Die Sonne stand tief, sodass die Strahlen warm und weich in Jules neuem Zimmer hätten dringen können. Die Betonung lag auf könnten, wären da nicht die Fenster gewesen. Obwohl sich Jule nicht sicher war, ob das überhaupt Fenster waren, vielleicht waren es auch Platten. Auf jeden Fall waren mehrere Schichten Schmutz drauf, die sicherlich eine Geschichte erzählten. Eine Geschichte, die Jule lieber nicht wissen wollte. Wenigstens würde sie da den Fensterladen nicht brauchen, der noch immer im Garten lag. Ob die Hummel wohl noch lebte oder bereits von einem anderen Fensterladen erschlagen worden war? Wie viele Fensterläden mochte es bei diesem Haus geben, die noch nicht in den Garten gefallen waren?
Jule schüttelte den Kopf und verdrängte die seltsamen Gedanken. Licht war ihr zwar zuwider, aber vollkommen in der Dunkelheit zu leben war für sie auch keine Option. Also ging sie widerwillig aus ihrem Zimmer und machte sich auf die Suche nach Lotte, von der sie eigentlich gar nicht wissen wollte, was die trieb und froh gewesen war, dass sie ihre Ruhe vor ihrer seltsamen Mitbewohnerin hatte.
Sie fand Lotte, die in der Küche das gammlige Obst mit Farbe bemalte. Jule beschloss augenblicklich, lieber nicht zu fragen und sofort mit ihrem Anliegen herauszurücken: “Hast du hier irgendwo Putzsachen?”
“Nein, sowas brauchen wir hier nicht. Ich mag Hugo so, wie er ist”, entgegnete Lotte voll auf ihre Malerei konzentriert.
“Ähm… Und was ist mit meinen Fenstern?”
“Oh, warte!” Lotte griff nach einigen Farbeimern, die in der Küche verteilt standen, griff danach und deutete mit einem Kopfnicken auf die Obstschale. “Oh, das ist ein Stilleben in modern. Ich habe einige Stellen”, sie zeigte mit einem weitem Grinsen darauf “So gelassen, damit man noch erkennt, was das ist.” Sie hielt die mit Fruchtfliegen übersäte Schüssel unter Jules Nase. “Mein Einzugsgeschenk für dich!”
Zögerlich nahm Jule das Geschenk an. Es lag nicht an dem Gestank, der von dem wohl wochenaltem Obst ausging. Als Polistin roch man weitaus Schlimmeres. Vielmehr konnte sie nicht mit Freundlichkeit umgehen, die ihr nun zuteil wurde. Ihr kam es nicht richtig vor, sich zu freuen, weil Freude eben so toll war. Und einfach abstellen konnte sie die Schüssel auch nicht, immerhin würde Lotte vermutlich in Tränen ausbrechen. Also tat sie das einzige, was ihr einfach: Auf die Tränendrüse drücken und bitterlich weinen.
Lotte strahlte. “Das passt ganz wundervoll zu der Pferdente. Die kannst du auf deinen Schreibtisch stellen!”
“Ja, das ist auch das einzige, was drauf stehen kann”, murmelte Jule und schniefte kurz theatralisch. Hoffentlich nahm man ihr die Dramatik ab, die sie sich von den zahlreichen Festnahmen abgeschaut hatte. Die letzte Nachtschicht war das perfekte Beispiel gewesen: Ein junger Mann hatte besoffen die Fensterscheibe eines Ladens eingeschlagen, Jule und Wilhelm hatten sich sofort in Bewegung gesetzt. Kaum an dem Tatort angekommen und den Besoffenen festgenommen, jaulte dieser im Takt der Radiomusik sein dramatisches Leben ab. Er habe doch nur fünf Kinder und eine arbeitslose Frau, hatte er im Singsang geheult. Dabei hielt er seine gefesselten, notgedrungen verbundenen Hände an die Brust. Er würde unter der Brücke leben und vom Regenwasser und Grashalmen leben. Wenn er Glück habe, fand er ab und an einen Regenwurm. Der verzogene Mund hatte einer Fratze geglichen, der Gestank nach Alkohol hatte die Luft verpestet. Als die Polizisten nicht auf seine Show eingegangen waren, wiederholte er die Prozedur und nahm noch seinen Hund mit drei Beinen hinzu. Witzigerweise hatte der Täter seinen maßgeschneiderten Anzug vollgeblutet und später das Auto vollgekotzt.
Jule blinzelte, als sie merkte, dass Lotte sie immer noch abwartend anstarrte.
“Was hast du gesagt?”, fragte die Künstlerin.
“Ich wollte nur Danke für die Großzügigkeit sagen”, sagte die Polistin mit einem falschen Lächeln und schniefte erneut.
