Würde die Sonne hoch am Himmel stehen, wäre Jule schon lange wieder bei Hugo und Lotte. Aber es war mitten in der Nacht, ihr Nacken war steif und der Espresso schmeckte nach einer Mischung aus getrockneter Farbe und Zucker. Obwohl sie keinen Zucker in das Kaffeepulver gemischt hatte und ihren Kaffee immer schwarz zu sich nahm. Aber Kaffee war Kaffee. Und Kaffee war Koffein. Ihre Sucht war gestillt und ihre Laune an einem Tiefpunkt. Aber sie war wach und konnte sich unterhalten. Was nicht hieß, dass Jule Unterhaltungen führen wollte.
Entsprechend müde und vollkommen ausgelaugt - am Morgen! - stand sie vor der Kaffeemaschine und wartete, bis die zweite Kanne durchlief. Dass nun Finn in die Teeküche marschierte, bekam ihr in dem Moment gar nicht. Vor allem das ekelhaft motivierte Grinsen auf seinem Gesicht ertrug sie nicht. Bevor sie in Versuchung kam, es ihm vom Gesicht zu schlagen, ließ Jule den Blick durch den Raum gleiten, doch viel Ablenkung fand sie nicht. Der Tisch war vollgestellt mit allerlei Prüfgeräten und Ordnern, auf den Stuhl wollte sich Jule nicht setzen, sonst würde sie einschlafen und die Theke bot Platz für eine Kaffeemaschine und ein paar Tassen. Die Wände waren einmal weiß gewesen und die Luft war ohne Fenster im Raum derart stickig, dass selbst Viren und Bakterien dahinschieden. Jule hatte sich immer gewundert, wieso sie nie krank wurde.
“Guten Morgen”, trällerte Finn glücklich und ignorierte die säuerliche Miene vor sich. Jule bekam das kalte Kotzen und grummelte nur. Sie versuchte, in ihren künftigen Kaffee abzutauchen. Im Moment wäre sie auch geneigt, sich in ihrem Kaffee zu ertränken, wenn sie dafür Finn entkommen könnte.
Finn schnüffelte. “Was riecht hier denn so?” Tief sog er die Luft ein. “Das riecht nach… Farbe?”
“Bin umgezogen”, knurrte Jule.
“In einen Farbeimer?”, lachte Wilhelm, als er auch in den Raum trat. Der junge Mann mit braunen kurzen Haaren, die farblich passend zu seinem Beruf als Streifenhörnchen, das nur Befehle ausführte, waren - in Jule tauchte kurz der Gedanke auf, ob diese Dynamik mit Finn als Befehlsausgeber auch in gewissen anderen Kontexten zum Tragen kam, verdrängte die Frage und die dazugehörenden Bilder aber umgehend, bevor die Situation noch peinlich wurde -, hob eine Hand zum Gruß und schaute auf die Kaffeemaschine, die immer noch gefährlich laut vor sich hintuckerte. “Können die nicht mal eine neue besorgen, die ist doch bestimmt auch schon ewig alt?”
“Läuft doch noch”, meinte Finn und grinste. “Nur knappe 20 Jahre alt. Selbst mein Vorgesetzter hatte die für alt empfunden.”
Jule hob die Augenbrauen, goss sich die Tasse ein und ignorierte Wilhelms ausgestreckte Hand. Sie stellte die Kanne auf die Tresen und schlürfte lautstark an der Plörre.
“Jule - wie immer eine Freude dich zu sehen”, grinste Finn und griff nach dem Kaffee. Er goss sich und Wilhelm ein. Gerade, als Finn die Kanne wieder hinstellen wollte, konnte Jule einen kurzen Augenkontakt zwischen ihm und Wilhelm beobachten. So intensiv, wie der Blick war, verstanden die beiden sich wohl mehr als gut.
Mit einem Achselzucken nahm Jule diese Information zur Kenntnis und rieb sich stöhnend den steifen Nacken. Wegen dem engen Raum kam ihr Finn beim Abstellen der Kanne auch gefährlich nahe. Das Grinsen wirkte breiter.
“Anstrengende Nacht gehabt?” Finn zwinkerte ihr beinahe anzüglich zu.
Jule warf ihm nur einen giftigen Blick zu. Sie und Menschenkontakt? Er sollte sie besser kennen.
“Die Frage könnte ich weitergeben”, meinte sie trocken und sah Wilhelm an, der sofort rot wurde. “Wie wars mit deinem Nachbarn?”
“Ein Gentleman genießt und schweigt.” Finn zwinkerte ihr fröhlich zu. Stille kehrte ein, die Jule genoss. Am liebsten würde sie die Augen schließen und so tun, als wäre sie allein. In einer einsamen Waldhütte. Weit weg von allen Menschen und allen Problemen. Sie seufzte. So einfach war es nun mal nicht. Wenn sie sich richtig erinnerte, stand heute nur Sport auf dem Programm. Viel Arbeit stand heute nicht an.
