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Nach dem Prompt „Gewöhnliche Eierschlange [Tierische Geschichte mit verschwundenen Ostereiern]“ der Gruppe „Crikey!“
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"Wo sind denn die Eier hin?", rief Naleeye.
Kaaho lief zu ihrem Bruder. Schon draußen, in der Glut der nadinischen Sonne, hörte sie das aufgeregte Quaken aus dem Bretterverschlag.
Als Kaaho sich unter dem Türsturz hindurch duckte, kamen die Bewohner des Stalls sofort zu ihr, zupfen an ihren Hosen und versuchten, ihre Beine hinaufzusteigen. Sie wehrte ein männliches Tier ab, bevor dieses sie noch mit den Dornen an den Hinterpfoten verletzte.
Das Gift der Schnabeltiere war nicht zu unterschätzen, wie die Geschwister sehr wohl wussten.
Naleeye beugte sich über eines der Nester, die sich in gestapelten Boxen an der Rückwand aufreihten. Kaaho durchquerte den kleinen Stall und sah mit ihrem Bruder hinein.
"Da ist doch ein Ei!"
"Ja - aber vor einer Stunde waren es noch mehr! Ich bin mir sicher, ich habe sie gezählt!"
"Und wieso hast du sie nicht direkt eingesammelt?" Vorwurfsvoll schüttelte sie den Kopf. Ihre Familie konnte es sich nicht leisten, Eier zu verlieren. Sie hatten ohnehin wenig.
"Ich musste noch Wasser holen. Außerdem sollten sie eine Weile liegen, bevor ich teste, ob sie befruchtet sind! Da war eines, wo ich nicht ganz sicher war ..." Naleeye nahm ein Ei in die Hand. Nachwuchs war ebenso wertvoll wie Nahrung hier draußen. Mit angehaltenem Atem beobachtete Kaaho, wie Naleeye das Ei hielt. Dann leuchtete seine Hand in einem warmen Goldton auf, immer heller, bis die Geschwister einen Schatten unter der Schale erahnen konnten.
Naleeye atmete auf. "Es ist noch da! Sieh nur, Kaaho - ein befruchtetes Ei."
Sie lächelte. "Endlich!"
Kaaho lief, um ihren Eltern zu berichten. Naleeye testete die restlichen Eier und sammelte diese in einen Korb. Nur das befruchtete Ei legte er zurück.
Die Freude über den Nachwuchs wurde überschattet von der Frage, wohin die Eier verschwunden waren. Naleeye schwor eisern, dass mindestens drei fehlten. Doch die Arbeit musste weitergehen. Auf dem kleinen Hof wurde ein Teich für die Schnabeltiere unterhalten, doch der Zugang zum nahen Wasserloch musste gewährleistet sein. Bewohner aus dem gesamten Gebiet profitierten von dem Wasser, das ihre Familie aus dem Teich mit seiner wertvollen Quelle ableitete. Vor allem jedoch würden sonst Wildtiere versuchen, zur Quelle zu kommen. Elefanten könnten die Zäune einreißen, Hyänen und Löwen würden an die Ziegenställe vordringen können, und zu viele Gäste könnten die Quelle verschmutzen und sogar versiegen lassen.
Wenn sie nicht gerade gruben, besserten Kaaho und Naleeye Zäune aus, hüteten Ziegen auf den außen gelegenen Weiden, schleppten Wasser. Sie schnitten Gemüse und halfen bei Schlachtungen, flochten Weidenkörbe, jäteten Unkraut auf den Feldern, verjagten Heuschrecken von der Ernte. Es gab mehr zu tun, als in einen Tag passte, und am nächsten Tag begann die Arbeit erneut.
Kaaho war gerade damit beschäftigt, erste Reparaturen am Sonnensegel aus trockenem Schilf zu beginnen, einem Luxus, den sie vom Dorf geschenkt bekommen hatten, im Austausch für das Wasser, als sie Naleeye schreien hörte.
Sofort lief Kaaho los. Sie fand ihren Bruder hinter dem Schnabeltierstall, wo er sich zitternd mit einem Stock bewaffnet hatte.
"Vorsicht!", rief er. "Da ist eine Kobra!"
Kaaho trat hinter ihn und reckte den Kopf, bis sie die Schlange entdeckte. Sie lag halb unter dem Stall, der leicht erhöht auf Steine gebettet war, gegen die Hitze des Bodens und um Schlangen den Zugang zu erschweren. Das graubraune Tier hatte den Hals flach gespreizt und fauchte.
Kaaho lachte.
"Was ist?", fragte Naleeye verärgert.
"Das ist keine Kobra." Kaaho trat vor und packte die Schlange, ohne sich um ihre schnellen Bisse zu kümmern. Denn das Tier konnte ihre Haut nicht einmal durchdringen. Grinsend hob Kaaho die Schlange auf, ließ sie über ihre Hände kriechen, wo sie sich sofort beruhigte. Unter dem Stall sah sie weitere graue Schlangen, die jedoch sofort flüchteten.
"Kaaho! Was machst du da?"
"Du hast unseren Eierdieb gefunden, wie mir scheint. Wir müssen sie da herausholen und umsiedeln." Stolz hielt sie ihrem Bruder die Schlange vor das Gesicht. "Sie sind nicht giftig. Sie tarnen sich nur, indem sie sich wie Kobras verhalten."
Zögerlich streckte Naleeye die Hand aus und strich über die Schlange, die verängstigt zischte. Ihr Bauch war noch leicht gewölbt von der Mahlzeit am Morgen.
Kaaho entließ den ungebetenen Gast vorerst wieder unter den Stall. Sie konnte zerdrückte Eierschalen sehen, mehr als nur drei. Also hauste die kleine Schlangenfamilie hier schon länger. Es war Zufall, dass sie heute bemerkt worden waren.
"Sollen wir sie töten?", fragte Naleeye.
Kaaho legte den Kopf schief. "Ich weiß es nicht. Nur, wenn wir sie essen oder verkaufen können. Wir sollten Mutter und Vater fragen, vielleicht reicht es, wenn wir sie weit weg bringen. Aber sie werden wissen, wo diese Schlangen leben können, ohne zu unserem Stall zurückzufinden."
Naleeye nickte bedächtig. Ein Tier ohne Grund zu töten, behagte keinem von beiden. Doch natürlich konnte man in einem so lebensfeindlichem Gebiet wie Nadin auch nicht jeden Verlust einfach so hinnehmen.
Vorerst ließen sie die Diebe am Leben. Vielleicht gab es eine andere Lösung. In Nadin hatten die Bewohner gelernt, dass es einfacher war, seine Gegner kennenzulernen und sich zu arrangieren, als einander zu bekämpfen.