Rating: P12 [CN: Sturm, Zerstörung]
Nach dem Prompt „Mauersegler/tierischer Hoffnungsschimmer“ der Gruppe „Crikey!“
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Es heulte und wütete draußen. Der Regen prasselte in einer Wut herab, als wolle er die Erde zu Tode prügeln. Krachen und Bersten hallten mit dem Donner um die Wette.
Zusammengekauert auf ihrem Bett versuchte Nifa, ihren tobenden Herzschlag zu beruhigen. Sie schloss die Augen. Eine Geschichte fiel ihr wieder ein, die ihr eine Amme einmal erzählt hatte.
Es gibt einen Vogel, der ist geboren, um zu fliegen ...
⁂
Nach einer Nacht voller Getöse war Nifa früh wach. Sie trat auf die Veranda des Holzhauses, das sie für die Zeit ihrer Strafe bewohnte, und erblickte noch Schlimmeres, als sie sich in ihren Albträumen während des wenigen Schlafs, den sie ergattert hatte, ausgemalt hatte.
Der Wald war fort. Vor ihr lagen, vom Sturm entwurzelt, die mächtigen Bäume verstreut wie Streichhölzer, deren Verpackung man zu hastig geöffnet hatte.
Es schien nicht real zu sein. Die Pfade waren fort, die Lichtungen unter gestürzten Kronen begraben. Nur noch wenige Stämme standen. Instinktiv suchte Nifa die doppelstämmige Eiche, auf der sie so gerne gesessen und gelesen hatte, und die 'Familie', die Gruppe aus drei Tannen, welche alle wie Frauen aussahen, zwei Mütter mit einer Tochter.
Die Entfernung und Richtung ließ sich schwer schätzen, denn der Wald war nun fort, doch sie konnte die vertrauten Bäume nicht erkennen.
Waren auch sie dem Sturm zum Opfer gefallen? Fassungslos setzte sich Nifa auf die Bank vor dem Haus. Das Vogelhäuschen hatte es weggeweht, aber immerhin hatten die stürzenden Stämme die Hütten des Holzfällerlagers nicht erreicht. Ihre Beine trugen sie nicht länger, und so saß sie einfach da und sah mit tränenverschwommenem Blick auf die Zerstörung.
⁂
Schließlich kamen auch die Männer heraus. Die Holzfäller vergewisserten sich, dass niemand fehlte.
"Bist du verletzt?" Arne trat zu ihr.
Nifa lächelte tapfer. "Nein. Was tun wir jetzt?"
Zu ihrem Erstaunen wusste auch Arne keine Antwort. "Die Straßen sind dicht. Wir können keine Hilfe anfordern. Irgendwie müssen wir uns durchhacken, bevor ..." Er zögerte.
"Bevor was? Denk daran, ich bin keine Prinzessin, die man verhätscheln muss!"
Der große Schrank von einem Mann seufzte. "Bevor uns die Vorräte ausgehen. Anderthalb Wochen halten wir durch, doch es wird vielleicht eng. Vielleicht solltest du einfach versuchen, zu Fuß durchzukommen und zu deiner Familie zurückzukehren."
"Niemals!" Sie schüttelte vehement den Kopf.
"Kleines ... dieser Hof ist zerstört. Selbst wenn noch rechtzeitig Rettung kommt, dieses Holz werden wir niemals verarbeiten können, bevor es unbrauchbar ist. Wir müssen es verschleudern, dann wird außerdem kein neues nachwachsen. Das ... ist das Ende."
Sie schluckte schwer. So sehr sie auch um die geliebten Bäume trauerte, ihr wurde bewusst, dass es für die Arbeiter eine noch viel größere Katastrophe war. Der Jahrhundertsturm hatte ausgerechnet die Segalegno treffen müssen. Für Nifa bedeutete es, aus einem Traum aufzuwachen.
Sie sah, wie die Männer Äxte ergriffen und loszogen, um einen Weg freizuschlagen. Nifa blickte nicht zu Arne. "Ich hole mal mein Beil."
⁂
Sie hatte bereits ein paar Stunden gearbeitet, ein Stück abseits der Holzfäller. Während die Männer die riesigen Stämme spalteten, half Nifa, das Holz kleiner zu hacken, sodass man es an die Seite schaffen konnte. Manche der Äste waren zu groß und dick, um sie am Stück zu bewegen.
Sie holte zum zigsten Mal aus, schweißüberströmt, mit vor Hoffnungslosigkeit brennenden Armen, als ihr ein Haufen aus Zweigen auffiel, der zwischen den Ästen herausstach.
