Jule trat über die Türschwelle und fühlte sich sofort unwohl. Keine Lampe über ihr, das linke Mauerwerk war grau, fast jeder Stein hing heraus und fiel aus der Wand. Jedenfalls stellte sie sich das so vor, denn wirklich sehen konnte sie nichts, als die Haustür hinter ihr zugeschlagen wurde. Irgendwo sorgte eine metallische Vibration für das Höchste der Gefühle, im negativen Sinn.
“‘n bisschen Licht wäre cool”, murmelte die übermüdete Polizistin. Wenngleich sie in den Nachtschichten die Augen offen halten konnte (besonders geeignet dafür war Gaffertape, notfalls erfüllte aber auch Tesafilm seinen Zweck, Kreppband war dagegen erfahrungsgemäß weniger zu gebrauchen), war nach dem Ende der Schicht der Schalter auf “OFF”, sodass sie gerade noch so ins Auto steigen und nach Hause fahren konnte. Wie sie dann immer in ihren freien Tagen direkt nach den Nachtschichten das Bett fand, war ihr jedes Mal ein Rätsel.
Entsprechend war die Dunkelheit hier nicht zu ihrem Vorteil und aus ihrer Kehle schlüpfte ein tiefes Gähnen.
“Hättest du eben eine Taschenlampe mitbringen müssen”, entgegnete Lotte ungerührt.
“Tut mir leid”, sagte Jule ebenso sarkastisch und fühlte mit den Händen voraus nach einem Schalter. “Ich kann eben nicht immer für Zwei denken. Gerade mit dem Praktikanten heute Nacht war es besonders schlimm.” Ihr Grummeln trug nicht dazu bei, dass die Stimmung sich hob, doch hinter ihr hörte sie ein Kichern.
“Lange Nacht gehabt?”, fragte Lotte und sofort blitzte es hell auf. Jule kniff unterbewusst sofort die Augen zusammen und ging in Angriffsstellung. Sofort lag die rechte Hand an ihrer Hüfte, sie beugte sich leicht vor und machte sich damit kleiner. Auch das übergroße Hemd schob sich hoch, der Griff wurde umschlossen von der feuchtwarmen Hand. Das rechte Bein schob sich nach hinten und damit auch die Hüfte mit dem gefährlichen Gegenstand. Jule atmete kontrolliert aus, öffnete schnell die Augen. Die Schultern entspannten sich sofort und sie richtete sich wieder auf, als die junge Frau einen Raum vor sich sah.
“Ist das eine Pistole?” Lotte deutete auf den Griff, der kurz unter dem Hemd aufgeblitzt war, bevor Jule das Hemd wieder zurecht zog. Jule konnte den Blick in den Augen ihres Gegenübers nicht deuten. War das Neugier? Faszination? Oder Mordlust?
“Und wenn es so wäre?”, entgegnete Jule.
“Dann hättest du definitiv einen Pluspunkt. Ich wollte schon immer mal auf etwas schießen!”
“Das kommt überhaupt nicht in Frage.”
“Abwarten.” Vergnügt drehte Lotte sich um, um den Flur zu verlassen und knallte lautstark gegen eine Kommode, bei der alle Schubladen offen standen. Sofort hallte der dumpfe Laut in dem Gang.
“Achtung, Schrank”, sagte Lotte und rieb sich das Stirnbein. Warum hatte sie nur die Angewohnheit, keine Schubladen zu schließen?
Jule grinste. “Wäre mir jetzt nicht aufgefallen, nachdem du ihn so lautstark angekündigt hast.” Wieso war ihr die Frau irgendwie sympathisch?
“Hahaha”, machte Lotte freudlos und lief gegen die Glastür, die den Übergang vom Flur zum nächsten Raum markierte.