“Und wieso stinkst du jetzt nach Farbe?”, kam es von Wilhelm plötzlich. Sofort schossen imaginäre Pfeile in seine Richtung und im Geiste hatte Jule ihn bereits dreimal ermordet und zerstückelt. Doch äußerlich blieb sie gelassen und nahm einen langen Schluck, um der Versuchung zu widerstehen. Obwohl sie nur zu gerne all ihre Probleme durch die Ermordung der sie auslösenden Person beseitigen würde, war das bedauerlicherweise keine legitime Art der Problemlösung mehr. Da hatten es die Menschen im Mittelalter ausnahmsweise mal besser gehabt.
“Weil aus der neuen Dusche eine Mischung aus Farbe und Undefinierbaren herauskommt.”
Finn und Wilhelm sahen sich fragend an.
“Und wieso duscht du mit Farbe?”, zögerte Wilhelm die Frage in die Länge.
“Weil ich Spaß daran habe”, kam es trocken zurück. Finn grinste breiter, Wilhelm wirkte noch verwirrter als vorher. Als Neuling in der Gruppe verstand er Jules Humor noch nicht so gut. Und als einfacher Befehlsempfänger konnte man ihm auch keine Intelligenz zutrauen, um Sarkasmus zu verstehen.
“Da kommen hier ja richtig interessante Seiten von dir zum Vorschein”, grinste Finn. “Man könnte fast meinen, du schläfst auch auf dem Boden.”
“Jo.” Finn stutzte kurz, als er nicht verstand, dass das ernst gemeint war. Er nickte nur langsam. Jule sah ihren Vorgesetzten bedeutsam an, bis selbst Finn nicht mehr wusste, wie er das Gespräch weiterführen konnte. Wilhelm stand im Abseits und folgte schon gar nicht mehr der Unterhaltung.
“Ich wohne in einem Haus, das Hugo heißt, mein Zimmer ist eine Dunkelkammer, ich schlafe aufgrund fehlendem Bett auf dem Boden und mein einziges Möbelstück ist eine Plane mit vier Stöcken, darauf ein Stein, das meine neue Mitbewohnerin als Schreibtisch anpreist. Und die Sachen habe ich auf dem Schrottplatz gefunden. Noch Fragen?”
“Und deine Dienstkleidung fährt auf dem Boden herum?”, fragte Finn ein wenig argwöhnisch. Man hörte, wie der Vorgesetzte in ihm erwachte. Der Kaffee wirkte wohl endlich. Er wechselte einen Blick mit Wilhelm und Jule konnte genau lesen, was darin stand: Müssen wir einen Drogentest in Auftrag geben? Jule seufzte lautlos. Es gab Tage, an denen sie nur zu gerne einen positiven Drogentest hätte, um die ganzen Menschen um sich herum ertragen zu können.
Doch Jule schwieg. Immerhin war das ihr Vorgesetzter. Sie nahm daher nur einen weiteren Schluck und merkte, wie sich der Kaffeesatz in ihrem Mund ausbreitete. Angewidert betrachtete Jule den Tassenboden, während sich Wilhelm räusperte.
“Und du brauchst also einen Schrank?”
Jule sah auf und nickte einmal. Dass sich der Neuling traute, vor dem dritten Kaffee mit ihr zu reden, war wagemutig. Dafür gab es einen Sympathiepunkt. Ob Lotte das eigentlich nur immateriell führte oder würde Jule demnächst kleine gelbe Smiley-Sticker bekommen für jeden Sympathiepunkt? Dann würde sie zumindest wissen, wo sie gerade stand. Und es würde Lotte beschäftigt halten, Sticker zu kleben und abzukratzen, auch wenn Jule darauf nicht hoffte. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Wer hätte gedacht, dass Jule auch mit einer Sympathieskala anfangen würde wie Lotte?
“Ich habe noch einen im Keller gesehen”, bot Wilhelm an. “Der ist groß genug für die Sachen, da bin ich mir sicher. Ist ein Ausrangierter, den will eh keiner mehr.”
Staunend hob Finn die Augen, der mittlerweile die Arme streng verschränkt hatte. Jule hob die Augenbrauen. Stille. Beide betrachteten sie den Braunhaarigen. Wilhelm zog den Kopf ein und schaute schüchtern hoch. “Hab ich was Falsches gesagt?”
Jule zog in Erwähnung, ihm drei Sympathiepunkte zuzugestehen, wenn er ihr tatsächlich einen Schrank verschaffte.
“Und wie kommt der hoch? Fliegt der etwa?”, spottete Finn und sah bereits in Wilhelms Blick, was er sagen würde. Wilhelm konnte den Hundeblick verdammt gut. Die Augen rollend gab sich Finn geschlagen. “Jajaja, wir helfen dir.” Er fügte noch hinzu: “Dann können wir ja auch gleich mal deine seltsame Mitbewohnerin kennenlernen.” Oder feststellen, ob sie nicht ein Fantasieprodukt ist. Seine Gedanken konnte man ihm an der Nasenspitze ablesen.
Jule grinste. Sie hatte nicht ein Wort sagen müssen.
Wenn alles so im Leben verlaufen würde, wäre es eindeutig leichter. Und sie freute sich auf die dummen Gesichter der Beiden, wenn sie die exzentrische Künstlerin kennenlernen durften.