“Können wir dann gehen?” Lotte marschierte mit den Farbeimern geradewegs in Jules Zimmer. Ehe Jule wusste, was geschah, hatte Lotte den Pinsel durch die pinke Farbe gezogen und einen breiten Strich über das Fenster gezogen.
“Was zum Teufel tust du da?”, entfuhr Jule entgeistert.
“Ich male den Schmutz über”, erklärte Lotte wie selbstverständlich.
“Ja, natürlich”, meinte Jule, wobei der Spott in ihrer Stimme Lotte entging, die wieder den Pinsel in die Farbe tauchte, während Jule überlegte, wie sie Lotte am besten davon abhielt, die ganzen verdammten Fenster mit diesem grässliche Pink zu streichen. Fesseln und knebeln?, schlug ihr Gehirn vor.
Bevor sie jedoch der überaus verlockenden Versuchung nachkommen konnte, ließ Lotte auch schon den Pinsel in den Farbeimer fallen, der mal wieder im Ganzen in der Farbe verschwand. Jule ahnte, dass sie nachher womöglich wieder ein Farbbad bekommen würde. Oder einen Handabdruck auf der Tapete. Besser sie dachte nicht darüber nach. Lotte konnte womöglich Gedanken lesen und würde es dann auch noch tun… “Oh, ich hab noch was vergessen. Ich wollte dir ja noch die kunstphilosophische Abhandlung geben. Dann hast du auch was zu tun, während ich mich um die Fenster kümmere!”
“Ich…” Muss auch noch die Möbel aufbauen, wollte Jule sagen, aber bevor sie den Satz auch nur angefangen hatte, war Lotte schon aus dem Zimmer. Jule seufzte. Da kam Lotte auch schon mit einem Buch zurück, dass sie der Polistin mit einem Lächeln überreichte.
Eher widerwillig schlug Jule das Buch auf und sah weiße Seiten. Sehr viele weiße Seiten. Nur weiße Seiten, das ganze Buch voll. “Äh, das hat aber nur weiße Seiten”, bemerkte sie vorsichtig.
“Ja, genau, darum geht es doch! Die verschiedenen Abstufungen von Weiß! Jede Seite sieht anders aus”, erklärte Lotte. Jule nickte, obwohl für sie alle Seiten gleich aussahen. Bis auf die Seite mit dem Kaffeefleck. Oder der toten Fliege, die offenbar zwischen den Seiten zerquetscht worden war.
“Und damit kann man Geld verdienen?” Indem Idioten wie diese verschrobene Künstlerin solche Bücher kauften. Vielleicht sollte sie ihre Berufswahl überdenken. Weniger direkten Menschenkontakt. Wäre sichtlich gesünder als sich mit Menschen über ihre kulinarischen Bedürfnisse wie Regenwürmer zu unterhalten.
“Ja klar,” flötete Lotte und griff nach dem Pinsel.
“Danke”, murmelte die Polistin noch, doch das Wort hörte Lotte kaum mehr. Die Farbtupfer verbanden sich zu einem Strich und die Künstlerin verband die dickeren und dreckigen Stellen miteinander. “Dein ganz persönliches Sternbild”, summte sie und grinste stolz. Es sah aus wie die Pffffffffffferdente (die Nadel auf der Schallplatte in ihrem Kopf war kurz hängen geblieben oder der kleine Wichtel in ihrem Kopf, der ihre Gedanken schrieb, mit dem Kopf auf die Tastatur geknallt), die Lotte auf dem Schrottplatz so künsterlisch wie grob aus dem Drähten verbogen hatte.
Lotte drehte sich um und erkannte auf dem klapprigen Gestell in der Ecke die grüne Plane. Auf ihr ruhte das Objekt, als mehr konnte Jule das Ding nicht beschreiben. Würde sie im Geiste die Pferdente als Schrott betiteln, so würde sie es irgendwann unbewusst aussprechen. Die Stöcke waren mit Pappmaschee am Boden befestigt. Laut Lotte würde man Beton schlecht wegbekommen und getrocknete Farbe hielt nicht so gut, nur in ihren Eimern.
Jule wagte es nicht, zu atmen. Selbst bei dem kleinsten Lufthauch würde das Objekt in sich zusammenfallen. Auch die Fenster würde sie nie wieder in ihrem Leben aufmachen dürfen. Die Polistin zuckte mit den Achseln. Frische Luft war eh für überbewertete Normalos.
Fehlte nur noch der Schrank, den sie immer noch nicht hatte. Vielleicht rangierte der Staat ja noch einen Alten aus, den sie für ihre Uniform nutzen konnte. Und wo schlief sie eigentlich?
Ein kurzer Blick auf die Uhr ließ sie innehalten. Sie hatte morgen Frühschicht. Verdammt. Dabei hasste sie früh aufstehen.