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Nach dem Prompt „Große Königslibelle / Tierisches Weinfest“ der Gruppe „Crikey!“
Zusätzliche Inspiration: Pride Month!
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Das Weinfest von Salermo war in vollem Gange. Lichterketten schmückten die Hänge rings um die Stadt, erleuchteten die Sitzbänke bis hinunter zu den Ufern des Livellior, auf dessen Wassern einige Boote unterwegs waren, auf denen junge, adelige Pärchen traute, gesittete Zweisamkeit genossen. Unter weißen Zeltdächern oder im Schein der sinkenden Sonne saß und stand das Volk beisammen, in Grüppchen getrennt danach, wie vermögend sie waren.
Flaviana Nerait-Corviori saß am Tisch mit den teuersten Speisen, am Kopfende, nur überragt von ihren Eltern, und langweilte sich zu Tode. Anderswo lachte der Pöbel lauthals, spielte Trinkspiele, tanzte. Hier oben blieb ihr nur, die jungen Elfen gegeneinander auszustechen, die Söhne anderer Häuser, die sich Hoffnungen auf ihre Hand machten.
Sie hasste es. Sie hatte kein Interesse daran, bald zu heiraten, sie wollte keinen der jungen Männer näher kennenlernen und vor den ehelichen Pflichten grauste es ihr erst recht. Umso mehr, da alle so einen gewaltigen Wirbel darum machten.
Sie hasste die Rolle als Thronfolgerin, die sie als Erstgeborene innehatte. Bis ihre Eltern sich überwinden könnten, ihr jüngere Geschwister zu gönnen, würde sie im Zentrum der Aufmerksamkeit bleiben. Alle erwarteten, dass sie sich einen Partner suchte.
Viel lieber wäre sie jetzt irgendwo weiter unten und würde sich ordentlich amüsieren. Immer wieder war ihr gesagt worden, dass ihr Reichtum ein Privileg sei, aber oft kam ihr dieser wie ein Käfig vor. Die ärmere Bevölkerung schien so viel glücklicher zu sein!
Ihr Ärger wurde etwas gemindert, als sie Esterina Passa-Domo entdeckte, eine Sternelfe aus einem niederen Adelshaus. Die Passa-Domo hatten das Fest hier zu einem großen Teil organisiert. Ihre Tochter mit dem blonden Haar und der blauen Haut war jedoch bisher nicht aufgetaucht.
Flaviana erhob sich mit einer gemurmelten Entschuldigung zu dem jungen Mann, der schon die ganze Zeit auf sie einredete - Giorgio Passa-Matta, der versuchte, sie mit seinem Gerede von Schmetterlingsarten zu beeindrucken - und ging zu Esterina herüber.
Das Lächeln der jungen Elfe ließ Flavianas Ärger verrauchen. Sie mochte Esterina. Ein Gespräch mit ihr könnte den ganzen Abend retten.
⁂
"Luigia! Komm her, der Tanz beginnt! Luigia?"
Die junge Zwergin drückte sich tiefer in das Heu und versuchte, ihr dunkelrotes Haar zu tarnen.
Dabei wären ihre Eltern vermutlich froh, ihre Tochter ausnahmsweise im Stroh des alten Schobers vorzufinden. Wütend würden sie erst werden, wenn ihnen klarwurde, dass Luigia allein war.
Sie war immerhin schon zwölf - für einen schnelllebigen Zwerg also weit über der Volljährigkeit - und immer noch nicht vergeben. Jetzt versuchten es ihre Eltern erneut mit einem der völkischen Tänze, in der Hoffnung, dass Luigia einen netten Zwerg oder eine nette Zwergin kennenlernte. Die Tänze, recht simpel, mit häufig wechselnden Partnern, waren ihr zuwider.
Sie zog den Kopf noch etwas tiefer zwischen die Schultern, als ein Schatten an der Öffnung des Tors vorbeiglitt. Stroh kitzelte ihre Seite und ihren Nacken. Die Person spähte herein, ging aber nach einem flüchtigen Blick weiter.
