In dieser Nacht schlief die alte Hexe nicht gut. Immer wieder plagten sie wilde Träume, wie sie über düstere Waldwege aus glühenden Kohlen getrieben wurde. Alle Knochen taten ihr weh, ihre Fußsohlen brannten und grimmig aussehende Bäume peitschten ihren nackten Buckel. Sie wurde in Richtung Grimmwinkel getrieben und konnte fast schon die Leute, die ihre Ankunft auf dem Marktplatz erwarteten, johlen hören, als sie in ihrem Schaukelstuhl aufschreckte.
Staub tanzte in den ersten fahlen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster ihrer Hütte fielen.
"Eieiei, was für eine Nacht. Ich sollte wohl doch darüber nachdenken, wie ich den Flammen entgehen kann."
Nachdem sie das Feuer angefacht und sich einen starken Tee gebraut hatte, saß Vettel Knorz am Tisch und grübelte wieder. Was konnte sie nur tun? Über die lange Zeit, hatte sie so viel Unfug getrieben. Welche Bosheit war groß genug, sie vor den Flammen zu retten, würde sie sie ungeschehen machen? Die Hexe war zum ersten Mal in ihrem Leben unsicher. So beschloss Vettel Knorz einen Ausflug in die Stadt zu machen, um zu sehen was sie wohl Gutes tun könnte. Sie schickte ein paar Raben voraus. Die Augen der Vögel ließen sie sehen, dass dort ein geschäftiges Treiben herrschte, wie es an den Wochentagen üblich war. Der Weg würde also nicht umsonst sein.
"Komm her Stecken, führe mich!", krächzte sie und schon sprang ihr ein Stab in die Hand, auf den sie sich stützte. So trat sie ihren Weg durch den Wald an. Schon kurze Zeit später erreichte die Hexe die Straße, welche auch die Fuhrwerke nahmen, wenn sie nach Grimmwinkel unterwegs waren. Vettel Knorz schaute sich immer wieder vorsichtig um, denn es kam ihr vor, als würden die Bäume flüstern und aufgeregt ihre Äste schwingen. Der böse Traum der letzten Nacht kam ihr wieder in den Sinn und sie versuchte aus dem Wald zu kommen, so schnell sie nur konnte. Erleichtert trat sie in die Sonne, als sie den Waldrand erreicht hatte. Nun lag Grimmwinkel vor ihr. Die Wache zog sich eilig in das Torhaus zurück, als er die Hexe kommen sah. Einen verächtlichen Blick in das erschreckte Gesicht werfend, das bleich aus dem winzigen Fenster lugte, hinkte Vettel Knorz am Torhaus vorbei. 'Sicher ein Schneider, was für eine tapfere Wache', dachte sich die Hexe und setzte ihren Weg zum Marktplatz fort. Immer musste irgendein armer Mann Wacht halten, auch wenn er noch so ein Hasenfuß war. Dieser hier war bestimmt mehr als erleichtert, wenn die Ablösung kam, bevor die Hexe wieder auftauchte und ihm vielleicht Hörner wachsen ließ. Der Gedanke erheiterte sie.