Nifa ließ das Beil sinken und ging in die Hocke. Vorsichtig rollte sie den schweren Stamm ein Stück zur Seite. Es war ein Vogelnest, das beim Sturm mit dem Baum gefallen war.
Sie schrie erschrocken auf, als sich etwas bewegte. Ein Vogel war noch im Nest gewesen, jetzt flatterte er panisch.
"Tut mir leid", flüsterte sie. Vorsichtig legte sie die Hände unter das Nest und versuchte, den Vogel zu fassen.
"Nifa!" Arne war einer der ersten, die nach ihrem Schrei zu ihr geeilt kamen. Die Männer umringten sie besorgt.
An ihrer Brust hielt sie, zwischen beiden Händen, ein kleines Bündel aus dunklen Federn. Vorsichtig streckte sie die Arme und hörte, wie die Männer die Luft einsogen, als sie den Vogel erkannten.
"Er hat überlebt", sagte sie mit einer Stimme, die jetzt zitterte. Nach der langen Nacht und dem schrecklichen Morgen war sie so fertig, dass sie schon wieder fast weinte. Sie konnte nichts anderes sagen, nicht einmal einen klaren Gedanken fassen, sie wusste nur, dass sie nicht noch mehr Unglück aushalten würde.
Arne beugte sich herab und hob sie auf seine starken Arme. Sie wehrte sich nicht einmal.
"Komm. Holen wir dem Vögelchen etwas Wasser."
⁂
Der kleine Vogel schien nach dem ersten Schrecken keine Furcht vor den großen Menschen zu haben. Vielleicht überzeugte ihn auch der Durst. Nifa hatte ihm einen kleinen Teller gefüllt und sah zu, wie das Tierchen trank. Dabei versuchte sie, ihm einen Regenwurm anzubieten, den sie im Erdreich entdeckt hatte. Doch der Vogel hüpfte immer wieder vor dem Wurm weg, den sie auf einem kleinen Stöckchen hielt.
Sein ungeschicktes Flattern machte deutlich, dass er noch nicht oder nicht mehr fliegen konnte. Er schien äußerlich unverletzt zu sein, also war es vielleicht ein Jungvogel, der nicht mit seinen Eltern und Geschwistern hatte fliehen können. Nifa hatte festgestellt, dass der Vogel unter dem dichten Federkleid viel zu mager war.
Arne stand neben ihr, hatte die Unterarme auf den Tisch aufgestützt und betrachtete den Vogel ebenso ratlos. "Vielleicht ist er ja doch verletzt."
"Ich habe ihn schon zweimal untersucht", murmelte Nifa. Während des Tages hatte sie ihm genug Ruhe gegönnt, doch nun, mit dem Abend, wollte sie ihn endlich füttern. Leider weigerte sich das Tier weiterhin. Sie hatte so vieles versucht ...
Heute ging auch alles schief. Wie die Forstarbeiter festgestellt hatten, würde es noch länger als vermutet dauern, den Weg freizuräumen. Sie saßen im Holzfällerlager fest, auf unbestimmte Zeit. Arne hatte sie erneut gedrängt, morgen heimzukehren. Zu Fuß käme sie durch den Schutt des Sturms.
Sie konnte ihm nichts mehr entgegensetzen. Diese starken Männer würden nicht zulassen, dass sie bei ihnen blieb und womöglich verhungerte. Nach den anfänglichen Schwierigkeiten hatten die Holzfäller sie ins Herz geschlossen. Nifa wünschte sich nur, sie könnte mehr tun: Für die Holzfäller und für den kleinen, grauen Vogel.
Sie hatten den gesamten Tag gearbeitet. Sie fühlte sich zerschlagen, selbst den kräftigeren Holzfällern ging es so. Sie hatten gearbeitet wie nie zuvor, doch der Zerstörung konnten sie unmöglich Herr werden. Inzwischen wäre es am Besten, wenn Nifa einfach im nächsten Dorf um Hilfe bat, damit die Männer wenigstens Vorräte erhalten würden.
Der Hof würde bankrott gehen. Nifa würde heimkehren müssen. Ihr Traum vom Leben im Wald war nicht mehr als das: Ein Traum. Sie musste erwachen.
⁂
Der Abschied war schwer. Sie nahm ihr Beil mit, das längst erprobt war, und versprach, Hilfe zu schicken. Doch bis der Wald wieder aufgebaut war, würde es Jahre dauern.