"Luigia?"
Es war ihr Vater. Luigia schloss einen Moment die Augen. Sie wollte sich ja nicht vor ihm verstecken. Eigentlich mochte sie den alten Zwerg. Aber er und ihre Mutter - sowie ihre Tanten, Onkel und Großeltern - verstanden einfach nicht, dass sie ohne einen Partner glücklich war.
Das war das Schlimmste. Ihre Familie meinte es nur gut, aber alles, was sie taten, machte Luigia nur unglücklicher.
Sie wartete, bis die Schritte verklungen waren, dann huschte sie zum Hinterausgang des Schobers und dahinter in die nächtlichen Weinberge. Sie rannte bergauf, ohne zu wissen, was eigentlich ihr Ziel war, und versuchte nur, den Lichtern und den lachenden Stimmen auszuweichen.
⁂
Tränen machten es Basilo schwierig, etwas zu erkennen. Es war längst zu dunkel, um noch zu fliegen. Wie seine Libelle - die treue Leda war eine große, blaue Königslibelle - noch etwas erkennen konnte, wusste der junge Feenmann nicht.
Es war dumm gewesen, einfach loszufliegen. Außerhalb ihres Wohnbaumes war es gefährlich. Feen, die sich zu weit in die große Welt hinauswagten, wurden von Vögeln gerissen oder fielen Katzen zum Opfer. Jetzt, in der Nacht, musste er fürchten, dass die Fledermäuse auf Leda aufmerksam wurden und angriffen.
Er versuchte, die Tränen wegzublinzeln. Leda hielt auf eine Ansammlung Lichter zu. Vielleicht verwechselte sie diese mit Sternen, die sich auf einem Teich spiegelten. Doch sie befanden sich viel zu weit über dem Wasser und die Laternen waren größer und bunter als die Sterne. Die Riesen hatten sich dort versammelt.
"Leda! Leda, nein!" Basilo riss an den Stricken aus Grasfasern. Doch bei seinem kopflosen Aufbruch hatte er die Libelle nicht ordentlich gesattelt, und so gehorchte Leda nicht. Sie schwirrte auf eine große, längliche, rechteckige Fläche zu, auf der viele der Riesendinge verteilt standen, die Basilo nicht kannte. Seine Libelle landete mitten zwischen durchscheinenden Gefäßen, höher als er, in denen rote Flüssigkeit schwamm. Kerzen strömten eine überwältigende Hitze aus, es roch nach etwas Scharfem, nach Feuer, nach Fleisch ...
Er fuhr zusammen, als einer der Riesen einen lauten Schrei ausstieß. Eine Hand, ebenso groß wie Basilo, deutete auf Leda.
Die Giganten hatten ihn entdeckt!
⁂
"Seht euch die an!", brüllte Giorgio Passa-Matta und unterbrach damit das Gespräch zwischen Flaviana und seiner hübschen, entfernten Verwandten Esterina. Der junge Adelige war aufgesprungen und deutete auf eine tiefblaue, erstaunlich große Libelle, die auf dem Tisch saß.
"Eine Anax imperator! Die brauche ich für meine Sammlung - los, helft mir!"
"Ich sollte wohl gehen", murmelte Esterina, als die Lichter nun erhellt wurden. Die Adeligen wollten besser sehen und Esterina wurde die Situation augenblicklich unangenehm. Sie strich sich eine Strähne hinter ihr langes Ohr und wich zurück, während nun ringsum alles aufsprang, um einen Blick auf die Libelle zu erhaschen. "Hat mich gefreut, Flaviana ... Wiedersehen."
Während Esterina die Flucht ergriff, drehte sich Flaviana langsam um. Wieso musste Giorgio bloß alles zerstören? Sie hatte gerade geglaubt, dieses Fest doch genießen zu können!