Kaum hatte Vettel Knorz den Marktplatz betreten, ergriffen auch die meisten Leute hier die Flucht. Wer eben noch dringend Butter brauchte, war plötzlich sicher, dass es auch mal einen Tag ohne gehen würde. Töpferwaren wurden eilends hinter den Tischen der Stände in Sicherheit gebracht, Hühner in Käfigen und Kälber an Stricken in Seitengassen versteckt. Ein Obstbauer, der offenbar vollkommen panisch war, rannte einfach Hals über Kopf davon. Vettel Knorz griff sich einen wunderbar glänzenden Apfel von seinem Stand. Sie biss genüsslich in die rote Hälfte. Süß und saftig. Die Hexe nickte zufrieden und ließ noch einen weiteren Apfel in der Tasche ihres Umhangs verschwinden. Als sie ihre Runde um den Platz vollendet hatte und sich noch einmal umblickte, konnte sie nur noch vier Leute sehen, die nicht geflüchtet waren. Ein armer Tropf, der im Pranger gefangen war. Der zählte nicht. Er sah aus, würde er gern rennen, aber natürlich konnte er nicht. Sein schmutziges Gesicht war der Hexe nicht bekannt. Wahrscheinlich fürchtete er sie nur, wegen der Geschichten, die er über sie gehört hatte. Auch ein wackerer Fischer war geblieben. Er war wohl nicht bereit gewesen, seinen ausgebreiteten Fang einfach der Hexe zu überlassen. Der hatte bisher eindeutig noch keine nähere Bekanntschaft mit ihr gemacht. An ihm konnte sie also nichts wieder gutmachen. Dann war da noch eine traurig wirkende Frau mit zwei Lämmern, die sie dicht an sich gedrückt zu beruhigen versuchte und hinter einen leergeräumten Stand gekauert, ein bebendes Häufchen Elend von einem Mann. Hier war sie richtig.
Vettel Knorz hinkte zu dem leeren Stand hinüber, der streng nach Käse roch. Die Laiber konnte sie nicht sehen, aber sie waren unbestreitbar hinter dem Tisch versteckt, wo auch der Bauer hockte und versuchte so unsichtbar wie nur möglich zu sein. Es gelang ihm mehr schlecht als recht. Die Hexe wusste genau wer das war, hatte sie doch von seinem vielgepriesenen Käse einen arges Magengrimmen bekommen.
"Heda, Bent Schröcker, bist du es, elender Windetreiber?"
Sie klopfte mit ihrem Stock zweimal kräftig gegen den Tisch. Zitternd kam der Bauer auf die Beine.
"Bitte", sagte er. "Ich habe nichts getan werte Dame."
"Ach schnickschnack, natürlich hast du was getan. Du hast mir deinen faulen Käse verkauft. Das Zeug war so ein Dreck, ich hatte drei Tage Krämpfe und hockte so oft auf dem Abort, dass meine Rückseite ganz wund war."
"Aber sie haben mich doch schon dafür gestraft." Flehend streckte der Bauer ihr seine Hände entgegen, an beiden fehlten die Daumen.
"Ja, weiß ich." Vettel Knorz dachte kurz, dass dies wirklich ein gelungenes Stück Hexenkunst gewesen war.
"Gar nicht mal so einfach, so die Kühe zu melken was?", lachte sie schnarrend auf. "Warum bist du denn nicht einfach abgehauen?"
"Die Furunkel am Hintern schmerzen zu sehr, werte Dame. So wäre ich nicht weit gekommen."
"Spar dir die Dame, wenn du mich verulken willst, hexe ich dir einen deiner furchtbaren Käse an die Nase. Aber ja, ich erinnere mich. War auch nicht so angenehm, wie?"
"Nein, wirklich nicht. Es ist ganz furchtbar. Ich kann seit fünf Jahren nicht sitzen werte... ."
"Schon gut, schon gut", winkte Vettel Knorz ab. "Ich bin heute nicht hier, um dir etwas anzutun."
"Aber, aber was wollen Sie dann? Wollen Sie Käse kaufen?"
Die Hexe kniff etwas die Augen zu und funkelte den Bauern bedrohlich an.
"Nicht frech werden Freundchen, sonst überleg ichs mir nochmal."
Der Bauer hob schützend die daumenlosen Hände vor das Gesicht und gab ängstliche Geräusche von sich.
"Meine Güte, nun mach dir nicht gleich die Buxe voll. Sei lieber froh, dass ich heute hier bin, denn ich werde dich von deinem Leid erlösen."
Noch größerer Jammer erhob sich.
"Nein, nein, ich werde dir nichts antun, hör doch mal zu. Ich nehme den Fluch von dir." Damit vollführte Vettel Knorz komplizierte Bewegungen mit ihren langen, dürren Fingern, murmelte einige unverständliche Worte und plötzlich hatten die Hände vor Bauer Schröckers Gesicht wieder Daumen.
