Rating: P12
Nach dem Prompt „Grünspecht/Maskenball“ der Gruppe „Crikey!“
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Nachdenklich betrachtete Damasco den grünen Vogel auf der Wiese. Der Specht war im Gras kaum zu erkennen, selbst mit dem dunklen Kopf nicht. Das Rot ließe sich auf einen flüchtigen Blick mit Laub verwechseln, von dem einiges auf den weitläufigen Rasenflächen des Schlossparks lag. Die grünen Wiesen wirkten zunächst einmal verlassen, doch wenn man sich die Muße nahm, hinzusehen, konnte man viele der grünen Vögel im Licht der Abenddämmerung sehen. Auf den Wiesen um die Teiche, im Schatten der alten Kastanien und Eichen, im Geäst einiger hohler Tannen.
Als Wappentier des Hauses Armon waren die Grünspechte gern gesehene Gäste und mehrere Pärchen brüteten in der Schlossparkanlage.
Heute hatte Damasco jedoch wenig Zeit, um die Wappentiere seines Dienstherrn zu bewundern. Der junge Wächter atmete tief durch und straffte sich. Ein letztes Mal überprüfte er, dass seine Uniform saß - heute musste alles makellos sein. Dann setzte er seine Maske auf, die schlicht schwarz war, wie die Masken aller Diener. Er durchschritt die großen Flügeltüren und kehrte in den Ballsaal zurück.
⁂
Die Stunde war spät, aber der Raum füllte sich zusehends. Johanna, die zur Linken hinter dem Thron des Fürsten Armon stand, betrachtete die vielen Gäste aufmerksam.
Die rothaarige Zauberin tat desinteressiert, doch wer sie kannte, würde auch ihre Nervosität bemerken. Immer wieder strich sie durch das Gefieder des Grünspechts auf ihrer Schulter. Der Vogel spürte ihre Anspannung und bewegte sich unruhig, gab leise, schnarrende Töne von sich. Johannas Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie ließ den Blick über die maskierte Menge gleiten, als einer der Diener das vereinbarte Zeichen gab: Er ließ einen Silberlöffel fallen.
Das Klirren weckte die Aufmerksamkeit aller Gäste. Ohne direkt hinzusehen, behielt Johanna jedoch die Tür im Auge. Dort war soeben eine rotgekleidete Dame hereingekommen. Sie trug eine aufwendig verzierte Maske, die den größten Teil des Gesichtes verdeckte, und einen großen, ausladenden Hut. Johanna bemerkte ein Blinken an ihrem Ohr. Man könnte es für einen Ohrring halten, doch sie wusste, dass es in Wahrheit ein goldener Schlüssel war.
Die Verräter waren eingetroffen.
⁂
Ernesto bemerkte den Schlüssel am Ohr der Dame ebenfalls und schnäuzte sich dreimal in sein Taschentuch. Der Blick der Rotgekleideten streifte ihn. Sie hatte ihn also bemerkt. Nun mussten sie sich ins Getümmel stürzen und auf den richtigen Moment für die Übergabe warten. Ernesto fasste den Fächer fester, den er hinter dem Rücken hielt und in dessen Falten das versprochene Silber eingenäht war. Jedenfalls sollte die Dame das glauben - in Wahrheit waren es Fälschungen aus Nickel, doch bis sie das merkte, wäre er mit dem Schlüssel längst über alle Berge.
Er trat ans Buffet und legte dem jungen Burschen eine Hand auf die Schulter. Der Küchenjunge des Hauses nickte und eilte los.
Ernesto nahm sich ein Häppchen und genehmigte sich ein glückliches Lächeln. Dreist nickte er der rothaarigen Magierin seines Gastgebers zu, die in ihrem grünen Kleid neben dem Thron stand. Keiner von ihnen ahnte, dass die Schatzkammer von Armon bald um ein besonderes Schmuckstück ärmer wäre.
⁂
Caspi, der Küchenjunge, war ein Luchsmensch mit scharfen Ohren und leisen Füßen. So konnte er den Tanzball unbeachtet verlassen und unbeobachtet bis zur Schatzkammer vordringen.
Mit dem Geld, das ihm der blaue Baron überlassen hatte, hatte er einen der Schatzmeister bestochen. Als er nun die Türen ausprobierte, öffneten sie sich tatsächlich problemlos. Er atmete auf und schlüpfte hinein.
Auf einem Podest stand nun sein Ziel: Der goldene Specht, eine größere, fein gearbeitete Figur. Caspi nahm sie in beide Hände und versteckte sie unter seiner ausgebeulten Schütze. Wie befohlen legte er die Elsterfeder an den Platz, den das Erbstück des Hauses einst eingenommen hatte, und verließ die Schatzkammer ebenso flink und leise, wie er gekommen war.
⁂
"Darf ich um diesen Tanz bitten?"
Iginia sah auf und hätte sich beinahe versprochen. Ein "Endlich!" lag ihr auf den Lippen, als sie den blaugekleideten Maskenträger erblickte, dessen dunkle, mit Federn besetzte Maske weiße Akzente aufwies.
