Die Nacht verlief ruhig und ohne böse Träume, dennoch hielt es die alte Hexe nicht lange in den Federn. Zu groß war ihre Unruhe. Sie wollte sehen, ob der Trank, den sie am Abend zuvor gebraut hatte, seine Wirkung tat.
Im Morgengrauen brühte sie einen großen Krug Tee und nahm noch einen zweiten, leeren Krug auf ihrem Weg zu der dunklen Erle mit. Es hatte wochenlang nicht geregnet. Helenes Mann würde Durst haben, wenn im Licht der Sonne die Rinde von dem Stamm abfiel und Holz wieder zu Fleisch wurde.
Sie stellte den Tee bei der Erle ab. Noch war nichts geschehen. Die Sonne stand noch hinter dem Hügel. Mit dem leeren Krug ging sie den kurzen Weg zum Bach und schöpfte Wasser mit dem sie zu dem Baum zurückkehrte.
Eben stieg die Sonne über den Hügel. Im Augenblick, da die Strahlen den Baum trafen, fielen all seine Blätter von ihm ab, die Rinde begann zu dampfen, die Erle bog sich wie unter einem Sturm. Als die Sonne endlich den ganzen Stamm, bis hinab zur Wurzel beschien, sprang die Rinde auf und glitt von dem Holz, als wäre sie ein Umhang. Ein letztes Mal bog sich der inzwischen astlose Stamm, schwankte bedrohlich, kippte schließlich und entwurzelte sich selbst, dann lag ein nackter Mann auf dem Boden. Stumm und ohne Regung. Seine hellen Augen blickten in den blauen Himmel ohne ihn zu sehen. Vettel Knorz stieß ihn vorsichtig mit einem Fuß an der Schulter an.
"Heda, Holzfäller", sagte sie zögernd. Nie zuvor hatte sie einen der vorwitzigen Waldschlächter zurückgeholt, wenn sie einmal in Bäume verwandelt waren.
Da endlich, sog er einen tiefen schmerzerfüllten Atemzug in die Lunge. Hustend drehte er sich auf die Seite.
"Alles gut, du bist wieder da."
Sie war sich selbst nicht ganz sicher, ob die Wandlung so spurlos an ihm vorübergegangen war, wie sie es hoffte.
"Wer, wer bist du?", brachte der Holzfäller heiser hervor.
"Das klären wir gleich, trink erstmal was, du musst ja ganz ausgetrocknet sein.
Sie hielt ihm den Krug mit dem frischen Wasser hin. Er setzte sich auf, blickte sie kurz an ohne recht zu begreifen, warf dann einen Blick in den Krug, nahm ihn gierig in beide Hände und führte ihn zum Mund. In langen Zügen trank er das Wasser bis kaum noch etwas übrig war. Erst dann setzte er den Krug mit einem Keuchen auf dem Boden ab.
"Danke", sagte er.
"Nimm noch etwas Tee, damit du zu Kräften kommst und auch dein Kopf wieder wach wird." Die alte Hexe, hielt ihm nun den zweiten Krug hin.
"Du bist das! Die Hexe!"
"Ja, und? Meine Güte, ich hätte an eine Decke denken sollen." Vettel Knorz stellte ihm den Krug auf den Boden und wandte sich von dem nackten Mann ab." Er nahm den Krug, nun etwas behutsamer, roch vorsichtig an dem Inhalt.
"Es ist nur Tee", sagte sie über die Schulter hinweg.
"Du hast mir das angetan", sagte er, setzte aber trotzdem den Krug an die Lippen und trank.
"Trink in aller Ruhe, der Tee soll dir nur wieder auf die Beine helfen. Wenn du fertig bist, gehen wir zu meiner Hütte. So splitternackt kannst du nicht nach Hause kommen. Wirst du das schaffen? Es ist nicht weit." Er nickte.
In ihrer Hütte angekommen, servierte Vettel Knorz einige Scheiben Brot und stellte dazu Butter auf den Tisch.
"Iss etwas, damit du wieder zu Kräften kommst. Ich möchte, dass du noch heute zu deiner Frau zurückkehrst. Wie ist dein Name?"
"Baldur", brachte er, zwischen zwei gierigen Bissen hervor. "Und du?"
"Du weißt, wer ich bin. Nenn mich Knorz. Ich werde mal sehen, ob ich etwas finde, das du dir überwerfen kannst."
Schließlich schnürte ihm die Hexe aus einem Bettlaken und einem Lederriemen eine Tunika. "Das wird den Zweck erfüllen, denke ich", sagte sie mit einem abschätzenden Blick auf den nun bedeckten Holzfäller.
"Wie siehts aus Baldur? Wirst du den Weg schaffen?"
"Es wird wohl gehen", sagte er.
"Bis zum Waldrand kann ich dich begleiten, danach musst du allein zu eurem Hof kommen. Ich werde außenrum gehen. Du solltest nicht mit mir gesehen werden, wenn du weiter hier leben willst."