"Und? Besser?", die Hexe stützte sich auf ihren Stock und feixte.
Der Bauer betrachtete überrascht seine Hände. Dann befühlte er staunend sein Hinterteil. Er warf der Hexe noch einen verblüfften Blick zu und rannte dann schreiend davon.
"Danke werte Dame, vielen Dank, dass Ihr dieses Leiden von mir genommen habt. Daran hätte er ruhig mal dran denken können. Ach, schnickschnack."
Vettel Knorz winkte ab und trat den Rückweg zu ihrer Hütte an.
Die Dunkelheit hatte sich schon längst über den Wald gelegt und die alte Hexe hatte ihr Tagwerk beendet, als wieder die Tür ihrer Hütte unter kräftigem Klopfen erbebte. Sie öffnete und bat ihren bleichen Besucher herein.
"Nur herein Gevatter und bringt frohe Kunde."
Der Tod glitt in ihre Hütte und streckte kurz seine kalten Hände dem prasselnden Feuer entgegen, bevor er sich zu ihr umwandte.
"Ich habe deine Tat wohl gesehen", sprach er mit seiner Felsenstimme. "Aber dein Weg führt noch immer in die Flammen. Nun bleiben dir noch vier Tage."
"Schnickschnack, du willst mich schon wieder verkohlen, wie? Ich hab doch was Gutes getan. Kann der alte Stinker nicht wieder auf seinem Hintern sitzen und seine Kühe melken?"
"Ein Unrecht bleibt ein Unrecht und sei es auch zurückgenommen. Du musst deinem Herzen folgen, sonst führt dein Weg dich in die Flammen."
Der Bleiche tippte Vettel Knorz mit einem eisigen Finger auf die Brust. Entsetzt wich sie zurück, denn sie hatte das kommende Ende nun gefühlt.
"Heda, bleib mir vom Leib, ich habe noch Zeit!"
"Deine Zeit ist knapp. Wenn du mit Angst auf dein Ende siehst, wirst du dein Herz nicht hören."
"Ein edler Rat, von einem, vor dem alle Welt sich fürchtet. Wenn du nichts Besseres zu bieten hast, mach dich hinaus."
Damit riss die alte Hexe die Tür ihrer Hütte wieder auf und der Schattenhafte tauchte ein in die Nacht.
"Morgen sehen wir uns wieder. Vier Tage bleiben dir noch."
An diesem Abend fand Vettel Knorz zwar den Weg in ihr Bett, bevor der Schlaf sie übermannte, doch besser schlief sie deshalb nicht. Wieder wurde sie von dem bösen Traum geplagt. Dieses Mal war sie schon am Tor von Grimmwinkel angekommen und die höhnenden Rufe der erwartungsvollen Menge waren nun unverkennbar. Eben wollte sie sich umwenden und doch wieder in den Wald zu den peitschenden Bäumen zurückeilen, als ein baumlanger Hüne von einem Kerl sich durch die kleine Tür des Torhauses quetschte. Dieser Unhold war mit einer gefährlich aussehenden Pike bewaffnet, die er ihr ohne Vorwarnung kräftig in die Hinterbacke stieß. Vettel Knorz machte einen langen Satz nach vorn und hinkte nun flüchtend doch in die Stadt. Sie versuchte nicht zum Marktplatz zu gehen, sondern schlug verschlungene Wege durch die kleinen Gassen ein. Allein es wollte ihr nicht gelingen. Es war als stellten sich die Häuser um, sodass jeder Fluchtversuch sie immer in Richtung Markt führte. Irgendwann begannen in dem Gassenlabyrinth die Fensterläden aufzufliegen. Wütende Grimmwinkler bewarfen sie mit allerlei Unrat und letzten Endes stolperte sie nach wilder Hatz auf dem Markt, lag auf Knien auf dem Kopfsteinpflaster und der fackelbewehrte Mob verstummte und rückte näher.