Auf der Stelle beschloss sie, Giorgio zur Rache seine Jagd zu vermasseln. Er rannte inzwischen quer über den Tisch, auf der Jagd nach der blauen Libelle. Diese floh in wirrem Zickzack über die Köpfe der Zuschauer. Flaviana hielt die Arme steif an der Seite und drehte nur das Handgelenk. Das reichte nicht für eine großartige elementare Manipulation, aber sie war eine starke Magierin und sie hatte viel trainiert. Außerdem wollte sie keine große Welle erschaffen. Sie nutzte ihre Wassermagie nur, um etwas Wein aus den Gläsern schwappen zu lassen, als Giorgio an diesen vorbeilief. Der junge Adelige trat direkt in die Pfütze. Seine Sohle schlitterte mit einem hörbaren Quietschen zur Seite und er rutschte aus, sein Bein glitt vom Tisch, er stürzte in einen Spagat und schlug sich die Nase auf.
Flaviana schlug die Hände vor den Mund, als sie Blut hervorschießen sah. Das hatte sie wiederum nicht beabsichtigt!
"Flaviana!", donnerte ihr Vater auch bereits. Sein strenger Blick machte deutlich, dass er den Zauber trotz ihrer Bemühungen um Heimlichkeit bemerkt hatte. Mit schnellen Schritten kam er herüber. "Du wirst dich jetzt entschuldigen und ihn heilen!" Der großgewachsene Elf stockte kurz. "Wenn du unter zwei Augen mit ihm sein willst, kannst du doch eine Bootsfahrt vorschlagen, du musst ihn nicht gleich verletzen."
"Vater!" Entsetzt riss sie sich los. Sein Griff war zwar stark, aber da sie Kampfkunst hatte lernen dürfen, kannte sie die richtige Technik. "Ich ... ich muss gehen!" Sie drehte sich um und schlug sich, so wie Esterina zuvor, in den dunklen Weinberg.
"Flaviana! Warte! ... Wachen!"
Sie rannte los. Das Letzte, was sie brauchte, war, von ihrer Leibgarde zurückgezerrt zu werden. Während sie lief, spürte sie Tränen auf den Wangen. Eben hatte sie noch mit Esterina gescherzt. Wie hatte alles so schnell so sehr verderben können? Und das alles nur wegen einer dummen Libelle. Sie hatte nicht einmal gesehen, ob diese entkommen war.
⁂
Basilo und Leda jedoch waren entkommen. Er hatte die Magie gespürt, ein Kribbeln in der Luft, und auch, von wem diese ausgegangen war. Er verstand nicht, was die Magierin bezweckt hatte, aber sie hatte nicht versucht, Leda zu fangen oder zu töten. Also hatte er die Libelle dorthin gelenkt und konnte am Rücken der riesigen Elfe landen, kurz, bevor diese in die Dunkelheit stürmte.
Leda hielt sich mit allen sechs Beinen an der Kleidung fest, an Stoff, der für sie dick und schwer war, jede Masche ein nützlicher Haken. Basilo klammerte sich an den Sattel, der zwischen den durchscheinenden Flügeln der Libelle saß und bedrohlich rutschte, als Leda von der rennenden Riesin durchgeschüttelt wurde. Mehrmals trafen Falten des Stoffes Ledas große Schwingen oder seine eigenen, schmetterlingsartigen Flügel, und jedes Mal konnte er nur hoffen, dass nichts brechen würde.
Wie war er nur in dieser Situation gelandet? Er hätte niemals wegrennen sollen. Doch er war so wütend gewesen, so verzweifelt und zornig, weil seine Eltern niemals verstehen würden, was in ihm vor sich ging. Er war auch zornig auf sich selbst, weil er es niemals wagen würde, ihnen diesen Wahnsinn zu erklären. Es war verrückt. Er verstand nicht, was mit ihm nicht stimmte. Er hatte Angst.
Und niemand konnte ihm helfen.
⁂
Sie rannte noch immer, obwohl sie fast außer Atem war. Luigia verfluchte ihre kurzen Beine, während sie bergauf stürmte. Aber sie konnte aus irgendeinem Grund nicht stehen bleiben, als würde jede Pause bedeuten, dass sie schließlich doch aufgeben würde.
