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Nach dem Prompt „Blutkröte [Tierische Geschichten mit Herzblut]“ der Gruppe „Crikey!“
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Es gab eine Geschichte, die seine Geliebte gerne hörte. Darin stieg ein junger Mann auf einen Berg, um seiner Verlobten eine besondere Rose zu bringen, als Beweis seiner Liebe. Die Idee hatte das junge Paar in der Geschichte wiederum aus einem Märchen, das auf einer alten, fernen Tradition beruhte. Tui könnte ihm die genauen Wege der Überlieferung aufzeigen, schließlich war sie die Literaturwissenschaftlerin. Oft hatte sie Praya etwas erzählt, doch er war meist zu abgelenkt von dem Glanz in ihren Augen, um sich auf die Worte zu konzentrieren. Alles, was er wusste, war, dass das Märchen in Celyvar erzählt wurde. Die Geschichte, die Tui so liebte, war jedoch in Euwren erzählt worden. Und die Ursprünge, die Tradition, entstammte womöglich der Insel Skythai.
Ja, die Reise dieser Worte war eine eigene Geschichte wert und die Hälfte des Grundes, warum Tui sie liebte. Ein Beweis, dass die verschiedensten Kulturen über eine Erzählung verbunden werden konnten.
Die Geschichte aus Euwren nun erzählte von dem Jungen, der seiner Liebsten eine Blume schenken wollte. Er stieg einen Berg hinauf, oder eher eine der schroffen, euwrenischen Klippen am Meer. Der Aufstieg dauerte lange, und mit jeder Rast, die der junge Verehrer einlegte, stiegen in ihm Erinnerungen an die Geliebte auf. Zuerst waren es schöne Episoden, doch nach und nach merkte der Leser, dass die Beziehung einseitig war. Selbst durch die rosarot eingefärbte Brille, die der Hauptcharakter zu tragen schien, sah man das hässliche wahre Gesicht seiner Verlobten aufblitzen, die ihm seine Träume stahl, ihn herumbefehligte, keine Rücksicht auf ihn kannte.
Am Ende stürzte der unglückliche Held ab. Es war schließlich ein euwrenisches Märchen! Seine Liebe war nicht stark genug, um ihn zur Blume zu tragen. Im Sturz erkannte er wohl die Fehler seiner Wege. Zu spät.
Es war eine Geschichte um die Gefahren der Verliebtheit, eine Warnung, das eigene Leben nicht für die falschen Leute fortzuwerfen. Praya ahnte, warum Tui die Geschichte so mochte: Ihre Krankheit fesselte sie an ihr Dorf tief im Dschungel. Praya hatte ihretwegen viel aufgegeben, statt in die Welt hinauszuziehen. Tui fürchtete wohl, dass sie ihn ebenso zurückhielt wie die Frau in der Geschichte.
Doch sie hatte Praya immer ermutigt. Ihretwegen hatte er vor der eigenen Haustür das gefunden, was er in der Ferne hatte suchen wollen. Ursprünglich hätte er vaimadische Inselfrösche untersuchen wollen, doch gab es in Dhubayaana mehr als genug faszinierende Kröten und Frösche.
Eines davon war die Blutkröte. Ein hübsches Tier, auch wenn seine Zeichnung stets etwas unheimlich wirkte. Es sah wirklich aus, als würden die Tiere bluten, weshalb sie auch als Diener Torobaris galten. Als böses Omen! Tui jedoch, deren Leben von einer schweren Krankheit gezeichnet war, hatte eine andere Einstellung zum Gott des Todes als die meisten. Sie sah seine Gnade, seine Sanftheit. Sie fürchtete Torobari nicht.
Deswegen würde sie sein Geschenk verstehen.
Die Blutkröten lebten im Gebirge, das zu Gai-Shitori hinaufführte. Hoch oben in zuwegslosen Hängen und Höhlen, wo selbst die Bäume des schier unendlich lebendigen Dschungels aufgeben mussten.
Praya war hinaufgestiegen. Er hatte einen dieser wundersamen Frösche gefunden, die so hoch oben lebten wie sonst nur besondere Märchenrosen. Das Tier, das sich längst an die Wärme seiner Handfläche gewöhnt hatte, würde der Beweis sein, dass ihre Liebe keine Täuschung war, keine Illusion. Die Blutkröte zu fangen war wie eine Feuerprobe gewesen. Zwar hatte Praya keine Zweifel haben wollen, doch er spürte dennoch eine gewisse Erleichterung, fühlte sich bestätigt.
Tui war ihm mehr wert als alle Reisen in die Ferne. Es hatte keine Zweifel gegeben, dass er diesen Traum für sie aufgeben würde. Nun konnte er ihr beweisen, dass sie keine Last für ihn war.
Denn nur mit der Macht wahrer Liebe ließ sich eine solche Tat vollbringen.