“Okay, und das ist also das... Haus?”, fragte Jule skeptisch und schaute kritisch die alten Fensterläden, die so kunterbunt angemalt waren, als hätte sich ein Künstler auf LSD daran ausgetobt, an. Während die im ersten Stock fast schon das Zeitliche zu segnen schienen, so ausgeblichen und kaputt hingen sie an der Fassade, waren im zweiten Stock nur noch teilweise die Lichtschutzobjekte vorhanden. Jule kratzte sich am Kopf, verwuschelte damit das noch von der Schicht fettige Haar und ging auf die Tür zu. Die Haustür war grün und marode, aus Holz und mit kaugummirosa Blumen in der Mitte. Moment mal, waren das echte Kaugummis?! Jule war sich nicht sicher, ob sie das wirklich weiter beobachten wollte. Ebenso genervt wie auch erschöpft suchte sie nach einer Klingel. Doch ihre Größe machte es Jule nicht leicht, viel zu sehen. Gut, sie passte durch jede alte Haustür, dessen Haus im Mittelalter erbaut worden war. Doch das half ihr nicht, an dem verschrobenen Haus eine Klingel zu finden. Schließlich reckte sich Jule und blinzelte, als sie den grünen Lederriemen sah, der genau über ihrem Kopf hing.
“Hä?”, machte sie nur und blickte nach oben. Tatsächlich. Direkt über der abgerundeten Tür war eine bronzene Glocke befestigt, größer als ihre Hand. Doch bei dieser ganzen farblichen Geschmacksverirrung hätte Jule selbst die Glocke dann nicht gefunden, wenn man mit Leuchtpfeilen darauf gezeigt hätte.
“Dann mal los”, sprach sie sich selbst Mut zu, kam gerade so an den Riemen und bimmelte, was das Zeug hielt. Schreiend und kreischend flogen sämtliche Vögel im Umkreis von einem Kilometer aus den Bäumen auf. Sicherlich würde sie in dieser ruhigen Nachbarschaft voller lieblich geschmückten Vorgärten und fein säuberlich gereinigten Wegen alle aufwecken. So wie die Vögel gerade eben. Im Inneren raschelte etwas laut, dann polterte etwas. Jule blieb ruhig. Es konnte nicht schlimmer sein als die Wohnungsbesichtigungen davor.
“Moment!”, rief es von drinnen, dann polterte es wieder und dann schepperte es laut, als wäre ein ganzer Turm Töpfe umgefallen. Es folgten einige sehr kreative Flüche, bei denen sogar Jule beeindruckt die Augenbrauen hochzog, die von ihrem Job her einiges gewöhnt war. Dann wurde die Tür aufgerissen und vor ihr stand eine junge Frau etwa in Jules Alter. Die roten Haare waren zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden, die grauen Augen musterten Jule aus dem blassen Gesicht heraus. Sie sah nicht aus, als würde sie oft vor die Tür gehen. Die ziemlich zierliche Frau trug eine Latzhose mit bunten Farbflecken. Na, das würde wohl das Haus erklären…
“Hallo, ich bin hier wegen der Annonce.” Jule hielt den Zeitungsschnipsel hoch. Sie zeigte mit dem schwieligen Finger darauf und fragte: “Und du bist… Bergmann? Lotte Bergmann?” Die Stirn warf sich in Falten so wie die Models auf dem Laufsteg sich in Posen warfen. Einfach in der Hoffnung, dass es sich bei der kuriosen Gestalt vor Jule nicht um die Frau handelte, die eine Mitbewohnerin suchte.
“Ne, die wohnt nebenan.” Die Frau deutete auf das Nebenhaus und Jule wollte schon erleichtert seufzen, als die Frau laut zu lachen begann. “Scherz, ich bin Lotte. The one and only fabulous Lotte.” Sie schwang ihren Pinsel mit einer dramatischen Geste, wobei er ihr aus der Hand flog und sie ihn vergeblich noch zu fangen versuchte, bevor er, der in grüne Farbe getaucht war, in Jules Gesicht landete. Wie gesagt: Vergeblich. Jule wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, während Lotte fortfuhr: “Du kannst mich übrigens entweder so ansprechen oder mit Dunkle Majestät, ich bin da nicht wählerisch.”
“Aha”, machte Jule und versuchte, hinter Lotte in den Gang zu spähen. Doch sie war leider, trotz ihrer relativ dürren Gestalt, zu groß für die Polizistin. “Jule”, begrüßte sie die Vermieterin launisch und sah ihr in die grauen Augen. Provokant, wie Jule nun einmal war, hielt sie nicht einmal die Hand hin, sondern musterte erneut die seltsame Fassade.
“Wie alt ist’n das Ding hier?”, schoss er aus ihr heraus, bevor sich ihre Lippen wieder zusammenpressten. Sie sollte wirklich aufhören, nach der 12-Stunden-Schicht in der Gegend herumzugeistern. Ihr hingen die Augenringe bis zum Kinn und die Falten machten es nicht besser. Mist, sie hatte ihr Bettlaken vergessen. Jetzt war das Schlafen im Auto wohl auch passe.
“Also, ich hab’s nicht gebaut, also keine Ahnung. Aber auch, wenn Hugo schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat, ist er noch echt super in Schuss. Na ja, okay, mittelmäßig in Schuss!”
“Hugo? Du benennst dein Haus?”
“Ja, nach dem Bösewicht in dieser grandiosen Story, in der die Autoren offenbar die ganze Zeit auf Drogen waren.”
“Muss ja ‘n richtig Gutes gewesen sein”, brummte Jule und schielte über die roten zerzausten Haare. “Können wir dann, ich hab noch ‘ne Schicht vor mir und will wenigstens ein wenig Schlaf abbekommen.”
“Moment noch, ich hab vorher noch eine Frage. Oder in deinem Fall zwei. Also, erstens: Wie stehst du zur Menschheit? Und zweitens: Hast du dich als Zwerg verkleidet oder bist du wirklich so klein?”
Sofort schoss der Kopf der Frau zu Lotte hoch und sie knurrte wütend. Am liebsten würde sie ihre Arme heben, doch die Müdigkeit in den Gliedern hielt Jule davon ab. “Nee, mein Stamm der Miniaturriesen ist weitergezogen und ich hab den Abzug verpennt”, brummte sie die dümmste Antwort, die ihr einfiel. “Und wieso sollte ich Menschen mögen? Sie sind laut, stinken und nerven.” Sofort schlossen sich die Augen und Jule hielt den Atem an. Sie hatte das wirklich gesagt? Egal, nun war es heraus.
Lotte grinste breit und trat einen Schritt zur Seite. “Willkommen und hereinspaziert!”
Jule blinzelte verwirrt und schaute in den dunklen Eingang. War es wirklich eine gute Idee in das Haus dieser offenkundig durchgeknallten Irren zu gehen?