Stattdessen wurde sie zum Aufgeben gezwungen. Ihr Fuß verfing sich an einem Widerstand. Ehe sie reagieren konnte, fiel sie bereits der Länge nach. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, und dann einen zweiten, als Schmerzen scharf und stechend durch ihren Knöchel jagten. Sie hatte ihn sich verrenkt, wenn nicht gar Schlimmeres. Fluchend rappelte sie sich auf, spuckte Erde und trockene Weinblätter aus, und tastete nach ihrem Knöchel.
Sie war über eine Wurzel gestolpert. Ihr Knöchel fühlte sich zwar nicht gebrochen an, aber der Schmerz pulsierte jedes Mal hindurch, wenn sie ihn bewegte. Während sie dasaß und verzweifelt überlegte, wie sie hochkommen sollte, ohne den Knöchel zu rühren, wurde ihr bewusst, wie kalt es war.
Sie saß irgendwo auf dem Weinberg, mitten in der Nacht. Die Stimmen der Feiernden konnte sie nicht mehr hören - wenn sie zurückdachte, dann hatte sie sie schon lange nicht mehr gehört.
Und sie würde nicht gehen können.
"Hilfe?", rief sie leise. "Hallo? Ist da jemand?" Doch wer sollte sie hier draußen schon hören? Mit etwas Glück würde ihre Familie sie morgen vermissen ...
⁂
"Hallo? Ist da jemand?"
Das war nicht Esterinas Stimme. Trotzdem hielt Flaviana an. Inzwischen war sie ziemlich sicher, dass sie die junge Adelige verpasst hatte. Und was hätte sie ihr überhaupt sagen sollen? Sie hatten gescherzt, dann war Esterina weitergegangen. So lief das eben. Es wäre unziemlich, sich nur mit einer Person zu unterhalten - sofern das nicht ihr Verlobter wäre.
"Hallo?", antwortete sie der Unbekannten.
"Hallo? Ich ... ich bin gestürzt."
"Rede weiter, ich komme."
"Ähm. Was soll ich denn sagen?"
Flaviana bewegte sich in Richtung der Stimme. Es war dunkel, im Licht der Monde ließen sich nur die Reihen aus Weinreben erahnen, jedoch keine Details. "Ich bin Flaviana", rief sie in die Nacht. "Wie heißt du?"
"Luigia."
"Erzähl mir etwas über dich."
"Ich sitze auf der Erde, mein Knöchel ist verstaucht und ich bin eine dumme Zwergin." Die andere lachte. "Ich bin weggelaufen, ausgerechnet um diese Uhrzeit."
"Da bist du nicht die Einzige." Flaviana hatte einen Mittelgang erreicht und versuchte, herauszuhören, woher die Stimme kam.
"Bitte beeil dich", bat die Zwergin sie kläglich.
"Ich versuche es ..." Flaviana spähte in die Gänge, die zwischen den Reben entstanden. In welchem davon saß Luigia? Jeder dieser Pfade war lang, die Reben wuchsen so dicht, dass man nicht zwischen ihnen wechseln konnte. Sie würde sie ablaufen müssen, um Luigia zu finden.
"Zurück!", rief da eine weitere, unbekannte Stimme. Diese war recht leise und hoch. "Es war zwei Gänge vorher."
Flaviana gehorchte und lief in den entsprechenden Gang, wo sie schließlich nach wenigen Schritten eine zusammengesunkene Figur auf der Erde erkannte. Die Zwergin wäre nur halb so groß wie Flaviana, wenn sie stehen würde. Im Sitzen wirkte sie noch kleiner.
Flaviana kniete sich zu ihr. "Wer ist bei dir?"
"Bei mir ist niemand."
"Wer hat dann gerade ...?"
"Entschuldigung." Die Stimme erklang auf ihrer Schulter. Nun spürte sie auch ein leichtes Knistern, ein Widerstand an ihrem Haar, das dort herabfiel. Ein Schauer durchlief sie, als ihr klar wurde, dass etwas auf ihrer Schulter saß.