Sie machten sich auf den Weg und gingen vor, wie besprochen. Baldur Seliger ging, mit noch etwas staksigen Schritten, geradewegs durch Grimmwinkel. Vettel Knorz konnte kein Horn hören, dass als Alarm geblasen wurde. Niemand würde sie beachten, wenn sie sich nur hinter den Bäumen hielt, dem Mühlpfad folgte und allen aus dem Weg ging, die hier sonst noch unterwegs sein mochten. Doch es blieb still auf dem schmalen Weg. Die Rückkehr des Holzfällers dürfte in der Stadt für große Aufmerksamkeit sorgen und das war ihr nur recht. Bald schon langte sie an der Mühle an, steckte vorsichtig den Kopf aus dem Buschwerk und fand den Mühlplatz leer, doch das würde er nicht lange bleiben. Vom Markt her wehte die leichte Brise vereinzelte Fetzen von Jubel und Geschrei heran. 'Sicher werden sie ihn herbringen', dachte sie.
Eilig überquerte Vettel Knorz den Mühlplatz und klopfte an Helenes Tür. Die Frau des Holzfällers öffnete.
"Guten Tag. Sie sind tatsächlich wieder hergekommen."
"Na klar, hab ich doch gesagt."
Helene hob den Kopf und spähte in Richtung des sich nähernden Tumultes. "Was ist da los?"
"Sie bringen deinen Mann. Dürfte ich reinkommen? Es wäre sicher nicht so gut, wenn man mich hier sieht", sagte Vettel Knorz.
"Sicher, sicher", antwortete Helene, ließ sie an sich vorbei ins Haus huschen und lief selbst dem Lärm entgegen.
Es gab ein großes Hurra etwas weiter unten in der Straße. Die Menge umrahmte und bejubelte das wiedervereinte Paar geraume Zeit. Endlich zerstreute sich der Pulk. Helene und Baldur kamen ins Haus und die alte Hexe erwartete sie am Küchentisch sitzend.
"Danke, dass du ihn mir wiedergebracht hast", Helenes Augen schwammen in Tränen des Glücks. "Ach schnickschnack", winkte Vettel Knorz ab. "Ich hatte ihn dir schließlich auch genommen. Warum musste er auch im Bannkreis Holz schlagen."
"Nun müssen wir nur noch unseren Jungen finden."
"Wo ist er denn?", fragte Baldur. "Er ist aufgebrochen, um dich zu suchen", antwortete Helene. "Darum werde ich mich kümmern.", warf Vettel Knorz ein.
Baldur brauste auf. "Hast du ihn etwa auch zu einem Baum werden lassen?" "Nein, habe ich nicht. Ich habe auch keine Kunde erhalten, dass er auch nur in der Nähe meiner Hütte gewesen wäre. Aber ich habe Nachricht über ihn und kann euch nicht sicher sagen, ob es mir möglich sein wird, ihn euch zurückzugeben, vielleicht ist er für immer verloren."
Helene schlug die Hände vor das Gesicht und weinte bitterlich. Baldur dagegen sah die Hexe flehend an. "Bitte, wenn du etwas tun kannst, hilf ihm."
"Ich werde tun, was mir möglich ist", sagte Vettel Knorz. "Doch erst heute Nacht werde ich wissen, wieviel das wirklich ist." Damit erhob sie sich vom Küchentisch und spähte durch das Fenster auf die Straße. Im Moment war niemand zu sehen, aber das würde sicherlich nicht so bleiben. Viele würden kommen und dem Paar ihre Aufwartung machen.
"Ich muss euch nun verlassen. Lebt wohl ihr Beiden, wir werden uns nicht wiedersehen, doch ihr werdet Kunde von mir erhalten." Baldur nickte ihr zu und wandte sich dann wieder seiner Frau zu, die völlig aufgelöst an seiner Schulter weinte. Die Hexe verließ das Haus der Seligers.
Auch auf dem Rückweg wollte sie nicht gesehen werden, deshalb nahm sie erneut den Mühlpfad. Obwohl sie darauf achtete niemandem über den Weg zu laufen, traf Vettel Knorz auf der Hälfte der Strecke unversehens auf einen ärmlich bekleideten, schmutzigen Jungen. Der Kleine brach plötzlich von der Stadtseite her durch das Buschwerk und stolperte in die alte Hexe hinein. Er fiel zu Boden, rappelte sich aber sofort wieder auf. Als der Junge Vettel Knorz erkannte, nahm er die Beine in die Hand. Geistesgegenwärtig wies die Hexe mit einem ihrer langen Finger auf ihn und befahl: "Steh und schweig!"
Wie festgefroren erstarrte der Junge mitten im Lauf. Vettel Knorz hinkte zu ihm und betrachtete ihn grinsend. "Ich werde dich jetzt wieder sprechen lassen, Junge. Lass dir nicht einfallen rumzuschreien. Wenn du doch schreist, hast du ruckzuck einen Schwarm Bienen im Mund." Flüsternd deutete sie mit ihrem langen Zeigefinger auf seinen Mund.