In Nifas Kapuze kauerte der kleine Vogel. Er hatte noch immer nichts gegessen und heute sogar das Wasser verweigert. Vielleicht könnte sie irgendwo einen Heiler finden, der sich mit Tieren auskannte. Vielleicht könnte sie wenigstens ihn retten.
Der kleine Vogel war der Grund, warum Nifa nun früh am Tag aufbrach. Die Zeit drängte für ihn.
Sie winkte den Holzfällern ein letztes Mal und marschierte in das Feld aus umgestürzten Bäumen.
"Weißt du, Kleiner, du erinnerst mich an etwas", sagte sie zu dem Vogel, um sich von ihrer Traurigkeit abzulenken. "Eine meiner Lieblingsgeschichten, die mich immer fasziniert hat ..." Sie ging ein Stück langsamer, denn nun begann das dichte Unterholz umgestürzter Bäume. "Es ist lange her, ich weiß nicht, ob ich mich erinnere ... es fing an mit ..."
Es war, gestand sie sich ein, vielleicht mehr ein Gedicht als eine Geschichte. Aber sie hatte sie und die Amme, die sie ihr erzählt hatte, am liebsten gehabt.
"Es gibt einen Vogel, der ist geboren, um zu fliegen.
Der Wind ruft ihn heim zu den Wolken hoch oben.
Seine Flügel wollen sich auf unsichtbaren Meeren wiegen,
seine Federn sind aus Freiheit gewoben ..."
Nach und nach erinnerte sie sich an die Worte und für eine Weile war sie sogar abgelenkt. Sie glaubte, die Stimme ihrer Lieblingsamme wieder zu hören.
So brauchte sie eine Weile, um zu merken, dass sie wirklich Stimmen hörte. Es war erst, als sie auf den Namen des Vogels kam.
"Genau, mein Kleiner! Du bist ein Mauersegler. Ach, ich war zu lange fort von meinen Büchern. Dass ich das nicht sofort erkannt habe!" Nifa hielt inne. Was waren das für Geräusche im Wald?
Der Vogel war während der Erzählung begierig nach vorne auf ihren Ärmel geklettert und schlug wieder mit den Schwingen. Nifa ließ sich davon ablenken und lächelte.
Ein Mauersegler-Küken. Natürlich. Diese Vögel verweigerten die Nahrung, wenn es Zeit für sie wurde, zum ersten Mal zu fliegen. Gelang ihnen der Flug nicht, würden sie verhungern, doch vielleicht ...
Sie hob den Arm schwungvoll und der Vogel hob ab. Nifa lachte auf, als der Segler die Flügel aufspannte und segelte, ins Schwanken geriet und in einen der umgestürzten Bäume fiel.
"Vorsichtig, Kleiner!" Sie lief zu der Stelle, wo ihr der Vogel erstaunlich rasch entgegen kam und an ihrem Bein hinaufkletterte. Erleichtert nahm Nifa ihn in die Hände. "Das war super für den ersten Flug!" Er würde es schaffen. Diese Erkenntnis nahm ihr einen so großen Stein vom Herzen, dass sie glaubte, selbst gleich abzuheben.
Dann hob sie den Blick und registrierte, dass sie nicht allein war. Inmitten der Zerstörung aus umgekippten Bäumen vor ihr sah sie Elfen, Menschen und Zwerge, die sich mit Äxten über die Straße kämpften. Es waren dutzende, vielleicht hunderte. Sie mussten aus dem nahen Dorf kommen. Esel zerrten in Gespannen die größeren Bäume zur Seite. Schwere Äste wurden zersägt, andere an die Seite geworfen. Es gab sogar Kinder, die die letzten Blätter vom Pfad fegten. Manche Karren waren mit Holz beladen, andere mit Mehlsäcken, Wasserfässern und Kisten, deren Inhalt sie nur erraten konnte.
Und alle kamen zum Lager.
Als man Nifa erblickte, winkten die Helfer. Die junge Elfe hätte sehr wohl einen zweiten Sturm gebrauchen können, um sie zu entwurzeln, denn sie stand nur da und starrte die vielen Leute mit offenem Mund an. Erst als der Mauersegler in ihren Händen zappelte und auffordernd piepste, konnte sie sich aus der Starre lösen und zu den Helfern eilen, um dann bei den Holzfällern Bescheid zu geben.
Der Mauersegler folgte ihr mit immer längeren Flügen, schwang sich höher und höher hinauf und zwitscherte sein erstes Lied des Windes.