Etwas, das sprechen konnte! Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, panisch zuzuschlagen.
"Ich habe mich nach dem Chaos an der großen Platte angeschlossen. Ich wollte helfen, niemanden erschrecken."
"Die große Platte?" Flaviana runzelte die Stirn. "Meinst du das Festbankett oben?"
"Oben?", wiederholte jetzt Luigia. "Bist du etwa eine Adelige oder so?"
"Ähm. Oder so." Flaviana wollte lieber nicht erwähnen, dass sie die Tochter der Adeligen war.
"Ich bin Basilo", stellte sich der Dritte vor, was Flaviana überraschte.
"Ich hätte dich für ein Mädchen gehalten", platzte es aus ihr heraus. "Entschuldige. Wegen der Stimme. Bist du die Libelle?"
"Nein, das ist Leda. Ich bin ihr Reiter. Ich sollte mich euch vermutlich gar nicht offenbaren - wir Feen verstecken uns eigentlich vor den Riesen. Aber du hast mir geholfen und ich wollte Luigia helfen."
"Eine Fee!", quietschte die Zwergin. "Davon haben mir meine älteren Brüder erzählt. Sie sollen in den alten Olivenbäumen wohnen. Ich dachte immer, das wären Märchen ... vielleicht habe ich mir bei dem Sturz den Kopf angestoßen."
"Dann hätte ich auch stürzen müssen. Aber ich bin nicht gefallen und ich höre ihn auch."
Einen Moment saßen sie da und verarbeiteten, welches merkwürdige Treffen dies war. Dann erinnerte sich Flaviana an den Grund dafür. "Du bist gestürzt! Bist du schlimm verletzt?"
"Nicht schlimm, nein. Aber ich komme nicht hoch und da habe ich Angst bekommen ... Tut mir leid, es ist sicherlich albern."
"Nein, albern sicher nicht!" Flaviana tastete sich zu der Zwergin vor und befühlte deren Füße, bis sie die Stelle fand, bei der Luigia zusammenzuckte. "Hier draußen im Dunkeln hätte ich auch Angst, wenn ich alleine wäre. Einen Moment." Sie rief die Feuchtigkeit aus dem Boden. Wasser enthielt heilende Kräfte. Erdmagie war für Heilung besser geeignet, aber diese beherrschte sie nicht. Dafür war das Wasser aus den Weinbergen sehr erdig. Somit dauerte es nicht lange, Luigias Knöchel einzuhüllen und den Schmerz samt der Hitze herauszuziehen.
"Wie hast du ... wie habt Ihr ...?"
"Bitte, Flaviana reicht völlig." Es war schön, wenigstens für einen kurzen Moment nicht über jedes Wort dreimal nachdenken zu müssen. Das Leben der einfachen Bevölkerung - es war so viel freier! "Ich bin Magierin. Es war nur eine Verstauchung, sehr schmerzhaft, aber nicht weiter dramatisch."
"Danke", murmelte Luigia kleinlaut. "Jetzt fühle ich mich erst recht dumm."
"Frag mich mal", warf Basilo ein. "Ich bin zuhause abgehauen und habe es nur geschafft, fast von einem wahnsinnigen Riesen erschlagen zu werden!"
"Meinst du Giorgio? Der ist sogar noch schlimmer. Er sammelt Schmetterlinge und Libellen und pinnt sie in so Glaskästen auf." Flaviana schüttelte sich. "Aber ihr tut so, als hätte ich euch beide gerettet. Basilo, dich habe ich nicht einmal bemerkt. Ich war nur sauer, weil Giorgio meine ... also, eine Freundin vertrieben hat. Ich habe mich kindisch verhalten und gerächt, und jetzt habe ich Ärger. Das war wirklich dumm. Dann bin ich auch noch meinen Leibwachen abgehauen und jetzt sitze ich hier, wo ich jederzeit entführt oder abgestochen werden könnte, ohne dass es jemand bemerkt. Wenn ihr beide also unbedingt dumm sein wollt, bitte, ich gehöre zum Club."