"So, nun sage mir: Gehörst du zum Großbauern Häufel?"
"Ja, ich bin Stalljunge." Der Junge war erstaunlich ruhig. Er hatte wohl von den Wohltaten der Hexe in den letzten Tagen gehört.
"Nun, dann gehe zu deinem Herrn und überbringe ihm folgende Botschaft: Er soll das Vieh, welches er der Witwe Seliger abgeschwatzt hat zurückgeben und noch eine großzügige Entschädigung für seine Frechheit drauflegen. Er sollte sich schämen ihre Not so ausgenutzt zu haben."
"Das kann ich ihm nicht sagen, verehrte Dame. Er wird mir die Ohren langziehen und mich mit Tritten wieder in den Stall befördern." Jetzt lag doch ein leichtes Zittern in seiner Stimme.
"Du kannst es ihm sagen und sage ihm außerdem: Wenn er sich nicht daran hält oder mir zu Ohren kommt, dass er weiterhin seine Knechte schindet, werde ich dafür sorgen, dass jede kommende Ernte gerade noch reicht seinen eigenen Topf zu füllen und ihm sämtliches Vieh eingeht."
"Aber er wird mir nicht glauben, dass ich die Anweisung von Euch habe", wandte der Stalljunge ein.
"Das wird er. Ein Mal wird auf seiner Hand erscheinen, ein schwarzes Mal. Widerspricht er, wird es wachsen, hält er sich daran, was ihm geboten ist, wird es schrumpfen, aber tragen wird er es ab jetzt für immer. Und nun geh." Damit flüsterte sie erneut indem sie auf ihn wies und plötzlich konnte er sich wieder bewegen. Sofort stolperte der Junge durch die Bresche, die er zuvor in die Büsche geschlagen hatte und war verschwunden. Vettel Knorz setzte zufrieden ihren Weg zurück in den Wald fort.
Den Rest des Tages verbrachte sie über ihren Büchern, wirkte neue Bannzauber, braute eifrig Tränke und begann ein ganz besonderes Schmuckstück vorzubereiten, bis ihr allabendlicher Besucher erneut gegen die Tür ihrer Hütte polterte.
Vettel Knorz öffnete und bat den bleichen Gast herein.
"Du hast wohlgetan, doch wie ich gestern schon sagte: Auch dieses Unrecht, sei es auch nicht an der Frau begangen, ist durch deine Hand geschehen", knirschte der Gevatter.
"Ja, ich habe es verstanden", antwortete die Hexe. "Viel wichtiger ist jedoch meine Frage. Lass mich wissen, werter Gevatter, ist es möglich den Jungen der Seligers zurückzuholen, wenn ich ihm meinen letzten Tag schenke?"
"Ein Tausch ist möglich, doch bleibt ihm nur die Zeit, die dir noch bliebe und bedenke, dass der Geist ohne den Körper nicht leben kann."
"Dann sei so gut und sage mir wo ich den Körper finden kann", bat Vettel Knorz. Wieder glitt der Bleiche zur Feuerstelle hinüber und streckte seine Knochenfinger dem Feuer entgegen.
"Er liegt im Moor, ganz in der Nähe der leeren Biberburg. Du wirst ihn bergen müssen." Er wandte sich der Hexe zu, als würde er eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage erwarten.
Die Hexe ihrerseits sah zu ihm auf, doch hielt sie dem kühl glimmenden Blick nicht stand. Sie hinkte zum Schaukelstuhl hinüber und ließ sich darin nieder. "Ja", sagte sie versonnen. "Ja, ich muss ihn finden. Was muss ich sonst noch tun?"
"Du willst also wirklich deine Zeit gegen seine tauschen. Nun, dazu bedarf es nicht viel. Finde seinen Körper, befreie ihn von allem was ihn das Leben kostete und bedenke, dass du selbst diese Welt verlassen wirst, wenn der Wechsel vollzogen wird."
"Ja natürlich, ich werde es bedenken. Danke Gevatter." Mühsam erhob sie sich, um ihren finsteren Besucher wieder hinaus zu lassen.
"Dann sehen wir uns morgen zum letzten Mal. Dir bleibt noch ein Tag." Er glitt hinaus in die Nacht und verschmolz mit der Schwärze des Waldes. Vettel Knorz konnte nicht zu Bett gehen. Sie hatte den morgigen Tag noch vorzubereiten.
Nachdem sie noch in ein paar weiteren ihrer Bücher geblättert hatte, ging auch sie hinaus in den dunklen Wald. Recht schnell machte sie ein paar Fledermäuse ausfindig und entsandte sie in die Nacht. Sobald ihre Kundschafter die Hexe unterrichtet hatten, schlug sie sich ins Unterholz.
Zielstrebig näherte sie sich einer Rotte Wildschweine. Die Borstentiere erhielten den Auftrag das Moor zu durchstöbern, den Jungen zu finden und freizulegen.
Erst jetzt konnte die Hexe zu ihrer Hütte zurückkehren. Doch auch dort hatte sie noch genug zu tun.