemzug - den ersten, seitdem es passiert war - und einen Schritt zurück.
Es war, als würde er aus eisigem Wasser tauchen und Luft holen. Die Welt kehrte zurück, die Farben, die Geräusche der Kraniche über ihm. Er sah den gewundenen Weg am Felshang, der zum höchsten Berg führte, wo die Bibliothek von Akijama lag.
Und dann sah er unten, zwischen den Nebeln der höchsten Wolken, das gelbe Kleid.
Athmaya lag auf den Klippen unter ihm.
Wieder sah er ihr Gesicht vor sich, das sich entfernte, hörte ihren Schrei, sah das flatternde Kleid entschwinden.
"Oh nein. Maya! Maya, es tut mir so leid!" Miska beugte sich so weit vor, wie er es wagte. Mit einem Mal zitterten seine Finger, und ein leises Klimpern weckte seine Aufmerksamkeit.
Die Kette. Das ehemalige Freundschaftsarmband. Er hielt es noch in der Hand.
Aber es war jetzt nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig. Er suchte einen Abstieg, kletterte über verschneiten Stein, und hoffte die ganze Zeit, den vertrauten Spitznamen zu hören.
"Ska-ska. Mir geht es gut."
Aber Athmaya rief nichts herauf. Er rutschte über das Geröll, schürfte sich die Hände auf, zerriss seine Hose. Als er unten ankam, ging sein Atem japsend und die Kette, um die sie so lange gestritten hatten, war fort.
Aber das war nicht wichtig, nichts war wichtig. Nichts außer Maya.
Miska fiel an ihrer Seite auf die Knie. Zwar sahen seine Augen, doch sie wollten es nicht wahrhaben.
Dennoch gab es keinen Zweifel. Athmaya jil Tamaxira, die Tochter der höchsten Beraterin von Akijama, war tot. Und ihn hatte man mit ihr zum Kranichfest gehen sehen. Die Leute wussten um ihre Freundschaft, um den Streit, und sie wussten, dass sie beide hier alleine gewesen waren.
Aber es war ein Unfall!
Nur wer würde ihm glauben, Miska Kosbanji, dem niederen Sohn eines niederen Elfen? Sie alle würden glauben, dass er sie umgebracht hatte, aus Neid oder Rache. Sie würden ihn für 500 Jahre oder mehr ins Gefängnis stecken.
Mit bebenden Gliedern sah er sich um. Miska wusste, dass es nur ein Entkommen gab.
Er rannte.
⁂
Zwar hatte er über hundert Sommer dieser Welt gesehen, trotzdem hatte er nur achtzehn Geburtstage gehabt. Er war am Verlorenen Tag geboren worden, dem letzten Tag des Monats Frostbiss, welcher nur alle sechs Jahre stattfand.
Manche Menschen und viele Zwerge hielten das für ein böses Omen. Für Elfen jedoch spielten Geburtstage keine große Rolle - wenngleich auch manche seiner Freunde Miska damit aufgezogen hatten, dass er noch keine 50 Jahre alt wäre.
Doch vielleicht lag ja doch ein Fluch über seinem Leben. Wie sonst ließe sich erklären, dass er für den Tod seiner ehemaligen besten Freundin verantwortlich war? Und, rückblickend, vielleicht war es auch ein Fluch gewesen, dass er sich ausgerechnet mit diesem Mädchen angefreundet hatte, dessen Mutter Ratsmitglied wurde und das daraufhin für Miska unerreichbar wurde.
Sie waren in getrennte Welten gezogen worden. Athmaya hatte im Palast gewohnt, sie hatte Leibwächter gehabt und wichtige Aufgaben. Miska war ein einfacher Pakihirte geblieben. Und das hatte sich zwischen sie gedrängt.
Mit schweren Schritten schleppte er sich vorwärts. Die Nacht war kalt, doch nicht so kalt wie oben in Gai-Shitori. Irgendwie hatte er es zu Fuß durch das Gebirge geschafft. Nun war er unter den Wolken, verirrt irgendwo am Berghang, und die Dunkelheit kroch von allen Seiten heran.