Was irgendwie ein gutes Gefühl war. In eine Gruppe zu gehören, die sie sich selbst ausgesucht hatte.
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Der Schmerz in ihrem Knöchel war durch angenehme Kühle ersetzt worden. Luigia bewegte ihn vorsichtig, aber er tat nicht mehr weh. Es war wunderbar.
Doch noch etwas war ihr aufgefallen, als die Stimme ihrer Retterin kurz gezittert hatte. "Du hast also mit 'einer Freundin' gesprochen, wie?", fragte sie neckend. "Und als dieser Giorgio deine Flirtereien durchbrochen hat, wurdest du wütend?"
"Flirten? Mit ... mit einer Elfe?" Flavianas Stimme war zuerst zu hoch, dann ein tonloses Flüstern.
"Klar. Wieso denn nicht? Wenn du Mädchen mehr magst als Jungen?"
"Ich ... d-das geht doch nicht. Ich soll doch einen Thronfolger ... Moment mal, ist es bei euch normal, dass sich auch Frauen lieben?"
"Ich bin eine Zwergin, Flavi!" Luigia lachte über das offensichtliche Staunen ihrer neuen Freundin. Flaviana klang mit einem Mal so schüchtern. "Wir haben alle Bärte, oft sieht man gar nicht, wer was ist. Jedenfalls nicht auf den ersten oder zweiten oder dritten Blick - und dann ist es manchmal schon passiert und man ist verliebt. Völlig normal."
"Normal", wiederholte Flaviana andächtig.
"Und so einen Thronerben kann man doch sicher auch adoptieren", warf Basilo ein. "Wir machen das ständig, wenn irgendwo eine junge Fee verwaist. Die Welt der Riesen ist gefährlich, da muss man zusammenhalten."
"Bist du deswegen weggelaufen?", hakte Luigia sanfter bei Flaviana nach. "Weil du lesbisch bist und deine Eltern das nicht akzeptieren?"
Flaviana schwieg eine Weile. "Vielleicht", sagte sie dann sehr leise. "Ich habe nie so ... darüber nachgedacht."
"Bei mir war es gar nicht so anders." Sie wusste nicht, woran es lag, aber es schien sicher zu sein, sich diesen beiden zufälligen Bekanntschaften anzuvertrauen. Zunächst einmal mochte sie Flaviana und Basilo. Die beiden hatten ihr geholfen! Doch dann bot die Dunkelheit ihnen auch Schutz und vermutlich würde sie keinen der beiden je wiedersehen. Wenn die beiden es also nicht verstehen würden, dann müsste Luigia sich nie wieder mit ihnen befassen. "Meine Eltern wollen unbedingt, dass ich einen Partner finde. Oder eine Partnerin. Aber ... ich möchte das nicht. Ich bin alleine glücklich und der Gedanke, mit jemandem zusammenzusein ... Also, das ist doch furchtbar unpraktisch." Sie lachte nervös. "Niemand von ihnen versteht es."
"Nicht?", fragte Flaviana verwundert. "Bei uns ist das völlig normal. Viele Elfen heiraten niemals. Es heißt, dass die meisten Erdwesen nur eine halbe Seele haben und ihr Leben lang nach dem anderen Stück suchen. Aber manche haben eine vollständige Seele und benötigen niemanden."
"Das! Genau das meine ich!" Luigia setzte sich aufgeregt auf. "Und sie werden nicht mitleidig angesehen?"
"Nein, nicht deswegen." Flaviana lachte. "Wir haben natürlich auch mehr Lebenszeit und müssen uns meist nicht damit beeilen, Kinder zu kriegen. Aber es ist völlig in Ordnung, wenn man lieber andere Sachen verfolgt. Malerei. Wissenschaft. Magie. Sofern man keine Adelige ist und einen Thronfolger braucht - was mich ja prinzipiell nicht stören würde, nur die Elfenjungen nerven mich."