Stattdessen lächelte sie und reichte dem Mann ihre Hand. "Gerne."
Er zog sie auf die Tanzfläche. Sie strich unauffällig über den Schlüssel an ihrem Ohr und ihr Gegenüber nickte verstehend. Er ließ ihre Hand kurz los. Als er sie wieder ergriff, fühlte sie den harten Stiel eines Fächers.
Sie lächelte, als sie das Gewicht des Kleinods bemerkte. Der blaue Baron stand zu seinem Wort! Sie ergriff den Fächer unauffällig und löste dann mit einer wie unbewusst wirkenden Streichbewegung den Schlüssel. Der Baron fing diesen auf, als sie umeinander wirbelten. Dann trennten sie sich, nahmen jeweils einen neuen Partner, und setzten den Tanz fort, als wäre nichts gewesen.
⁂
Der Baron huschte wenig später durch eine der Türen, was Iginia zum Anlass nahm, sich ihrerseits zu ihrer Kutsche zu begeben. Dort wartete der junge Luchsmensch bereits, der in der Küche hier arbeitete. Er hielt ihr ihren Mantel hin, und als sie hineinschlüpfte, spürte sie das Gewicht des goldenen Spechts.
"Danke", sagte sie freundlich, ehe sie in die Kutsche stieg, ein siegessicheres Lächeln auf den Lippen. Ernesto, der blaue Baron, hatte geglaubt, heute den Schlüssel und den goldenen Specht zu erhalten, doch er hatte nur den Schlüssel, der ohne den Specht nutzlos war. Iginia dagegen brauchte den Schlüssel nicht. Die hohle Spechtfigur ließe sich auch anders zertrümmern, um den Schatz im Inneren freizulegen.
"Fahrt los!", wies sie ihren Kutscher an und zog grinsend die kleine Figur heraus.
⁂
"Ich hab ihn." Atemlos kam der junge Damasco zu ihr und nahm Haltung an.
Johanna lächelte erleichtert und übergab dem jungen Wächter ihren Specht. Damasco, der sich in Windeseile ein zweites Mal umgezogen hatte und nun wieder die Palastuniform statt den blauen Anzug des Barons Ernesto trug, band den Schlüssel von Iginia um das Bein des Vogels, während er ihm einige Körner gab, um die Übergabe zu tarnen.
"Holt den goldenen Specht her", verlangte Johanna drängend. "Wir sollten keine Zeit mehr verlieren."
Damasco nickte ernst und eilte erneut los.
⁂
Ernesto runzelte die Stirn, als er aus dem Fenster sah. Wieso fuhr Lady Iginia schon wieder? Sie hatte den Schlüssel noch gar nicht übergeben. Und auch der Küchenjunge mit der Figur war nicht wieder aufgetaucht.
Eisige Wut kribbelte in seinem Inneren, als dem blauen Baron klar wurde, dass man ihn betrogen hatte.
Er stürmte aus dem Garten, wo er auf die Dame mit dem Schlüssel gewartet hatte, und holte sein Pferd aus dem Stall. Mit wütenden Rufen jagte er es der flüchtigen Kutsche nach.
⁂
In der Kutsche beugte sich Iginia mit einem Meißel über die kleine Spechtfigur. Mit einer schnellen Bewegung stieß sie zu und die Figur brach auf. Das Innere, normalerweise durch eine verborgene, verschlossene Tür in der Brust des Vogels zugänglich, lag nun durch den Hals offen.
Ungeduldig sah Iginia hinein und ... stutzte.
"Wo ist es?" Sie drehte den Vogel um und schüttelte. "Wo ist die Urkunde des Königs?"
Statt dem erwarteten Dokument fielen ihr nur einige Körner in die Hand. Spechtfutter.
"Eine Attrappe!" Sie fluchte, dann brüllte sie zum Kutscher: "Fahrt schneller!"
⁂
Völlig außer Atem kam Damasco im obersten Turm an.
"Berater Merrigold? Wir haben den Schlüssel." Er stürmte durch die Tür. "Bringt den goldenen Specht hinunter, dann können wir ihn ..."
Damasco sah sich um. Das Turmzimmer war verlassen.
"Berater Merrigold?" Kälte stieg in Damasco auf, als er das umgeworfene Tintenfass, die verstreuten Papiere, die gebrochenen Schreibfedern sah.
Der Berater war entführt worden!
⁂
Auf der Landstraße warf sich ein alter Mann erschrocken in den Graben, als eine Kutsche in höchster Geschwindigkeit vorbeijagte. Der Alte hob den Kopf aus dem Gras und streifte die Kapuze etwas zurück, um nachzusehen, ob er erkannt worden war, doch offenbar hatte ihn der Kutscher nicht einmal gesehen.
Aufseufzend drehte Jacomo Merrigold den Kopf zur Wiese. Darauf pickte ein grüner Specht sorglos nach Ameisen - nur wenig größer als die vergoldete Figur in der Tasche des Alten ...