Es war einmal eine alte Hexe. Sie wohnte in einer schiefen Hütte im Wald, nahe des Städtchens Grimmwinkel. Den Leuten in der Stadt war sie wohlbekannt, denn über lange Jahre, hatte sie ihnen oft genug übel mitgespielt. Man ging ihr aus dem Weg, wenn sie auf dem Markt erschien oder im Wirtshaus einkehrte. Die Hexe war schon von Weitem an ihrem spitzen Hut und dem gebeugten Gang zu erkennen. Und weil sie so knochig und krumm war und ein gewaltiger Buckel auf ihrem Rücken thronte, der beinahe so hoch aufragte, wie ihr Hut, nannten die Leute sie Vettel Knorz.
Sie war eine böse Hexe. Es gab so gut wie keine Teufelei, die sie nicht schon an den Grimmwinklern ausprobiert hatte. Schon öfter waren Holzfäller verschwunden, die wohl ihrer Hütte zu nahe gekommen waren. Ein halbes Jahr lang konnte man nur stinkenden Schlamm aus dem Marktbrunnen schöpfen. Alle Leute mussten die Wassereimer im Bach füllen und diese dazu mit Tragehölzern durch den Wald schleppen. Vettel Knorz machte sich einen großen Spaß daraus, sie mit den vollen Eimern auf dem Rückweg stolpern zu lassen, sodass sie noch einmal zum Bach mussten, um erneut Wasser zu holen. Oft genoss die Hexe es auch Schwärme von Vögeln über das Städtchen ziehen und überall hinkacken zu lassen, wo die Frauen die frischgewaschenen Laken auf der Wiese ausgebreitet hatten.
So ging es eine lange Zeit.
Doch in den letzten Jahren war es ruhiger geworden um die Hexe. Sie war alt geworden und etwas müde. Noch immer braute sie ihre Tränke und flog auf ihrem Besen aus, zu den alljährlichen Hexentreffen. Ab und zu ließ sie den Leuten von Grimmwinkel immer noch kleine Bosheiten zukommen, aber es wurden immer weniger Gelegenheiten, zu denen sie sich daran erfreute.
Wie es den Hexen eigen ist, wusste auch sie, dass ihr Ende nun näherrückte. Sie hatte nur noch wenige Tage und traf die letzten Vorbereitungen. Als Hexe kann man nicht einfach auf dem Bett einschlafen und nie wieder aufwachen. Man muss schon dafür sorgen, dass entweder eine junge Hexe das Erbe übernimmt oder dass man nicht etwas für die Unwissenden hinterlässt. Nichts ist schlimmer, als Magie in den falschen Händen. Da Vettel Knorz sich nie darum geschert hatte, eine junge Hexe ausfindig zu machen, um diese jahrelang, mühsam auszubilden, traf sie nun alle Vorkehrungen ihre Spuren auf dieser Welt zu tilgen. Die Hütte war schon ringsum mit dicken Holzstößen eingepackt. Vettel Knorz wusste aber, dass Magie nicht allein vom Feuer getilgt werden kann. So braute sie auch fleißig Tränke, die jegliche magischen Dinge zersetzen würden.
Soeben hatte die Hexe, die letzten Flaschen des Tranks für den Tag verkorkt, als es schwer an die Hüttentür klopfte.
Sie zog die Augenbrauen hoch, denn sie hatte nicht mit Besuch gerechnet und hatte auch keinen kommen sehen, obwohl ihre Hellsicht sonst sehr gut funktionierte.
"Wer da?", krächzte sie.
"Du weißt wer hier klopft. Öffne." Die Stimme kollerte durch das alte Holz der Tür, wie ein Felsen, der ins Tal stürzt.
Vettel Knorz wusste, wer dort stand, als sie das steinerne Grollen dieser Stimme hörte. Sie schlurfte zur Tür und öffnete sie mit einer kleinen Verbeugung.
"Nur herein Gevatter. Doch du kommst zu früh. Ein paar Tage habe ich noch."
Der Tod glitt in die Hütte. Er brachte die Nacht und die Kälte mit herein. An ihr vorbei glitt er zum Feuer und streckte seine knochigen Hände den Flammen entgegen.
"Fünf Tage bleiben dir noch."
"Ich weiß", sagte Vettel Knorz. "Es ist schon fast alles vorbereitet. Aber wie ich schon sagte: Du bist zu früh. Also was treibt dich in meine bescheidene Hütte Gevatter?"
"Dir bleiben fünf Tage, um zu entscheiden, wie du diese Welt verlassen willst, welchen Weg du einschlagen wirst. Steigst du hinab in die Flammen oder gehst du ins Licht?"
"Nun hör doch auf. Als hätte ich eine Wahl. Alle meiner Zunft sind Futter für die Flammen oder nicht?"
Der Gevatter wandte sich zu ihr um. Seine fahl glimmenden Augen richteten sich auf die Hexe. "Es ist deine Entscheidung. Du hast fünf Tage. Dein Herz bestimmt deinen Weg, nicht deine Worte. Dein Weg ist noch nicht gezeichnet, du selbst musst ihn gehen."
"Na hör mal, du treibst doch Scherze mit mir", sagte Vettel Knorz. "Das ist nicht nett, aber vielleicht geschieht es mir recht. Was willst du von mir?"
Der Gevatter knirschte mit den blanken Zähnen.
"Es ist dein Weg. Ich werde dich nur führen, gleich, für welche Richtung du dich entscheidest. Folge deinem Herzen."
"Meinem Herzen folgen. Du scherzt tatsächlich. Mein Leben lang, habe ich die Menschen und Tiere gepiesakt. Ich habe ihnen allen zugesetzt und nun soll ich all das in fünf Tagen ausbügeln? Ich denke, dann werde ich den einfachen Weg wählen und in den Flammen enden. Und nun hinaus mit dir, wenn du mich nicht jetzt schon mitnehmen willst. Wir sehen uns in fünf Tagen."
Energisch wies die Hexe der finsteren Gestalt die Tür. Der Gevatter ließ seinen kühl glühenden Blick noch einen Augenblick auf ihr ruhen, bevor er wieder in die Nacht entschwand.
"Morgen Abend sehen wir uns wieder", wehte ihr ein letztes Grollen aus der Schwärze des Waldes entgegen. Vettel Knorz schüttelte stirnrunzelnd den Kopf und warf die Tür zu.
Noch immer grübelnd ließ sie sich auf den Schaukelstuhl vor der Feuerstelle sinken.
"Pff, folge deinem Herzen. Witzbold. Wer hätte gedacht, dass der Tod ein solcher Spaßvogel ist."
Es dauerte nicht lange und sie war schaukelnd eingeschlafen.