"Beneidenswert", murmelte Luigia. Dann wandte sie sich Flavianas Schulter zu. "Und du, Basilo? Hast du auch einen peinlichen Grund, warum du weggerannt bist? Oder ist dein großes Geheimnis, dass du eine Fee bist - denn in dem Fall, habe bitte keine Sorge, dass wir dich verraten würden."
"Nein, das haben wir wirklich nicht vor", fügte Flaviana rasch hinzu.
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Er rang eine Weile mit sich. Aber diese beiden Riesen waren offen gewesen. Er konnte ihnen also sicher vertrauen. Doch sein Problem war so viel absurder ... Würden sie es verstehen?
Andererseits gab es nichts zu verlieren. Er könnte im Notfall immer noch wegfliegen und würde die beiden nie wiedersehen.
"Ich ... weiß nicht, wie ich anfangen soll. Ich bin irgendwie merkwürdig." Er stupste Leda, sodass sie noch ein kleines Stückchen weiter nach vorne krabbelte. Flaviana hielt der Libelle die Hand hin und sie stieg auf den Finger der Riesin. Elfen und Zwerge - was auch immer das alles zu bedeuten hatte. Basilo wusste nur wenig vom Großen Volk. Er wusste ohnehin nur wenig. Seine Eltern wollten nicht - verständlicherweise - dass er die große Welt zu weit erforschte.
Nur eine Sache wusste er. "Ich fühle mich ... falsch. Hm. Zum Beispiel ist es in meinem Volk Sitte, ein Reittier zu zähmen. Meist nimmt man eines, das dem eigenen Geschlecht entspricht, aber ich habe mich an Leda gebunden. Und sie ist ... nun, ein Weibchen. Und eben, als du meintest, dass ich gar nicht wie ein Junge geklungen hätte ..."
"Das liegt daran, dass du so klein bist. Feenstimmen sind so hoch!", warf Flaviana ein.
"Aber es fühlte sich gut an. Richtig."
"Du wärst also lieber ein Mädchen", sagte Flaviana. Was sich merkwürdigerweise anfühlte, als wäre ihm ein dunkles Blatt vor den Augen fortgerissen worden. Als würde sein Leben endlich einen Sinn ergeben.
"Ich ... ja." Er war erstaunt. Wie hatte sie all das in so wenigen Worten ausdrücken können, was als Sturm in ihm tobte? "Glaube ich."
"Das ist bei uns nicht selten. Ein Elfenleben ist lang, manchmal ... verändert man sich."
"Und wie gesagt: Wir Zwerge sehen uns eh zu ähnlich." Luigia lachte. "Wir können uns ziemlich leicht verstellen, wenn wir wollen."
"Ich ... ich bin also kein Freak?"
"Nein, wirklich nicht", bestätigten die beiden.
Das war, als würden ihm mehrere Kiesel vom Herzen genommen. "Aber ... ich glaube nicht, dass meine Familie das verstehen wird."
"Meine sicher nicht", brummte Luigia.
"Oder meine." Flaviana seufzte.
Im schwachen Licht der Monde tauschten sie Blicke.
"Wir können ja noch eine Weile hier bleiben", schlug Flaviana vor.
"Ich wäre jedenfalls froh, wenn ich nicht in der Nacht alleine zurück müsste", stimmte Basilo rasch zu.
"Und meine Familie vermisst mich vermutlich noch gar nicht", sagte Luigia. "Die sind jetzt alle beim Tanz."
"Also schön." Flaviana stand auf. "Suchen wir uns einen hübscheren Flecken, vielleicht eine der Wiesen. Lasst uns die Nacht genießen." Sie stützte Luigia, als diese sich erhob.
"Sollen wir dich vielleicht anders anreden, Basilo? Nur für diese Nacht?"
"Einen Versuch wäre es wert", stimmte er vorsichtig zu. Vielleicht könnte er ja, nur für einige Stunden, eine Sie sein ...
So zogen die drei unwahrscheinlichen Freundinnen in die Nacht, die gerade erst begann.