Jakob erwachte im ersten Dämmerlicht des neuen Tages. Ein schepperndes Krähen und Pochen hatte ihn geweckt. Er fühlte sich gut, kräftig, wie neu geboren. Er war in einer seltsam eingerichteten Hütte, hatte aber keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war. Hatte er nicht nach seinem Vater gesucht? Aber ja. Er musste ihn finden.
Jakob sprang auf und sah die tote Hexe neben sich liegen, die noch immer ihre Hand nach ihm ausgestreckt hielt. Erschrocken fuhr er zurück, denn auch wenn er sie noch nie selbst gesehen hatte, wusste er aus den Erzählungen genau wer da lag.
Er stürzte zur Tür und riss sie auf. Ein Rabe hockte auf der Schwelle und krächzte ihn an, schwang sich dann aber in die Luft und war zwischen den Bäumen verschwunden.
Jakob stürmte ebenfalls zu den Bäumen, verlangsamte aber noch auf der Lichtung seinen Lauf und blieb schließlich am Waldrand stehen. Er riskierte einen Blick zurück. Die Hütte stand still auf der Lichtung. Nichts regte sich. Vorsichtig spähte er durch die offenstehende Tür. Die Hexe verharrte unbewegt auf ihrem sonderbaren Lager. Wie es schien, war sie gestorben, während er bei ihr gewesen war. Warum war er bei ihr gewesen? Jakob fand keine Erklärung dafür. Scheinbar hatte sie ihm nichts angetan. Vom Kopf abwärts betastete er sich und konnte keine ungewöhnlichen Veränderungen feststellen. Dann fanden die Hände etwas in seiner Hemdtasche. Er zog den Brief hervor. "Junge" stand auf dem Papier geschrieben. Jakob faltete es auseinander und ein zweites gefaltetes Blatt fiel heraus. Auf diesem stand "Helene & Baldur".
Glücklicherweise war Jakob des Lesens mächtig. Seine Mutter hatte immer großen Wert darauf gelegt, dass er die Heilige Schrift vortragen konnte. Nun richtete er seinen Blick auf den Brief, der offenbar für ihn gedacht war. Dort stand:
Junge,
Leider habe ich versäumt nach deinem Namen zu fragen, deshalb bleibst du für mich der Junge, sieh es mir nach.
Du kannst deine Suche nun beenden. Dein Vater ist wohlauf und wieder heim bei deiner Mutter. Geh nur schnell zu ihnen, damit sie sich nicht länger grämen. Von mir hast du nichts zu befürchten, ich dürfte inzwischen hinüber gegangen sein, obwohl ich noch nicht ganz sicher bin, wo genau das sein wird. Auch habe ich dir kein Leid getan. Wenn alles so verlaufen ist, wie ich es gewünscht habe, sollte es dir gutgehen.
Den Brief für deine Eltern, behalte ihnen vor.
Nur eines musst du für mich tun: Lege den Talisman, den ich dir gab, niemals ab.
Unterschrieben war der Brief mit Knorz.
Jakob befühlte den schweren Anhänger, der auf seiner Brust ruhte. Er blickte in sein Hemd. Das grünliche Glimmen, dass von dem Stein ausging beruhigte ihn. Er schob den Brief für seine Eltern in die Hemdtasche zurück. Dann wandte er sich von der Hütte ab und ging in den Wald. Von hier aus war es keine Mühe den Weg zu seinem Elternhaus zu finden. Jeder in Grimmwinkel wusste wo die Hütte der Hexe stand, weil man sich besser nicht aus Versehen dorthin verirrte. Als Jakob die Straße nach Grimmwinkel betrat, tasteten die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume.
Die Lichtung, auf der Vettel Knorz' Hütte stand wurde ebenfalls von diesen ersten Sonnenstrahlen berührt. Die Hütte begann in dem Augenblick zu qualmen, als das Licht sie erreichte. Nach wenigen Minuten stand sie lichterloh in Flammen.
Jakob konnte den Rauch riechen und beschleunigte seine Schritte. Schon kurz später langte er am Torhaus an. Von dort aus konnte er die gewaltige Rauchsäule auch sehen. Die Schwaden kräuselten sich in allerlei ungesunden Farben oberhalb der Bäume. Der Schuster Berthold stand neben dem Torhaus. Er nahm ihn kaum wahr, weil er das Schauspiel am Himmel gebannt verfolgte.
So eilte Jakob, ohne in dieser frühen Stunde von jemandem behelligt zu werden, in die Stadt und zu seinem Elternhaus.
Er hatte die Tür noch nicht ganz erreicht, als sie bereits aufsprang und seine Mutter ihm entgegen geflogen kam. Sie übersäte sein Gesicht mit Küssen. "Du bist zurück", rief sie. "Knorz hatte gesagt, sie wüsste nicht, ob sie etwas für dich tun könnte, aber sie hat dich uns zurückgegeben."
Inzwischen war auch Baldur herausgetreten und umfing seine Familie mit seinen kräftigen Armen. Baldur führte seine schluchzende Frau und den irritierten Jakob hinein. Sie ließen sich in der Küche nieder.