Er zitterte. Die Bambuswälder unten konnte er nicht mehr sehen. Nach dem langen Abstieg war er erschöpft. Er trug keine geeignete Reisekleidung. Er brauchte Nahrung und Wasser und eine sichere Unterkunft.
Doch er fand nur kalten Stein und die Geister des schrecklichen Moments, vor dem er floh.
Athmayas Schrei. Das gelbe Kleid, das immer kleiner wurde. Ihre aufgerissenen Augen.
Er stolperte, rutschte über eine vereiste Kante und stürzte den Hang herab. Ein Plateau weiter unten bremste ihn. Er kämpfte sich wieder hoch, doch obwohl er unverletzt war, überwältigten die Schmerzen ihn.
Bebend brach Miska zusammen. Er würde nicht einen Schritt mehr schaffen. Gegen die Kälte rollte er sich zusammen, machte sich so klein wie nur möglich, und presste die Fäuste vor die Augen.
"Gib mir das Armband!"
"Was?"
"Das Armband. Gib es mir wieder."
"Nein! Geschenkt ist geschenkt!"
"Ich habe es aber nicht geschenkt bekommen, und wir sind keine Freunde mehr."
Wieso hatte er darauf bestanden? Er hätte auch anders noch Geld für Essen bekommen, ohne das zweite Band zu verkaufen. Und gerade am Tag des Kranichfestes hätte er es nach all den Jahren gut sein lassen können.
Es war doch nur ein dummes Armband. Dumm, dumm, dumm!
Miska fror. Die Kälte des Berghangs würde das Urteil bald vollstrecken, dem er sich oben nicht hatte stellen wollen.
Du bist ein Mörder. Deinetwegen ist sie tot.
Es war ein Unfall! Ich wollte das nicht!
Du hast Maya gestoßen.
Ich wollte sie festhalten!
Und nach all den Jahren hat sie das Armband immer noch getragen. Ist dir das nicht aufgefallen?
Seine Gedanken wirbelten brüllend umeinander. Miska schloss die Augen und flehte stumm.
Bitte ... Wenn irgendjemand mich hört ... Gnade! Bitte, Gnade.
Vielleicht sahen die Edelsteindrachen auf ihn hinab. Vielleicht begriffen sie, dass er es nicht gewollt hatte. Sicher erkannten sie, dass er nicht ins Gefängnis hatte gehen können. 500 Jahre! Die Strafe berechnete sich nach der Lebensdauer. Für Zwerge und Menschen war sie beispielsweise kürzer. Aber für einen Elfen, der am Verlorenen Tag geboren war, würde sie ewig andauern. Das wäre der Großteil seines Lebens! Es hatte doch gerade erst begonnen.
Wie lange er dalag und die Zukunft fürchtete, wusste er nicht. Aber irgendwann fühlte Miska Wärme.
Er riss sich zusammen und schlug die Augen auf. Wenn Kälte Wärme wich, das wusste er, war das Ende nah. Und er wollte nicht sterben!
Doch er erfror nicht. Als er sich umsah, fand er seine unmittelbare Umgebung in warmes Licht getaucht. Es war echte Wärme, keine Einbildung, ein Schimmer in der Nacht.
Miska drehte den Kopf und erblickte ein kleines, fliegendes Wesen. Es war nicht viel länger als sein Arm, den meisten Teil der Länge nahm ein buschiger Schweif aus langen Flammen ein. Der Rest des Tieres glich einem länglichen, kleinen Bären. Weiße Zeichnungen zogen sich durch rotes Fell und aus kohledunklen Knopfaugen sah das Tier ihn an, während es sich in Achterschleifen über ihm durch die Luft wand. Das Wesen hatte spitze, dreieckige Ohren und ein rundes Gesicht, wie ein roter Panda, doch es flog einen Schritt über dem Boden und knisternde Flammen sprangen aus seinem Fell. Miska spürte, wie deren Wärme die Tränen auf seinen Wangen trockneten.
Während der Rest des Körpers sich wand, hielt das Wesen den Kopf still, den Blick unverwandt auf Miska gerichtet. Zwar sah es aus wie ein Wesen, das Schalk treiben würde, doch sein Ausdruck war mitleidig und weise.