“Vorsicht, Glastür?”, riet Jule spöttisch. Die Frau war eine Gefährdung für sich selbst. Die Polizistin wollte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, hätte Lotte tatsächlich eine Waffe bei sich. Das würde garantiert mit Löchern in den Wänden enden. Oder wahlweise auch mit Löchern in daher gelaufenenen Passanten. Deshalb lief Jule an Lotte vorbei, die sich benebelt die Stirn rieb und die Tür aufhielt, sodass beide in den Raum traten.
Zwischen den ganzen verwaisten Möbels und den tausenden von Spinnenweben in den Gewölbeecken (Lotte betrieb nämlich eine Spinnenzucht, die ihr praktischerweise sonstiges Ungeziefer vom Hals hielten), erkannte Jule zwischendrin Holz und Mauerwerke, Beton und Verputztes. Irgendwo war die Renovierung in den letzten Jahren stehen geblieben, doch Jule wusste beim besten Willen nicht wo. Oder wann. Besonders das Zentrum des zugestellten Kellers wirkte interessant. Eine Staffelei stand ungerührt in der Mitte, davor ein Schrank mit offenen Schubladen. Doch diese waren leer. Dahinter sah Jule aufgrund des Lichtes einer einzigen Glühlampe nicht viel. Doch das wollte sie auch nicht. Besonders war allerdings der offene, aber noch volle Farbeimer.
“Bist du… Künstlerin?”, fragte Jule verwirrt und lief auf die Staffelei zu. Eine Sitzmöglichkeit gab es nicht. Doch das Holzgerüst war nicht größer als Jules Hüfte. Dabei war sie selbst ja keine 1,60.
Lotte trat näher. “Jupp.” Jule drehte sich um, als Lotte an ihr vorbei ging und sich vorbeugte. “Hab aber noch den Pinsel drin.” Dann nahm die Rothaarige die hohle Hand und tunkte sie in den Farbeimer. Als wäre es kalte Suppe und der Arm der Kochlöffel, rührte Lotte darin herum, bis selbst der Ellenbogen voller Farbe war. Die sorgfältig komponierte Mischung aus Regenbogenfarben hatte sich zu einem undefinierbaren Braun vermengt.
“Aha”, machte Jule nur und schaute zu, wie stolz Lotte ihren kleinen Borstenpinsel in die Höhe hielt. Dass dabei der gesamte Boden vollgetropft wurde, war der Hausbesitzerin wohl egal.
“Wollen wir dann…?”, fragte Jule.
Lotte nickte und schüttelte kräftig mit dem Arm, sodass die Tropfen überall hin flogen - auch auf Jule. “Schöner Regenbogen, findest du nicht?” Das Lächeln Lottes könnte von einer Fünfjährigen stammen, der allein auf Klo gehen konnte.
“Sicher”, brummte die Besucherin und schmierte sich den Dreck von der Wange. “So schön wie die Klobürste auf der Diensttoilette.”
Autoren-Anmerkung für den verwirrten Leser zum Schluss: Diese Verwirrung ist ganz normal. Das ist noch kein Grund, sich Sorgen zu machen. Andere Nebenwirkungen dieses Kapitels können sein: Verzweiflung; Wahnsinn; das dringende Bedürfnis, das Lesen ungeschehen zu machen und sich das Gehirn zu verätzen. Die Autorinnen übernehmen ausdrücklich keine Haftung für solche Vorkommnisse. Wer tatsächlich einen roten Faden findet, darf ihn behalten, das müssen die Reste sein, die übrig geblieben sind, nachdem wir den roten Faden gegessen haben. Der rote Faden schmeckt besonders mit Koriander und Pfeffer!
Rezeptanleitung: Man nehme den roten Faden und schneide ihn in daumenbreite Stücke. Dann bestreiche man ihn mit Öl und reibe ihn mit Pfeffer, Salz und einer Prise Koriander ein. Wenn man es noch etwas schärfer mag, dann kann man noch ein Stückchen Ingwer raspeln und untermischen. Et voilà! Ein schnelles und einfaches Gericht!