"Ihr wusstet, dass ich bei der alten Hexe bin? Wie kann das sein? Ich war auf der Suche nach dir, Vater. In der Nähe der Hexenhütte war ich nicht, das schwöre ich. Ich ging durch den Wald. Es dämmerte bereits und dann öffneten sich die Bäume zu einer Lichtung und, und..." Jakob stockte, schüttelte den Kopf als versuche er die passende Erinnerung aus einer dunklen Ecke seines Geistes herauszuschütteln, doch er hatte keinen Erfolg.
"Es ist gut Junge. Wir wissen, dass du mich gesucht hast. Du hättest mich nicht finden können. Ich war in einen Baum verwandelt. Knorz hat mich zurückgeholt. Sie wusste etwas über dich, hat es uns aber nicht verraten. Wo ist sie jetzt? Wir müssen ihr Dank sagen, dass wir wieder beisammen sind."
"Sie ist tot, denke ich", sagte Jakob. Helene und Baldur schauten ihn erschrocken an. "Du hast ihr doch nichts angetan?", fragte Baldur.
"Aber nein. Ich erwachte in ihrer Hütte, sie lag neben mir auf einem seltsamen Lager und sie war bereits hinübergegangen. So schnell ich konnte, bin ich aus der Hütte geflohen und als ich beim Torhaus ankam, konnte ich Rauch aufsteigen sehen. Es muss ihre Hütte gewesen sein, die da brannte. Ach und sie hat mir einen Brief überlassen, er steckte in meiner Hemdtasche."
Jakob zog die beiden Blätter hervor, zeigte seinen Eltern das an ihn gerichtete Blatt und übergab ihnen den noch immer gefalteten Bogen mit der Aufschrift "Helene & Baldur".
Helene nahm den Brief an sich und las.
Hallo Helene, hallo Baldur,
Wenn ihr diesen Brief in euren Händen haltet, ist alles gutgegangen. Ich weile jetzt schon nicht mehr unter den Lebenden. Meinen letzten Tag habe ich eurem Jungen vermacht, ich hatte genügend Tage auf dieser Welt und freue mich auf eine Neue.
Euer Junge war schon hinübergegangen. Er ist bei seiner Suche im Moor versunken. Der Gevatter aber, war so freundlich mir einen Tausch zu erlauben. Der Junge hat nun, wie es scheint, nur ein wenig Zeit gewonnen bei euch zu sein, bevor der Schnitter ihn wieder abholt. Doch wisset: Einer Hexe Tage sind dreimal so viel, als die eines normalen Menschen.
Man möge mir verzeihen, aber auch drei Tage schienen mir nicht recht, dass man sie euch mit ihm schenkt wie ein Almosen von schimmligem Brot. Euch gebührt ein Leben in Glück, nachdem ihr durch meine Hand so viel Leid erfahren habt. Deshalb habe ich einen Talisman gefertigt, wie es so viele meiner Schwestern tun. Dies Schmuckstück trägt euer Junge um den Hals. Tragt Sorge, dass er weiß, was es für ihn bedeutet und dass er ihn niemals abnimmt. Dieser Stein streckt jede Stunde auf ein Jahr. So sollte es wohl für euch alle Drei gelingen, noch ein erfülltes Leben zu führen.
Ist seine Zeit dereinst gekommen, wird die Kraft des Steines erlöschen und er kann ihn mit ins Grab nehmen und vielleicht auf der anderen Seite dem Schnitter übergeben. So wird der Gevatter wissen, wer ihm ein Schnippchen geschlagen hat.
Bis es soweit ist, wird er ihn suchen, jedes Jahr an seinem vorgesehenen Sterbetag. Nur an diesem Tag kann der Gevatter ihn erreichen.
Führt den Jungen übermorgen hin, wo meine Hütte stand. Dort werdet ihr einen Hexenring finden in dem er ein Lager für die Nacht haben soll. Er liegt im Zentrum mächtiger Banne, welche ich errichtet habe. Dort wird er sicher sein, dort kann der Gevatter ihn nicht sehen. Wenn der nächste Tag anbricht, ist wieder ein Jahr gewonnen.
Ich wünsche euch ein schönes Leben.
Knorz
Helene traten schon wieder die Tränen in die Augen. "Jakob, du warst schon auf der anderen Seite. Mein Gott, sie hat dir ein neues Leben geschenkt." Selbst Baldur verbarg nun sein Gesicht in den Händen.
Noch mitten in dem Chaos aus erschrockenem Glück klopfte es zaghaft an der Haustür. Baldur öffnete.
Draußen stand der Stalljunge des Bauern Häufel. Er führte zwei Kühe und ein Kalb bei sich und hielt Baldur einen prallen Geldbeutel hin.
"Herr Seliger, da ihr wieder zurück seid, möchte mein Herr euch euer Vieh wieder in die eigene Obhut übergeben. Hier sendet er einen Obolus dafür, dass er die Tiere beherbergen durfte und bedankt sich damit für die vortreffliche Unterstützung. Die Hühner, Gänse und Schafe wird er im Laufe der Woche bringen lassen."
Sprachlos nahm Baldur den Geldbeutel entgegen.
"Ich wünsche einen schönen Tag Herr Seliger", setzte der Stalljunge nach und nahm breit grinsend die Beine in die Hand.
So bekam in ihrer größten Not die Familie Seliger ihr Leben zurück, von einer Hexe, die ihr Leben lang für ihre Boshaftigkeit gefürchtet und gemieden wurde.