"Ein Feuerfuchs", murmelte Miska. Er hatte am Rande von diesen Legenden gehört. Selbstvergessen streckte er die Hand aus, wie um das Tier zu streicheln. Im letzten Moment zog er die Finger zurück.
"Nein! Ich habe deine Hilfe nicht verdient. Ich habe etwas Furchtbares getan!"
Auf ein leises Gurren hin hob er den Kopf wieder. Der Feuerfuchs nickte auffordernd, als wolle er Miska ermutigen, aufzustehen. Nach einer Weile folgte er der Aufforderung zögerlich.
Sogleich drehte das Wesen und huschte bergab. Miska hielt den Atem an, voller Furcht, dass er den Feuerfuchs vertrieben hatte. Da drehte das Tierchen sich um, sah ihn an und gurrte.
Langsam ging er dem Lichtschimmer nach. Im warmen Schein sah er endlich einen Weg, der ihn auf den Dschungel im Tal zutrug. Schnee und Gestein blieben hinter Miska zurück. Dann passierte er die ersten, grünen Stämme des Bambuswaldes und wanderte zwischen den großen Halmen umher. Der Feuerfuchs huschte vor ihm durch das Wäldchen, ein roter Streifen hinter dunklen Strichen, umringt vom hellen Grün, das der Schimmer aus der Dunkelheit riss.
Miska stolperte dem Licht hinterher, geblendet für alles, was außerhalb des leuchtenden Scheins lag, den das Tierchen warf. Das Fabelwesen führte ihn tiefer und tiefer in den Bambuswald.
Es musste wissen, was Miska getan hatte - es war ein Fabelwesen! Und doch hatte es ihm Gnade gezeigt.
Schließlich erreichte er einen Kreis, wo kein Bambus wuchs. Der Feuerfuchs schwebte über ihm, drehte sich leicht und sah aus verständigen Augen auf ihn herab. Dann, nach einem hellen Zirpen, glitt er in den Himmel.
"Warte!", rief Miska. Er streckte die Hand aus, machte einen Schritt, doch nun brachen die Schatten über ihm zusammen wie finstere Wellen. Er hob den Fuß für den zweiten Schritt und spürte, wie er fiel.
Den Aufschlag bekam er schon nicht mehr mit.
⁂
So fanden ihn am nächsten Morgen die Bewohner des kleinen Dörfchens. Es waren Tiermenschen, Dapai-Dapaika, die in einfachen, ringförmig angeordneten Bambushütten wohnten. In ihrer Mitte, nahe der erkalteten Feuerstelle, lag ein Fremder. Kalt war er, groß und regungslos, doch er atmete noch. Irgendwie musste er seinen Weg aus der kalten Höhe Akijamas herunter gefunden haben.
Die besorgten Affenmenschen gaben ihm zu Essen und zu Trinken. Sie wärmten ihn am Feuer und der Fremde dankte es ihnen, als er wieder zu Kräften kam, indem er ihnen seine Kleidung aus Bergziegenwolle schenkte.
Sie fragten zwar, woher er kam, doch die Tiermenschen erhielten nie eine Antwort. Nur einmal erzählte er, mit geschlossenen Augen, vielleicht im Schlaf, von einem Feuerfuchs. Doch dieses Fabelwesen, der brennende Rote Panda, war nicht mehr als eine Legende und so hielten sie es für einen Traum.
Schließlich zog der Fremde weiter und nahm seine Geheimnisse mit sich. Die Affenmenschen ließen ihn gehen, doch sie wunderten sich, dass er seine Schritte nicht nach Süden wandte, nicht zu dem mächtigen Gebirge von Gai-Shitori, in dem Akijama lag, sondern dem Ufer des Meeres zu.
Sie würden den Fremden nie wiedersehen, doch eines Tages würde die Welt von seinen Taten hören; großen Taten, Heldentaten gar, doch kaum jemand würde wissen, wie er sich vor Jahren das Recht zu diesem Leben erkämpft hatte.
Doch es schien, dass der Feuerfuchs es gewusst hatte, und mit seinem sanften Licht hatte er den verlorenen Sohn zurück auf den Pfad gebracht, der ihn zu Größe führen würde.